Italien ist mittendrin. Vielleicht kommt Frankreich hinzu, aktuell hat sich auch in Österreich ein Möglichkeitsfenster geöffnet. Die Rede ist vom Aufkommen des (Post-)Faschismus als Regierungsform. Feindbilder und Sündenbock-Erzählungen gehen damit einher. Das sind Geschichten über bestimmte Personengruppen, die verantwortlich für die gesellschaftlichen Umbrüche und ihre negativen Folgen sein sollen.
Es sind die altbekannten Zuschreibungen, die da aufkommen: Seien dies “Juden”, die die Welt beherrschen würden. Oder die angeblichen Globalisierungseliten, die die Welt ganz nach ihrem Geschmack einrichten könnten. Oder die „Systemparteien“ und die „Systemmedien“ im Land, die den Menschen ihre heimische Kultur und ihre Eigenheiten abtrainieren würden, indem sie Flüchtlinge aus fremden Kulturen herein lassen würden und zur geschlechtlichen Non-Binarität erziehen würden – solche Bilder und Phrasen zirkulieren in den Alltagsgesprächen und in den sozialen Medien in Europa.
Einmal an der Macht, unterminieren rechtspopulistische Parteien wie die Fratelli d’Italia oder die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) demokratische Institutionen und ihre Spielregeln, wie etwa den Minderheitenschutz und die Achtung der Menschenrechte, um ihre demokratische Machterlangung langfristig abzusichern,.
Ist das noch „im“ demokratischen Spiel, oder führt dies in Summe dazu, die liberale Demokratie auszuhölen und schlussendlich zu überwinden, um ein autoritäres Regime auf Dauer zu etablieren? Die Antwort auf diese Frage ist offen.
Wie ging eigentlich der Aufstieg des historischen Faschismus in den 1920er Jahren vonstatten? Diese Frage hat sich unser Mit-Begründer Sebastian Reinfeldt im Rahmen seiner Abschlussarbeit für die sozialdemokratische Parteischule gestellt. Dafür hat er nach Antworten bei zwei Zeitgenossen dieser Entwicklung gesucht: beim berühmten italienischen kommunistischen Theoretiker Antonio Gramsci und beim wenig bekannten sozialdemokratischen Intellektuellen und Politiker Wilhelm Ellenbogen.
Trotz unterschiedlicher politische Positionierungen analysierten sie den Aufstieg des Faschismus in Europa sehr ähnlich. Auch wären die Schlussfolgerungen für ein effektives Gegenrezept durchaus kompatibel gewesen. Wie wir wissen, kam es anders.
„Coming to terms“ mit Faschismus
Da es für die Sozialdemokratie aus historischer Erfahrung heraus überlebenswichtig ist, aufziehenden Faschismus zu erkennen und zielgenau zu bekämpfen, macht es Sinn, sich anzuschauen, wie der aufkommende Faschismus in den 1920er Jahren von Zeitzeugen analysiert wurde.
Ein Gang in die Archive des Vereins zur Geschichte der Arbeiter:innenbewegung (VGA) auf der Suche nach Originalquellen hat eine überraschende Parallelität zutage gefördert. Der sozialdemokratische Intellektuelle und Politiker Wilhelm Ellenbogen war ein Kenner Italiens und verfolgte den Aufstieg Benito Mussolinis, der vor seiner faschistischen Kehre Sozialist und Direktor der sozialdemokratischen Parteizeitung “Avanti” war, genau und gewissenhaft.
Ellenbogen teilte seine Beobachtungen und Überlegungen mit: 1923 erschien im Verlag Wiener Volksbuchhandlung im sechsten Gemeindebezirk in Wien die von Ellenbogen verfasste Schrift “Faschismus! Das faschistische Italien“. Darin beschreibt Ellenbogen den Aufstieg von Mussolinis Faschisten und seziert die Fehler der sozialistischen und kommunistischen Bewegungen.
