Die Narrative von Nina Chruschtschowa

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By Redaktion Semiosis

Die Leitung der Salzburger Festspiele hat die Urenkelin des früheren sowjetischen Staatsführers Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, Nina Chruschtschowa, eine russische Politikwissenschaftlerin, nach Österreich eingeladen. Sie durfte die Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele halten. Mit im Gepäck hatte sie fragwürdige Narrative, die sie bei mehreren Interviews und in ihrer Rede auch an den Mann und an die Frau bringen konnte. Dabei hat Chruschtschowa, die zwar grundsätzlich als Putin-Kritikerin gilt, schon in der Vergangenheit ‚interessante‘ Positionen zu Russland und zur Ukraine verfolgt.

Angesichts dessen stellt sich die Frage, warum ausgerechnet sie gebeten wurde, eine Rede bei der Festspieleröffnung zu halten. Eine Antwort könnte lauten: Weil man es in Salzburg mit der Nähe zu Putin bislang nicht so genau genommen hat. Da kommen Chruschtschowas Narrative gerade recht. Eine Analyse von Dietmar Pichler und Sebastian Reinfeldt


Das Grundnarrativ: Der Westen und seine angeblichen Kampagnen sind (mit) Schuld


Chrustschowa bedient das Grundnarrativ aller Anti-Westler (und -innen), wenn diese die großflächige Invasion Russlands in der Ukraine rechtfertigen wollen. Es gebe eine westliche Kampagne, die von den USA ausgeht und die sich gegen Russland richtet. Überhaupt gebe es eine Fronstellung „Russland“ gegen „den Westen“. In Wahrheit findet ein Angriffskrieg gegen ein einzelnes Land statt, das sich mit Unterstützung vieler Staaten militärisch verteidigt.

Noch wenige Tage vor der Invasion, am 18. Februar 2022, ist Chrustschowa in einem im „Stern“ veröffentlichten Interview ganz in tune mit dieser ideologischen Konstruktion „Russland“ gegen „den Westen“:

Ich bin zutiefst überzeugt, dass es keine Invasion geben soll und geben wird.

https://www.stern.de/politik/ausland/urenkelin-des-sowjetischen-fuehrers-nikita-chruschtschow-glaubt—washington-will-putin-zu-einem-fehler-verleiten—31632222.html

Für mich sieht es nach einer gezielten US-amerikanischen Kampagne aus.

https://www.stern.de/politik/ausland/urenkelin-des-sowjetischen-fuehrers-nikita-chruschtschow-glaubt—washington-will-putin-zu-einem-fehler-verleiten—31632222.html

Dass sie sich geirrt hat, ist dabei nicht entscheidend, denn das haben eine Reihe von Expert:innen. Entscheidend ist vielmehr das Argument, das sie für ihren Irrtum geltend macht: die US-amerikanische Kampagne, die es zu dieser Zeit schlicht nicht gab. Öffentlich bekannt waren intensive Warnungen der US-Geheimdienste vor der russischen Invasion. Diese sind auf der politischen Ebene nicht ernst genug genommen wurden. Die NATO ahnte nicht, was kommen würde.

Von einer US-geführten Kampagne war damals keine Spur. Der Einmarsch Russlands erfolgte, ohne dass es eine militärische oder politische Provokation durch die USA oder die NATO gegeben hat.

Das Narrativ der angeblich extremen Position der Ukraine

Im Vorfeld zu ihrem Auftritt bei den Salzburger Festspielen lud der ORF die Chruschtschowa zum ZIB 2 Interview ein. Marie-Claire Zimmermann stellte die Fragen. Eine Aussage, welche in den Antworten von Chruschtschowa für Verwunderung sorgte, war ihre Kritik an den USA (und an Europa übrigens). Sie meinte nämlich, dass man die Dinge zu Schwarz-Weiß sehe, zu sehr in “Gut-Böse” einteilen würde.

