Parteien zur EU-Wahl: Ist überhaupt Wahlkampf?

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By Sebastian Reinfeldt

Ist überhaupt Wahlkampf?

Haben Sie, geschätzte Leserinnen und Leser, in den vergangenen Wochen etwas davon bemerkt? Wir in der Semiosis-Redaktion nicht wirklich. Jetzt läuft bereits die letzte Woche der heißen Wahlkampfphase, und sie scheint spurlos an uns vorüber zu ziehen. Fernseh-Werbespots zur Wahl gibt es in Österreich ja keine, dafür Videoschnipsel der Politiker:innen auf Social Media. Deren Wirksamkeit in die Gesellschaft hinein ist umstritten, weil sie in erster Linie in die eigene Partei-Bubble hineinstrahlen.

Und was passiert sonst? Auf den Straßen und Plätzen der Republik? Mitunter laufen wir bei unseren alltäglichen Wegen in eine Verteilaktion der Parteien. Dort bekommen wir Flyer und Goodies wie Kulis oder Manner-Schnitten (letzteres sehr beliebt). Doch selbst das scheint derzeit weniger als sonst zu passieren.

Sebastian Reinfeldt geht also auf Wahlkampf-Spurensuche und lehnt sich überdies mit Wahlprognosen aus dem Fenster.


SPÖ: Im Marx-Palast

Es ist ein lauer Dienstagabend im Mai. Die SPÖ hat zu einer EU-Wahlkampfveranstaltung in den dritten Bezirk geladen, ins Medienviertel St. Marx. An den Stehtischen draußen drängeln sich SPÖ-Mitglieder, die zu dem Event mobilisiert wurden; darunter viele Promis. Fernsehteams schlendern durch die Reihen und bitten Anwesende um O-Töne für ihre Berichte. Im Eck wuzeln einige Teams um einen Pokal – auch hier sind Polit-Promis der Partei mit dabei.

Im gut gefüllten Saal reden dann Andi Babler (viel zu lang), Andreas Schieder (abgeklärt), Evelyn Regner (engagiert) und schließlich der europaweite sozialdemokratische Spitzenkandidat Nicolas Schmit. Den Luxemburger, immerhin EU-Sozialkommissar, kennt – bis auf wenige Politik-Nerds – kaum wer in Europa. In Österreich schaut das nicht anders aus. In seiner Rede spult Schmit die klassischen sozialdemokratischen Themen ab. Von dem Potpourri an Themen, das die Kandidat:innen am Abend insgesamt präsentierten, wird wenig nach Außen dringen. EU-Wahl – SPÖ-Chef Babler schließt Koalition mit Rechtsextremen aus, so titeln die Oberösterreichischen Nachrichten ihren Bericht von dem Event. Das hat er zwar gesagt, es hat aber nur indirekt mit der EU zu tun.

Vor dem Marx-Palast. Wahlkampfevent der SPÖ

Die Plakate der SPÖ zur EU-Wahl sind wenig zugespitzt und somit praktisch aussagelos. Ihre Plakate muss man entlang der Straßen und Plätze schon aktiv suchen, damit sie einem auffallen. Ob es Strategie der SPÖ ist, wenig Reibungsfläche und Sichtbarkeit zu bieten, oder ob es schlicht die knappen finanziellen Mittel sind: Das Konzept könnte aufgehen und ich tippe für die Partei 25 seriöse Prozente bei der Wahl. Und ein exzellentes Vorzugsstimmenergebnis von Evelyn Regner.

FPÖ: Anti-EU Stimmung gleichzeitig erzeugen und bedienen

Wer durch die Stadt Wien schlendert oder übers Land fährt, der/die könnte der Meinung sein, dass sich nur die FPÖ im EU-Wahlkampf befindet. Straßauf, straßab plakatiert die rechtspopulistische Partei – manchen meinen, sie sei rechtsextrem – ihren EU-Spitzenkandidaten Harald Vilimsky. Oder aber ein Plakat, das einige der Verschwörungserzählungen enthält, die man sich zur EU derzeit so erzählt: angebliche Kriegstreiberei etwa, illustriert mit einem Begrüßungskuss von Ursula von der Leyen und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymir Selenskyj. Sie warnen vor einem EU-Wahnsinn, verschweigen dabei natürlich den Wahnsinn, der sich in Österreich breit machen würde, wenn sie ihr Endziel, den Öxit, erreichen könnten. In Großbritannien sehen wir, in welche Probleme ein Land gerät, das sich selbst von den ökonomischen und politischen Verflechtungen abkapseln will.