Zeitgleich zum Erscheinen des Büchleins hält sich der italienische Kommunist und marxistische Theoretiker Antonio Gramsci in Wien auf. Von dort aus kommuniziert er per Brief nicht nur mit seiner späteren Frau, die damals in Moskau weilte, sondern auch mit seinen Genoss:innen in Italien. Einige Monate nach seiner Abreise nach Italien – er war zum Abgeordneten des italienischen Parlaments gewählt worden und genoss (noch) Immunität – erschien im „Ordine Nuovo“ am 1. September 1924 sein Text “Die italienische Krise” über den Faschismus Italiens.
In beiden Texten können wir Zeitzeugen dabei beobachten, wie sie mit dem Aufstieg des Faschismus in Italien zurechtkommen – oder, wie es in der englischen Formulierung “to come to terms with” so treffend ausgedrückt wird: wie sie versuchen, die Dinge beim Namen zu nennen und daraus analytische Begriffe zu gewinnen.
Incognito in Wien
Antonio Gramsci war Kommunist und marxistischer Theoretiker. Nach seiner Wiener Zeit wählte ihn die Führung der Kommunistischen Partei Italiens im April 2024 zu ihrem Generalsekretär, später wurde er auf Mussolinis Anordnung hin trotz parlamentarischer Immunität verhaftet, eingekerkert und kurz vor seinem Tod unter Hausarrest gesetzt.
In einem kleinen Zeitungsbeitrag beschreibt Erwin Riess Gramscis Lebensumstände während seines knapp sechsmonatigen Wien-Aufenthalts im Jahre 1924 wie folgt:
Am Bild: Gramsci und der Trotzkist Victor Serge in Wien.
Waldspaziergänge und Flucht vor Antisemitismus
Erwin Riess erzählt zudem eine Begebenheit, die sich im Wienerwald im Winter 1923/1924 zugetragen haben soll: Bei einem Spaziergang habe Gramsci seinem Freund Georgi Dimitrow, ebenfalls ein Kommunist, der später ein grausam wütender Stalinist wurde, das Leben gerettet. Dieser hatte im Wald, in dem sie unterwegs waren, einen Teich übersehen, der zwischen Schneeresten lag, und wäre in dessen Wasser beinahe ertrunken. Riess:
Zu dieser Zeit wirkte Wilhelm Ellenbogen in Wien als sozialdemokratischer Politiker. Noch vor dem Ersten Weltkrieg und dem Sturz der Monarchie war er Abgeordneter zum Reichsrat, dann Mitglied der Provisorischen Nationalversammlung sowie ein Mitglied der konstituierenden Nationalversammlung der Ersten Republik Österreichs.
Ellenbogen stammte aus einem jüdischen Lehrerhaushalt in Südmähren und wurde am 9.Juli 1863 in Břeclav geboren. Damals hieß der Ort auf Deutsch noch Lundenburg. Als er zwei Jahre alt war, übersiedelte seine Familie aufgrund der beengten Verhältnisse und des latentem Antisemitismus nach Wien, wie sein Biograph Michael Ellenbogen berichtet.
Sein Vater arbeitete dann aber nicht mehr als Lehrer, sondern verdingte sich als Kaufmann in verschiedenen Berufen.
Ellenbogen war ideologisch meilenweit von Gramsci entfernt, denn er galt als Pragmatiker der Partei, Kritiker der österreichischen Spielart des Marxismus, der bis heute „Austromarxismus“ genannt wird. Voll demokratischer Überzeugung gründete Ellenbogen die erste Republik mit und fungierte, solange dies ging (bis 1934) als sozialdemokratischer Nationalratsabgeordneter. In dieser Zeit wurde er zum Unterstaatssekretär in der Regierung ernannt und zum Präsidenten der Staatskommission für Sozialisierung.
Gramsci erfuhr während seines Aufenthaltes in Moskau im Oktober 1922 vom Marsch der italienischen Faschisten auf Rom und in der Folge vom Siegeszug des Faschismus in seinem Land, der dem Faschistenführer Benito Mussolini das Amt des italienischen Ministerpräsidenten und den Beinamen “il duce“ (Führer) einbrachte.