Nun stellt sich die Frage, was Chruschtschowa hier genau erwartet, nach einer völkerrechtswidrigen Invasion, nach dem Aberkennen des Existenzrechts der Ukraine durch den Kreml, nach schweren Kriegsverbrechen, nach der Okkupation und täglicher genozidaler Propaganda aus den russischen Staatsmedien. Mehr Verständnis für Putin? Für welchen Aspekt seines Handelns denn genau? Zudem verwendet sie selbst solche ideologischen Gegenüberstellungen, wie in dem „Stern“-Interview deutlich erkennbar. Bei ihr sind sie nur anders gepolt.

Eine weitere Aussage, die für Stirnrunzeln sorgte, betraf das Thema potentieller Verhandlungen. Diese wären schwierig, weil „beide Seiten extreme Positionen“ verfolgen würden. Wie die Forderungen der Ukraine in diesem Zusammenhang “extrem” sein können – denkt man das Völkerrecht mit – hat sie nicht weiter erläutert. Sie wurde danach auch nicht gefragt.

Dafür gab es neben der Erkenntnis, dass Verhandlungen mit Putin wohl wirklich schwierig sein würden, auch wieder Kritik am Russlandbild, das in den USA angeblich gepflegt werde. Es sei, genauer gesagt, ein Russland-Feindbild, so Chruschtschowa. Die unvergleichbare Besessenheit der russischen Propaganda mit den Vereinigten Staaten, welche nicht einmal annähernd vergleichbar ist mit der Berichterstattung in den US-Medien, erwähnt sie dabei eben so wenig wie die Tatsache, dass sowohl die Sowjetunion als auch Russland immer wieder Anlass dazu gegeben haben, Kritik auch ganz ohne “künstliches Feindbild” anzubringen.

Das Narrativ von Putins (= Russlands) verletzter Seele

Im März 2023 bedient sie in einem Interview das Narrativ des gänzlich „unrespektierten Russlands“. Diese hätten die USA und Hollywood (!) als “Feindbild” gepflegt. Sie behauptete (ganz zielgruppengerecht für das österreichische Publikum):

Wenn Wolodymyr Selenskyj einer Neutralität nach österreichischem Vorbild zugestimmt hätte, wäre es vielleicht anders gekommen.

https://www.derstandard.at/story/2000144475972/nina-khrushcheva-die-ukraine-ist-putins-persoenliche-obsession

Solche Aussagen kommen von Chruschtschowa dann, wenn sie den Kreml durchaus kritisch analysiert hat. Ihre problematischen Ukraine-Narrative folgen in diesen Fällen fast entschuldigend, im Sinne von: Russland würde letztlich doch auf einen ihm feindselig gegenüber stehenden „Westen“ reagieren.

In einem weiteren Interview, veröffentlicht im „Standard“ am 25. Juli 2024, meinte Chruschtschowa, dass Putin keinen Krieg gegen Europa führen würde:

Putin wird keinen Krieg mit Europa beginnen, was immer auch westliche Politiker sagen. Sein Ziel war die Ukraine. Er sagte: Wenn ihr mich nicht achtet, dann werde ich euch zeigen, was ich mit Gewalt anrichten kann.

https://www.derstandard.at/story/3000000229788/nina-chruschtschowa-russland-ist-ein-schizophrenes-land

Zur Frage, was man jetzt tun solle, kam diese “interpretierbare” Antwort:

Aber jetzt wird Putin nichts Geringeres akzeptieren als das Zugeständnis, dass er einen Punkt hatte. Die Frage ist, ob die andere Seite willens ist, das anzuerkennen.

https://www.derstandard.at/story/3000000229788/nina-chruschtschowa-russland-ist-ein-schizophrenes-land

In einem weiteren Interview, diesmal mit der Zeitung „Presse“, klagt Chruschtschowa, dass Sie von Europas Reaktion auf Russland enttäuscht wäre:

die Art der Reaktion, da gibt es nur Liebe und Hass, ich glaube, würden nicht die Amerikaner den Kurs anführen, dann hätten die Europäer vielleicht andere Antworten. Zu sagen, “los wir canceln das alles!”, ist eine sehr amerikanische Antwort, von Europa hätte ich mir besseres erwartet.

https://www.diepresse.com/18694124/nina-chruschtschowa-ich-habe-wenig-respekt-vor-amerikanischer-kriegspolitik-von-europa-haette-ich-mir-besseres-erwartet

