Antisemitismus unter Zugewanderten: ein Faktum

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By Sebastian Reinfeldt

„Es ist erschreckend, wie sichtbar sich antijüdisches Denken in Österreich hält“, so kommentierte der Standard-Journalist Jan Michael Marchart im April 2023 die Veröffentlichung des dritten Antisemitismusberichts des österreichischen Parlaments. Die Wahrheit ist, dass dieses Denken sich nicht nur hält, sondern neu mit einwandert.

Wer wie unser Autor Sebastian Reinfeldt jahrelang in Integrations- und Sprachkursen unterrichtet hat, weiß, dass in mehrheitlich arabisch- oder türkischsprachigen Lerngruppen die Emotionen hochgehen, wenn das Stichwort Israel fällt. Der „schaurige Befund“ ist seit längerem Realität.

Wir sollten diese Realität – endlich – zur Kenntnis zu nehmen, meint Reinfeldt, der sich für seinen Beitrag weitere Antisemitismusstudien aus Deutschland angesehen hat. Gleichzeitig plädiert er für einen differenzierten Umgang mit der Tatsache des latenten und offenen Antisemitismus. Denn: Wenn wir alle Antisemiten einfach abschieben könnten (wie jetzt auch Linke fordern), wäre die Bevölkerung Österreichs um rund ein Drittel kleiner.


Wissen über die Shoah ist vorhanden – doch sie wird umgedeutet

Dass Juden während der Nazizeit „Opfer“ waren, also nahezu vollständig vernichtet wurden, steht für die deutliche Mehrheit der Befragten in der Antisemitismusstudie des österreichischen Parlaments außer Frage. Doch die erfolgreiche Aufklärung der Tatsachen wendet sich antisemitisch um: Mehr als ein Drittel der Menschen in Österreich sind der Meinung, Juden versuchten heute Vorteile daraus zu ziehen, Opfer während der Nazi-Zeit gewesen zu sein.

War der frühere Antisemitismus der Meinung, Juden würden die Vernichtung nur erfinden, so meint diese Variante, sie würden Vorteile aus der Tatsache schlagen, dass ihre Familien fast vollständig ausgerottet worden sind. Diese deutlich antisemitische Einschätzung kann sich auf den Lebensalltag beziehen, oder auch politisch wirksam werden, wenn einer dieser Vorteile der „eigene“ demokratische Staat Israel sein könnte. Dies würde erklären, dass die Ansicht, Vorteile aus der Shoah zu ziehen, unter türkisch- und arabischsprachigen Befragten zu mehr als dem durchschnittlichen Drittel vertreten war.

Verschwörungserzählungen haben einen antisemitischen Drall

„Verschwörungsmythen – welcher Art auch immer – sind so eben nur Variationen dieser Struktur, die mit unterschiedlichen Mitteln die immer gleiche Geschichte eines antisemitischen Weltbildes wiederholen“,“ meint der Literturwissenschaftler Sebastian Schuller im Semiosis-Interview im März 2023. Will sagen: Verschwörungsmythen sind strukturell antisemitisch. Und sie werden von Menschen in Österreich geglaubt und erzählt – gleich, welcher Herkunft.

Die Antisemitismusstudie des Parlaments belegt diese Analyse: Aussagen wie „Juden haben in Österreich zu viel Einfluss“ bekommen bei Türkisch- und Arabischsprachigen 47 Prozent Zustimmung – oder bei „Hinter aktuellen Preissteigerungen stehen oft jüdische Eliten in internationalen Konzernen“ nicken 43 Prozent von ihnen mit dem Kopf.

Insgesamt stimmen auch solchen Aussagen in Österreich rund ein Drittel der Befragten zu.

Der Klassiker: Israelis würden die Palästinenser auch nicht besser behandeln

So als ob die Konzentrationslager eine Art Erziehungslager für Menschenrechte gewesen wären, wird den Israelis gerne vorgeworfen, sie seien ja jetzt auch nicht besser. So kommt es, dass die völlig faktenwidrige Aussage, dass „die Israelis die Palästinenser im Grunde auch nicht anders behandeln als die Deutschen im Zweiten Weltkrieg die Juden“ bei mehr als der Hälfte der Türkisch- und Arabischsprachigen Zustimmung findet. In ganz Österreich findet etwa ein Drittel der Befragten diese Aussage zutreffend – ein erschreckend hoher Wert.

Deutschland: Israelbezogener Antisemitismus dominiert bei Menschen mit Migrationshintergrund

Ebenfalls im April 2023 erschien in Deutschland die Studie der Antisemitismusforscherin Sina Arnold im Auftrag des Mediendienst Integration mit ganz ähnlichen Resultaten wie der Antisemitismusbericht des österreichischen Parlaments. Das Phänomen ist also nicht „typisch österreichisch“.

Klassischer Antisemitismus – darunter versteht man die Zuschreibung angeblich ‚typischer‘ Eigenschaften – ist unter Muslim:innen stärker verbreitet als unter Nicht-Muslim:innen. Israelbezogener Antisemitismus ist ebenso unter Menschen mit Migrationshintergrund und unter Musliminnen weitaus populärer als unter Menschen ohne Migrationshintergrund. „Dasselbe gilt für Muslim:innen im Vergleich zu Nicht-Muslim:innen“, schreibt die Studienautorin Sina Arnold.

Mediendienst Integration

Quelle: https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/MEDIENDIENST-Expertise_Antisemitismus_unter_Menschen_mit_Migrationshintergrund_und_Muslimen.pdf

Aufenthaltsdauer und Ort der Schulbildung sind entscheidend

Antisemitismus liegt allerdings nicht in der DNA von Zugewanderten. Relevante Einflussfaktoren sind die Aufenthaltsdauer, wobei eine Faustregel besagt, dass je länger der Aufenthalt in Deutschland oder Österreich dauert, umso eher nehmen die antisemitischen Einstellungen ab. Dies bestätigt auch eine weitere Studie, die Nils Friedrichs und Nora Storz im Jahr 2022 publiziert haben. Sie stellen fest, dass antisemitische Einstellungen in Deutschland weit verbreitet sind. Aber auch, dass Menschen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland die Schule besucht haben, „seltener antisemitisch und antimuslimisch eingestellt [sind] als jene, die in einem anderen Land zur Schule gegangen sind.“

Dieser Befund muss nicht zwangsläufig auf das dort vermittelte Wissen bezogen werden, sondern er kann auch mit den vielfältigen sozialen Kontakten zu tun haben, die in einer Bildungseinrichtung passieren.

Praxistipp: Über Antisemitismus reden

Aus der Erfahrung des Unterrichtens in Integrations- und Sprachkursen weiß ich, dass wir das Thema nicht totschweigen können. Also darf es beim Thema Israel keine initialen Sprechverbote geben, und die Meinungen und Ansichten werden aufeinander prallen. Dann aber ist es die Aufgabe der Lehrenden, Fakten zu vermitteln. Dazu gehört auch, dass die Tatsache der Shoah und der Staat Israel zusammen gehören. Und dass Israel der einzige demokratische Staat in der Region ist, der daher eben keine Apartheid kennt.

Jeder dieser auch hier zitierten antisemitischen Haltungen kann im Gespräch widerlegt werden. Ich bilde mir persönlich zumindest ein, Muslim:innen zum Nachdenken gebracht zu haben. Dass wir es nicht mit festgefahrenen Einstellungen zu tun haben, zeigt nicht zuletzt das Projekt MuslimInnen gegen Antisemitismus, das in Kooperation mit der Israelitischen Kultusgemeinde durchgeführt worden ist.


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Titelfoto: Von Roehrensee – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48204437

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