Sozialdemokratischer Fortschrittsglaube und Terror
In den vorliegenden Texten von Gramsci und Ellenbogen, die zeitgenössische Dokumente ihrer Auseinandersetzung mit dem Faschismus sind, fehlen (noch) die wissenschaftlichen Begriffe, um den Faschismus, seine Mechanismen und die Reichweite und die Tiefe seiner tödlichen Gefahr für alle (sozial)demokratischen Bestrebungen korrekt zu fassen. Doch können wir ihr Entstehen beobachten.
Wilhelm Ellenbogen zählt detailliert auf, wie stark und wie intensiv faschistischer Terror wirkte, mit dem die Schwarzhemden in Italien ihre Macht sicherten und ausbauten. Erst später wird Hannah Arendt diesen Terror als Kennzeichen totalitärer Herrschaft festhalten. Wörtlich schreibt sie vom “eisernen Band des Terrors”, der die demokratische Herrschaft des Rechts Zug um Zug ersetzt.
Im Kern der Machterlangung und Machterhaltung der Faschist:innen steht die nackte Gewalt. Sie ist ihr “modus operandi”. Ellenbogens Analyse dieser Gewalt fußt auf einer damals weit verbreiteten theoretischen Basis eines auf gesellschaftlichen Naturgesetzen beruhenden Sozialismus. Er war beseelt von einem fast kindlich anmutenden evolutionären Geschichtsverständnis, wonach der Sozialismus als Höherentwicklung der menschlichen Art und ihres Strebens unausweichlich kommen werde. Ein Textauszug aus Ellenbogens Faschismusschrift:
Ein Jahrhundert stürmischer Wechselfälle, bis das Ziel von 1789 erreicht war. Auch der proletarische Emanzipationskampf wird solche Perioden durchmachen. Und die blutige Reaktion in Italien wird ihr Ende finden, weil sie vor den geschichtlichen Gesetzen nicht bestehen kann.
Dabei beruft er sich auf entsprechende Passagen in den Schriften von Karl Marx, namentlich auf die “Vorrede zum Kapital”, auf die Marxsche “Kritik am Gothaer Programm” der deutschen Sozialdemokratie und besonders auf die berühmte “Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie”. Marx schreibt dort:
Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.
Politisch beeinflussen könnten wir, in Ellenbogens Lesart dieser Passage, lediglich den Zeitpunkt der Realisierung des Sozialismus, aber nur dann, wenn die Zeit wirklich reif sei – und die Intensität der Gewalt, die dafür nötig sein wird. Und auch das nur minimal.
Aus den von Karl Marx formulierten Grundzügen des Kapitalismus und seiner Widersprüche machte Ellenbogen unumstößliche naturgesetzliche Gewissheiten, denen zufolge sich die kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten im Rücken aller abspielen würden. Ebenso richtet er seine Faschismus-Analyse aus:
Herr Mussolini hat den Klassenkampf abgeschafft, aber leider fragt dieses Naturgesetz ebensowenig nach den Wünschen eines kleinen Tyrannen in der Westentasche, wie seinerzeit das Bewegungsgesetz der Erde nach den Geboten der weltbeherrschenden Kirche gefragt hat. E pur si muove!”
Niederlage und Flucht
In dieser Passage lehnt sich Ellenbogen an einen berühmten Satz aus dem kommunistischen Manifest an – “die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen” – und schlussfolgert, dass der Faschismus etwas Flüchtiges sein müsse, lediglich ein widerständiges Übergangsphänomen hin zu einer kommenden höheren Ordnung, wohin der Motor der Geschichte, die Klassenkämpfe, führen würden.
Wie mag sich dieser Wilhelm Ellenbogen wohl gefühlt haben, als er am 1. Mai 1939 für immer seine geliebte Heimatstadt Wien verlassen musste, weil das Leben in Wien für den früheren sozialdemokratischen Nationalratsabgeordneten und Juden schon lange viel zu gefährlich war?