FPÖ Wahlkampf-Sujet, EU-Wahl Mai 2024

Ihr Wahlkampf-Sujet nimmt allerdings deutlich auf die anti-europäische Grundhaltung Bezug, die in Österreich vorherrscht. Der Eurobarometer von Ende Dezember 2023 ergibt die folgenden Einstellungen zur Europäischen Union:

Dass die Dinge in der EU derzeit in die richtige Richtung gehen, meinen 32 % der Menschen in Österreich (+1 Pp.) und 33 % im EU27-Schnitt (-3 Pp). Dass die Dinge in der EU sich hingegen in eine falsche Richtung entwickeln, denken 48 % der Österreicherinnen und Österreicher (-3 Pp.) und 51 % der Befragten in der EU (+3 Pp.). Mit der Demokratie in der EU sind 50 % (+/-0 Pp.) der Menschen in Österreich zufrieden (EU27: 54 %, -2 Pp.).

STANDARD EUROBAROMETER 100 Die öffentliche Meinung in der EU L ä n d e r b e r i c h t: Ö S T E R R E I C H E r h e b u n g s z e i t r a u m : O k t o b e r – N o v e m b e r 2023

Die Werte haben sich mittlerweile leicht in Richtung EU verbessert. Das lässt leichte Zweifel daran aufkommen, ob die Strategie der FPÖ, in Wort und Bild so wild gegen die EU zu agitieren, aufgehen wird. Bei Überdehnung eines Themas kann dies nämlich, wie ein Gummiband, reißen und ins Gesicht zurück schnalzen. 25 Prozent für die FPÖ bei dieser Wahl sind daher das Maximum, so meine Prognose. Denn es ist nicht einsichtig, warum Menschen, die so vehement gegen die Union eingestellt sind, am 9. Juni zur Wahl gehen sollten. Da helfen auch Plakat-Provokationen nichts.

ÖVP: Verbrenner-Aus und Regionalismus

Europa – aber besser. Das plakatiert die ÖVP zur Wahl. Und in den Bundesländern suggerieren die dort plakatierten ÖVP-Sujets, dass es in Brüssel tatsächlich um die regionalen Interessen etwa Oberösterreichs oder Kärntens oder Wiens gehen könnte. Da drängt sich bereits auf den ersten Blick die Frage auf, ob – aus ÖVP-Sicht – Wien, Oberösterreich, Kärnten und so weiter alle dieselben Interessen aufweisen? Wenn dem nicht so ist (wovon wir getrost ausgehen können), stünden die österreichischen Regionen in Brüssel gegeneinander im Wettbewerb – gegeneinander, und gegen den Zentralstaat Österreich überdies. Das wäre ein völlig absurdes Szenario.

Die Aussage ist natürlich Unsinn. Der Grundgedanke der Europäischen Union ist ja nicht, dass da Regionen und Nationen für sich das Maximale herausholen, was ja nur funktionieren würde, wenn sie wie in einem Nullsummenspiel einer anderen Region oder Nation etwas wegnähmen. Die EU funktioniert letztlich durch Kooperation, wodurch die Union insgesamt zu mehr wird als die bloße Summe ihrer Teile.

EU-Wahlplakat der ÖVP, 2024

Entsprechende Initiativen, die durch Kooperation aller europäischen Institutionen unter Mitwirkung österreichischer Vertreter:innen auf allen Ebenen der Entscheidungsfindung entstanden sind, wie etwa der Green Deal (inklusive Verbrenner-Aus 2035) oder die Renaturierungsverordnung werden von der ÖVP im Wahlkampf gerade negativ zum Thema gemacht und rhetorisch gebrandmarkt.

Da die Partei gleichzeitig seit Jahrzehnten in der Regierung Österreichs wirkt und über den Europäischen Rat und im EU-Parlament an all den übergreifenden Initiativen mitwirkt, ist diese Kampagne durchsichtig und somit kaum glaubwürdig. Ich gebe der Partei des inneren Widerspruchs nicht mehr als 20 Prozent, womöglich drunter. Apropos: Wie heißt eigentlich der ÖVP-Spitzenkandidat zur EU-Wahl? (Nicht googlen!)

Grüne: Lenas Bekanntheit und ihr Fluch

Die Spitzenkandidatin der Grünen heißt Lena Schilling. Das wissen mittlerweile fast alle in Österreich. Insofern haben die Skandalgeschichten rund um ihre Person entscheidend zu ihrer Bekanntheit beigetragen. Aber nicht alleine ihre Geschichten tragen dazu bei, denn neben der FPÖ fluten auch die Grünen die Straßen und Plätze Österreichs mit Plakaten. Auf der ersten Welle überall zu sehen: Lena Schilling, die ein Herz zeigt. Auf der zweiten Welle erkennen wir zumeist nur noch die Stichworte, ohne Lena. Die Plakatwellen sind Zielgruppen orientiert und eigentlich gut gemacht.