Das Narrativ der beiden Seiten

Gegenfrage: Welchen „Punkt“ könnte Putin bei seinem mörderischen Vorgehen denn gehabt haben? Der prominente russische Regimekritiker und Schachspieler Garry Kasparov kritisiert deshalb Chruschtschowas Aussagen bei Ihrem Wienbesuch auf X/Twitter scharf:

Ihre Kommentare sind typisch für den „unrealistischen Realismus“ der Akademiker im Westen, die immer versuchen, „Fehler auf beiden Seiten“ zu finden, wenn einer ein Kriegsverbrecher ist, der eine Mafia-Diktatur in einem unprovozierten Einmarsch anführt. Das Böse ist real. Und Putin „respektiert“ keine Diplomatie, nur Stärke.

Das Narrativ der großartigen russischen Kultur

Passend zu dem kulturellen Event der Salzburger Festspiele lobpreist Chruschtschowa in ihrer Eröffnungsrede bei den Salzburger Festspielen „die“ russische Kultur, welche man „im Westen“ auf gar keinen Fall canceln sollte. Unsere Anführungszeichen markieren übrigens zentrale ideologische Konstruktionen eines Rechtsfertigungsdiskurses. Denn ungestellt ist die Frage, was „die“ russische Kultur mit dem verbrecherischen Krieg gegen die Ukraine verbinden könnte.

Geopolitische Analysen kamen in ihrer Rede weniger vor. Allerdings ließ es sich Chruschtschowa nicht nehmen, sich zwar bei den Ukrainern für den Angriffskrieg zu entschuldigen, dann aber Kritik an den Maßnahmen gegen russische Denkmäler in der Ukraine zu üben.

Das ist insofern beachtlich, bedenkt man, dass Russland seinen Krieg ausdrücklich gegen die ukrainische Kultur und Kulturgüter führt, ukrainische Bücher verbrannt werden und von Offiziellen wie Propagandisten tagtäglich die “Ent-Ukrainisierung” oder die “Auslöschung alles Ukrainischen” oder die Leugnung, dass es überhaupt eine ukrainische Kultur gäbe, propagiert werden.

Darüber hat sie nicht gesprochen.

Das Schweigen über den Imperialismus Russlands

Chruschtschowa schweigt in ihren Einlassungen noch weiter. Und es ist ein symptomatisches Schweigen: Dass eine Politikwissenschaftlerin über Kultur spricht und diese würdigt, mag ja noch angehen; dass eine Politikwissenschaftlerin aber keine politikwissenschaftlichen Kategorien bei der Hand hat, um das Vorgehen Russlands zu analysieren, das verwundert. Denn der Anspruch Russlands auf Territorien, die im Westen liegen (was mit „Sicherheitsinteressen“ begründet wird), besteht rechtlich und historisch nicht. Russland hat weder in der Ukraine noch in Georgien oder in Moldau oder in Ostpolen, noch in den baltischen Staaten irgendetwas verloren.

Im Gegenteil: Nicht diese – hier beispielhaft genannten – souveränen Staaten bedrohen Russlands territoriale Integrität, sondern Russland stellt in Theorie und Praxis deren Souveränität infrage. So wie sie es derzeit mit der Ukraine tut. Dabei zieht Russland unter Putin alle Register. In der Politikwissenschaft bedeutet das: Ein weitaus größeres, sowohl ökonomisch als auch militärisch weitaus stärkeres Land setzt seine Über-Macht ein, um für sich vorteilhafte politische und wirtschaftliche Beziehungen zu etablieren.

Ohne hier in die Tiefe der politikwissenschaftlichen Imperialismustheorien einsteigen zu wollen, so lässt sich das Verhalten Russlands samt seiner Rechtfertigungen mit guten Gründen als „imperialistisch“ beziehungsweise als „imperial“ klassifizieren – und auch kritisieren.

Auch darüber hat Chruschtschowa nicht gesprochen.


Ihre Festrede im Transkript:
https://www.salzburg.gv.at/kultur_/Documents/festspiele-rede-chruschtschowa-englisch.pdf

Unser Titelbild wurde erstellt mithilfe von KI. Es stellt das Spiel Command & Conquer im Steampunk-Stil dar.

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