Ellenbogen gelang übrigens die Flucht. Er konnte über Frankreich und dann teils zu Fuß (er war damals bereits über 70 Jahre alt) über die Pyrenäen nach Spanien und weiter nach Portugal entkommen. In Lissabon erwarb er glücklicherweise Fahrkarten für sich und seine Geschwister Gisela und Leopold Ellenbogen für ein Schiff in die USA, das sie in Sicherheit brachte. Mit an Bord des Schiffes „Nea Hellas“ überquerten übrigens auch der expressionistische Schriftstelle Alfred Döblin den Atlantik, ferner der Journalist der „Arbeiter-Zeitung“ Karl Hans Sailer und Familie, sowie Otto Leichter mit Familie und viele mehr.
Drei Stufen faschistischer Machtergreifung
Der italienische Faschismus war nicht flüchtig. Er ging auch nicht an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde, sondern er wurde militärisch besiegt. Im Falle Italiens von den Westalliierten und den im Inneren des Landes kämpfenden Partisanen.
Bis heute relevant sind Ellenbogens Analysen des Aufkommens des Faschismus aber doch. Er unterscheidet drei Perioden der Machtergreifung der italienischen Faschisten. Die erste dauerte von Anfang 1919 bis Mitte 1920, die zweite von Herbst 1920 bis Ende 1921. Während in der ersten Periode Gewalt nur sporadisch eingesetzt wurde, erkennt Ellenbogen in der zweiten Periode bereits eine militärische Führung bei der Gewaltanwendung. Ländliche Gebiete Italiens werden quasi militärisch erobert und besetzt.
Dabei waren Büros und Versammlungslokale der sozialistischen Partei, der Genossenschaften und der Gewerkschaften das vorrangige Ziel. Zuvorderst diese Einrichtungen setzten die Faschisten in Brand und zerstörten sie. Dabei setzten sie anfangs nur Schlagstöcke gegen die Roten ein, später auch Schusswaffen. Ellenbogen berichtet auch über die demütigende Praktik, dass den Geschundenen zusätzlich noch, als sie am Boden lagen, abführend wirkendes Rizinusöl eingeflößt wurde.
Die Faschisten zogen als marodierende Banden durchs Land, erklärten sozialistische Bürgermeister:innen und Gemeinderät:innen einfach so als “abgesetzt” und rissen rote Fahnen herunter.
Dies taten sie nicht aus purer Zerstörungslust. Binnen kürzester Zeit zerstörten sie somit die in jahrzehntelanger Arbeit aufgebauten Netzwerke der Sozialist:innen, die dadurch ihre organisatorische Kraft verloren.
Bis Oktober 2022 kamen in Italien etwa 3.000 Menschen durch die faschistischen Mörderbanden ums Leben.
Ellenbogen kann zu seiner Zeit noch keine statistischen Daten über die Toten angeben. Erschüttert merkt er lediglich an:
Was der Faschismus aus Italien gemacht hat, die Summe und die Art seiner Gewalthandlungen, ist der ausschweifendsten Phantasie unfassbar.
Fünf Formen faschistischen Terrors
In der dritten Periode seiner Machtergreifung hat es der Faschismus bereits geschafft, die gewerkschaftlichen und genossenschaftlichen Organisationen zu dezimieren. Der Faschismus kann – in militärischen Operationen – ganze Provinzen erobern. Doch nicht nur das. Er erobert auch, und hier klingt Ellenbogens Analyse fast schon Spät-Gramscianisch, die Köpfe der Intellektuellen:
Die Intellektuellen, die im Jahre 1918 mit den Sozialisten sympathisieren, bei diesen aber keine gute Aufnahme fanden, haben sich inzwischen mit dem wachsenden Erfolg der faschistischen Bewegung dieser immer zahlreicher angeschlossen. Ein großer Teil der Beamten und der staatlichen Polizei war bereits faschistisch gesinnt. Aus den irregulären Stoßtrupps der Anfangszeit war ein regelrechtes Heer [geworden], nach Provinzen geordnet, in Legionen geteilt und uniformiert (Schwarzhemden) und von Offizieren offen befehligt.