Grüne Wahlplakate zur EU-Wahl 2024 (leicht verändert)

Aber: Das dort erzeugte Image kontrastierte schon recht deutlich mit den Geschichten, die im Standard über die Spitzenkandidatin berichtet worden sind, die wiederum auf Geschichten basierten, die über sie erzählt worden sind, die wiederum sie über andere erzählt hat – und so weiter. Besonders herzig ist das da Berichtete jedenfalls nicht.

Lena Schilling tritt in den Fernsehdiskussionen souverän auf und argumentiert ihre Themen – Klimaschutz, gegen Rechtsextremismus und so weiter – durch. Sie ist auch ein Star in den sozialen Medien. Doch wirkt die Diskrepanz zwischen medialem Bild und öffentlichem Image zu krass. Daher werden die Grünen ihr sehr gutes Ergebnis der letzten EU-Wahl nicht halten können – und bei knapp unter 10 Prozent zu liegen kommen. Was angesichts der Umstände gar nicht so schlecht sein wird.

Neos – die Europapartei

Gibt es in Österreich eigentlich eine politische Kraft, die ohne Einschränkung die Europäische Union als etwas Positives ansieht und für ihre Vertiefung eintritt? Ja, und das sind eindeutig die NEOS. Sie treten für die Vereinigten Staaten von Europa ein, was zu Ende gedacht eine weitere Beschränkung der nationalen Souveränität in Europa nach sich ziehen würde. Und sie plädieren für eine Europäische Armee, was aber mehr eine rhetorische Hülle denn ein machbarer Vorschlag ist. Realität würde so eine europäische Armee sicher nicht. Engere militärische Kooperation allerdings schon.

Dabei fällt kaum wem auf, dass die NEOS ihren Kurs dadurch klar positionieren, indem sie Stichworte von rechts aufnehmen. So bringen sie beispielsweise Shareables zum Außengrenzschutz der EU in Umlauf: Konsequent geschützte Außengrenzen seien eines von zwölf Vorteilen der EU. Na ja.

Shareable der NEOS
Shareables der NEOS zu EU-Wahl: Quelle: Webseite der Partei.

Sie haben ein Alleinstellungsmerkmal, da sie klar konturiert pro Ukraine auftreten, und auch für eine robuste Verteidigung von Österreichs Sicherheit eintreten. Daher prognostiziere ich der Partei ein zweistelliges Ergebnis. Ihr Spitzenkandidat heißt Helmut Brandstätter.

KPÖ: Keine Kanonen für die Ukraine

Schafft die KPÖ ein Mandat für das EU-Parlament – oder nicht? Die Umfragen sagen, es würde knapp werden. Und auch ich glaube das. Allerdings zeigt sich die KPÖ in ihrer Wahlkampagne von ihrer wahren, links-nationalistischen Seite. Vom Slogan des Sozialismus in einem Land, was einst der real-sozialistische Weg im so genannten Ostblock war, führt kein langer Weg dahin, der Ukraine die militärische Unterstützung zu versagen, weil wir in Österreich mehr Wohnungen bräuchten. Die Plakat-Aussagen: Wohnen statt Kanonen bedeuten dies nämlich in letzter Konsequenz.

KPÖ-Wahlplakat EU-Wahl 2024

Auch wenn der Spitzenkandidat Günther Hopfgartner diese Aussage in einem Interview jüngst umgedeutet hat in: Geld für Wohnungen in der Ukraine, so wird er in das nur vordergründig pazifistische Plakat keinen tiefen internationalistischen Content mehr herein interpretieren können. Meine Prognose: Die KPÖ spricht damit die niederen rot-weiß-roten politischen Instinkte in Österreich an und wird daher die vier Prozent Hürde überspringen.

Zur ebenfalls kandidierenden Schwurbler-Partei DNA fällt mir nichts ein. Sie wird mit ein bis zwei Prozent der Stimmen abschneiden.


Lesehinweis: Desinformation: Es geht darum, die öffentliche Meinung zu manipulieren (Interview mit Desinfo-Analysten Dietmar Pichler)


Transparenzhinweis: Der Autor ist seit März 2023 SPÖ-Mitglied und mit keinem der hier genannten Personen jemals liiert gewesen. Das Titelfoto stellt eine reale Szene aus dem EU-Wahlkampf der bayerischen SPD in München Anfang Juni 2024 dar.


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