Was folgen wird, ist intensiver faschistischer Terror.
Ellenbogen listet fünf Formen des faschistischen Terrors auf.
Die Schwarzhemden zerstören 1) Güter, Institutionen, Häuser, Arbeiterlokale; sie brechen 2) die Streiks, die von den Gewerkschaften und linken Gruppen initiiert worden sind; 3.) üben sie direkten Terror gegen einzelne Personen aus dem Sozialisten-Umfeld aus, in Form von Erpressungen und Nötigungen, um die Menschen gefügig zu machen; 4) weiten sie den Terror auch gegen die anderen Parteien aus, so etwa gegen die liberalen Parteien, obwohl er ursprünglich nur gegen die Sozialist:innen und Kommunist:innen ging, und 5) kollaborieren die staatlichen Stellen mit den Faschisten, indem sie bei den oben genannten Gewalthandlungen nicht einschreiten, sondern zuschauen oder das ganze sogar aktiv unterstützen.
Faschismus ist eine Massenorganisation des Kleinbürgertums
Die faschistischen Attentate und Gewaltakte treffen nicht nur die sozialistische Partei Italiens, sondern auch die kommunistische Partei.
Antonio Gramsci, der von Herbst 1922 bis zum November 1923 Repräsentant der Partei bei der Komintern in Moskau war, erkannte, dass die Epoche sozialistischer Revolutionsversuche in Mittel- und Westeuropa zu Ende war und wollte die Kommunistische Partei als Massenorganisation ausrichten.
In seinem explizit dem Faschismus und dem Kampf gegen ihn gewidmeten Text “Die italienische Krise”, der am 1. September 1924 erschien, geht Antonio Gramsci (wie Ellenbogen) davon aus,
dass (…) sich der Faschismus [erschöpft], er wird untergehen, weil er keines seiner Versprechen gehalten hat, weil er keine Hoffnung befriedigt, kein Elend gemildert hat. Er hat den revolutionären Elan des Proletariats geschwächt, die Gewerkschaften dieser Klasse aufgelöst, die Löhne gekürzt und die Arbeitszeit erhöht, aber das genügte nicht, um dem kapitalistischen System eine auch nur begrenzte Lebensfähigkeit zu sichern.
Gramscis zeitgenössische Analyse lebt von der Erwartung des Ende des Kapitalismus (da er an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehen würde) und interpretiert den Faschismus als eine Bewegung, die dieses Ende letztlich nur hinauszögern würde, aber nur für eine kurze Zeit.
Auch Gramsci bezahlte persönlich einen hohen Preis für sein Wirken gegen die faschistischen Kräfte. Nach seiner Rückkehr nach Italien wurde er am 8. November 1926 – trotz parlamentarischer Immunität – in den Kerker geworfen und starb am 27. April 1937 in Rom an den Folgen der Kerkerhaft.
In der Zwischenzeit, im Gefängnis, schrieb er in seinen sogenannten “Gefängnisheften” (ital.: Quaderni del Carcere) seine berühmten Hegemonie-Analysen nieder, um retrospektiv zu verstehen, wie es zum vollständigen Sieg des Faschismus in Italien gekommen war und auch, um einen ökonomistisch verkürzten Marxismus mit einer Theorie der Politik auf die Beine zu stellen.
Wie fasst Gramsci im Jahr 1924 den Faschismus?
Soziologisch beschreibt er den Faschismus als eine politische und militärische Organisation des italienischen Kleinbürgertums. Als bestimmendes Formelement dieser macht er das Heerlager aus:
Das Charakteristikum des Faschismus besteht darin, dass es ihm gelungen ist, eine Massenorganisation des Kleinbürgertums zu bilden. Zum ersten Mal in der Geschichte ereignet sich dergleichen. Die Originalität des Faschismus besteht darin, eine adäquate Organisationsform für eine gesellschaftliche Klasse gefunden zu haben, die immer unfähig war, ein einheitliches Gefüge und eine einheitliche Ideologie zu haben: diese Organisationsform ist das Heerlager. Die Miliz ist der Angelpunkt des Partita Nazionale Fascista.
Faschistisches Regieren: Autoritäre Befehlsgewalt, Unterordnung und Kommando
Damit heben er und Ellenbogen das charakteristische Feature der Gewaltausübung für den Faschismus hervor. Gramsci betont dabei mehr den Formaspekt der Gewalt (Heerlager, natürlich im übertragenen Sinne zu verstehen als Organisation der autoritären Befehlsgewalt und einer räumlichen Anordung – und die Miliz als waffentragende Einheit) und nicht so sehr seine Anwendung an sich. Schließlich kann sich Gramsci vorstellen, dass die Kommunist:innen auch revolutionäre Gewalt einsetzen.
Worin liegt also der Unterschied?
Außerhalb der militärischen Organisation hat der Faschismus nichts geboten und kann auch nichts bieten, und selbst auf diesem Gebiet ist, was er bieten kann, sehr relativ.
Faschismus erschöpfe sich ideologisch in nationalistischen Phrasen, er verfüge über eine militärische Organisation plus Gewaltanwendung und -drohung.
Opposition und Faschismus wünschen nicht, dass ein tiefgreifender Kampf ausbricht und werden dies systematisch verhindern. Der Faschismus wird vielmehr dahin tendieren, die Basis einer bewaffneten Organisation zu bewahren, die ins Feld geschickt werden kann, sobald sich eine neue revolutionäre Welle abzeichnet.
Faschismus ist also auf eine drohende „linke“ Gesellschaftsveränderung bezogen, die er mit aller Kraft verhindern wird; als Aufhalter der Revolution.
Auch hier erkennen wir wieder den Gramscianischen Dualismus, der den Faschismus von seiner Funktion her als konterrevolutionäre Kraft konzipiert, mit dem entscheidenden Zusatz, dass die proletarische Revolution „vorerst“ nicht stattfinden werde.
An dieser Stelle lohnt dann durchaus ein Ausblick auf die späteren Überlegungen in den Gefängnisheften in denen Gramsci den Übergang in eine politische, nicht-revolutionäre Phase mit Begriffen wie “Stellungskrieg” und “Bewegungskrieg” belegt, die jeweils andere Taktiken und Strategien der politischen Auseinandersetzung erfordern.
Mit der Kennzeichnung des militärischen “Heerlagers” als bestimmender Organisationsform des Faschismus ist dieser Übergang in der Begrifflichkeit bereits angelegt.
Mit dem Bewegungskrieg wird dann die schlagartige Beseitigung einer Herrschaft gemeint sein, und dahinter steht als Role-Model die russische Revolution. Stellungskrieg hingegen zielt auf eine schrittweise kulturelle, ideologische und politische Durchdringung der zivilgesellschaftlichen und staatlichen Institutionen ab.
Sie wäre, mit heutigen Worten, die demokratische Strategie:
In der politischen Kunst findet statt, was auch in der Kriegskunst stattfindet: der Bewegungskrieg wird immer mehr zum Stellungskrieg(…). Die massive Struktur der modernen Demokratien, sowohl als staatliche Organisationen als auch als Komplex von Vereinigungen im zivilen Leben, bilden für die politische Kunst so etwas wie die ‘Schützengräben’ und die dauerhaften Befestigungen der Front im Stellungskrieg: sie machen das Element der Bewegung, das vorher der ‘ganze’ Krieg war, zu einem ‘partiellen’, usw.
(Post-) Faschismus. Was soll nun werden?
Bemerkenswert nach Lektüre der Texte von Antonio Gramsci und Wilhelm Ellenbogen ist, dass sie ihr Augenmerk auf die politischen Konstellationen, die organisatorischen Eigenheiten, soziologische Fragen und die Kampfformen der italienischen Faschist:innen gelegt haben – und nicht so sehr “die” faschistische Ideologie behandelt haben.
Denn die lag auf der Hand und war nicht so kompliziert zu begreifen: Die faschistische Bewegung Italiens war eine radikal nationalistische Formation, die sich strikt den Antinationalen entgegengesetzt hat. Sie bezogen sich auf eine völkische Sicht auf die Heimat, die dann im Nationalsozialismus kurz als “Blut und Boden” bzw. “Blut und Scholle” zusammengefasst wurde .In deren Namen errichten sie ein autoritäres, illiberales Regime.
Punkt.
Kennzeichnendes Element des Faschismus ist nicht diese Ideologie, sondern die im Namen des Nationalen ausgeübte Gewalt gegen Sozialist:innen und Kommunist:innen und im nächsten Schritt gegen die Institutionen der Demokratie und der Justiz.
Parteien, die sich in die Tradition dieser politischen Bewegungen stellen, sind solange “post”-faschistisch, wie sie ‘nur’ symbolisch auf die damals ausgeübte Gewalt Bezug nehmen, und sich ansonsten irgendeiner nationalistischen Ideologie bedienen, die sich gegen die (internationalen) Eliten und ihre Repräsentationen richten, im Namen eines einheitlich gedachten, kulturell und rassenbiologisch bestimmten “Volkes”.
Kommt es allerdings zum direkten u n d systematischen (!) Ausüben von körperlicher oder psychischer Gewalt gegen Minderheiten, gegen progressive Einrichtungen und Personen, dann kann getrost von einem Aufkommen des Faschismus gesprochen werden.
Wehrhafte (Sozial-)Demokratie
In diesem Zusammenhang fällt auch auf, dass sowohl Ellenbogen als auch Gramsci, bei aller theoretischen Distanz, sich in den Schlussfolgerungen aus ihren Analysen recht nahe waren. Ellenbogen schreibt etwa:
Die Sozialdemokratie gebe sich nicht
der lächerlichen Hoffnung hin, dass der Krieg aufhören würde, solange es einen Kapitalismus gibt, und so weit ist sie von der kindischen Illusion entfernt, dass dem Faschismus mit Moralsprüchlein beizukommen sei.
Sowohl Moralsprüchlein als auch die Forderung nach besserer Bildung und Aufklärung, wie sie auch heutzutage so oft empfohlen wird, nutzen nicht, diese Form des Faschismus zu bekämpfen. Sondern, so Ellenbogen:
Solange das Bürgertum gegen das Proletariat Räuberbanden organisiert und diese mit Maschinengewehren, Revolvern, Bajonetten und Kanonen bewaffnet, gibt es für die Arbeiter nur eines: eine entsprechende kampffähige und Kampf gerüstete proletarische Gegenorganisation.
Ellenbogen präzisiert im Folgenden, dass dies nicht als Aufruf zum Bürgerkrieg zu verstehen sei und auch nicht als quasi militärische Aufrüstung, um Racheaktionen durchzuführen. Militärische Mittel müssten strikt defensiv eingesetzt werden und Gewalt hemmend wirken. Nur der faschistische Exzess solle mit einer solchen Gegenorganisation gehemmt werden, denn die Rechtsordnung ist offensichtlich nicht mehr in der Lage, das Proletariat zu schützen. In dem Fall, und nur in diesem einen Fall, müssen das Proletariat und seine Parteien in der Lage sein, sich zu verteidigen – mit allen Mitteln.
Hätten Antonio Gramsci und Wilhelm Ellenbogen jemals zusammen an einem Tisch gesessen und hätten über den Faschismus diskutiert, dann hätte Gramsci zu diesen Bemerkungen Ellenbogens sicherlich genickt.
Denn später hat Gramsci sich in seiner Partei, der KP Italiens, für eine Einheitsfront mit den Sozialist:innen ausgesprochen, um den Faschismus wirksam zu bekämpfen.
Doch da war es bereits zu spät.
*Anmerkung: In einer früheren Version wurde die Sozialfaschismusthese fälschlicherweise Dimitroff zugeschrieben. Dies wurde korrigiert. Danke an Leo Furtlehner.