Spätestens mit der Diskussion über den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine wurde deutlich, dass es weiterhin ein anti-amerikanisches Ressentiment in den europäischen progressiven Parteien gibt, das die Analysefähigkeit des offenbaren russischen Imperialismus neutralisiert. Dies gilt auch für Teile der österreichischen Parteien SPÖ und KPÖ. Natürlich gilt das auch für die österreichische Rechte, aber die ist in unserem Interview mit Niki Kowall nicht Thema.
Es geht um den „linken“ Antiamerikanismus, der mittlerweile von der Geschichte überholt wurde, und darum, welche politischen Schlußfolgerungen daraus gezogen werden sollten. „Die Entität, die global ins Gewicht fällt, heißt Europa“ – so lautet zumindest der Vorschlag von Kowall im Gespräch mit Sebastian Reinfeldt.
Was ist der Unterschied zwischen einer Kritik an der US-Außenpolitik und Anti-Amerikanismus?
Es geht darum, dass berechtigte Kritik an den USA andere Imperialismen nicht ausblendet. Zum Beispiel russischen oder chinesischen Imperialismus. Aber auch regionalen Imperialismus wie den saudischen, den türkischen oder den iranischen. Es geht auch darum, dass nicht alle Interventionen der USA einen Topf geworfen werden. Jugoslawien und Libyen sind moralisch beispielsweise deutlich komplexer zu bewerten als Vietnam oder Irak. Und es geht drittens darum, dass endlich erkannt wird, dass das unipolare Zeitalter nur eine Generation lang angedauert hat. Vom Zerfall der Sowjetunion 1992 bis allerspätestens zum russischen Angriff auf die Ukraine 2022. Die Zeit, als nur die USA mächtig waren, ist vorbei. Und die USA sind, bei allen Fehlern, heute weniger bedrohlich als andere Großmächte in unserer zunehmend multipolaren Welt und damit ein verhältnismäßig Verbündeter.
Hat sich Kritik an der US-Außenpolitik überholt?
Es geht nicht darum, die USA nicht zu kritisieren. Die US-Außenpolitik hat in Lateinamerika, in Nah-Ost oder in Ostasien hat über Jahrzehnte eine Blutspur durch die Weltgeschichte gezogen. Es wurden Militärdiktaturen und Folterregime gegen alles unterstützt, was ideologisch und/oder machtpolitisch nicht passte. Mein Eindruck ist aber, die Misserfolge der letzten 20 Jahre – Stichwort Abzug auf Afghanistan – haben schon langsam ein Umdenken eingeleitet. Der russische Angriff auf die Ukraine wird diesen Trend womöglich verstärken, weil so etwas wie den Irakkrieg kann man als USA einfach nicht mehr bringen. Hinzu kommt meine Hoffnung, dass die postkoloniale Bewegung in den USA eine Auseinandersetzung mit dem imperialistischen Erbe und den verbliebenen imperialistischen Impulsen einfordern wird. Es gibt keine Garantie dafür, dass die USA lernfähig sind, wenngleich sie in ihrer Geschichte schon einige Male bewiesen haben, dass sie es sein können. Sollten sie jedenfalls eine Aufarbeitung hinbekommen dann könnte ich mir vorstellen, dass die USA sich auch außenpolitisch stärker von einem Imperium zu einer Republik wandeln, um das eingängige Gegensatzpaar von Timothy Snyder zu verwenden.
Ist die NATO in irgendeiner Form für den Angriff Russlands auf die Ukraine mit verantwortlich?
Sehr viele kluge Menschen haben sich mit der Thematik in den letzten zwei Jahren intensiv beschäftigt und zuerst kann ich wiedergeben was diese Leute, die vom Fach sind, sagen. Grosso modo hat Putin die NATO-Erweiterungen seinerzeit recht emotionslos zur Kenntnis genommen, Michael Thuman, der Russland-Korrespondent der ZEIT, zeichnet das genau nach. Irgendwann, so Timothy Snyder, hat Putin das NATO-Gespenst aus politischen Gründen aus dem Keller geholt. Als aufmerksamer Medienkonsument habe ich das über die letzten 20 Jahre ähnlich wahrgenommen. Der antiwestliche Diskurs kam sukzessive in den Jahren als die russische Wachstumsdynamik durch den Einbruch des Ölpreises ab 2008 nachgab, der Westen 2011 in Libyen das UN-Mandat überschritt und sich in Russland 2012 eine Demokratiebewegung gegen die Rückkehr Putins in Präsidentenamt breitmachte.
Es machen aber auch kluge Menschen darauf aufmerksam, dass Chancen verpasst wurden. Einerseits Anfang der 1990er, als hohes Vertrauen zwischen Clinton und Jelzin herrschte. Auch später hätte man den Prozess der NATO-Osterweiterung behutsamer angehen können, so etwa Harvard-Ökonomin Mary Elise Sarotte.
Ist das realistisch?
Ich denke eher die Osteuropäer:innen sind gebrannte Kinder und immer wenn Russland irgendwo militärisch interveniert hat, etwa im Tschetschenien 1994-1996, dann war das Signal klar: So schnell wie möglich unter den NATO-Schutzschirm. Und wir müssen uns auch folgendes vergegenwärtigen, etwa aus der Sicht Polens: Die erste Teilung des Landes zwischen Russland, Preußen und Österreich, fand 1772 statt. Fast 200 Jahre kam die Gefahr aus Ost und West, zuletzt mit dem Hitler-Stalin-Pakt. Aber heute fürchtet sich Polen vor Deutschland nicht sondern verlangt im Gegenteil mehr militärisches Engagement von seinem Verbündeten ein. Aus polnischer Sicht ist Russland immer noch eine Gefahr, Deutschland aber nicht mehr. Es gibt im Westen nichts zu fürchten. Wäre nicht gerade die blöde PiS an der Macht müsste man das genauso feiern wie die deutsch-französische Aussöhnung.
Woher kommt dann das tief sitzende anti-amerikanische Ressentiment in der österreichischen Linken bzw. in der Sozialdemokratie?
Für mich persönlich war der Anti-Amerikanismus Ende der 1990er, als ich mich als Jugendlicher stark politisierte, absoluter Kernbestandteil meines Weltbildes. Er war sogar identitätsstiftend und ein Erkennungscode einer ganzen Jugendkultur. Kiffen, Anti-FPÖ und Anti-USA, das war ein weit verbreiteter Konsens – sogar im ländlichen Niederösterreich wo ich aufwuchs. Gewerkschaften, Parteien und Solidarität waren out, die Börse, Mastercard und erste Klasse Fliegen waren in. Für diese seelenlose Welt stand Amerika. Der Sieg des Kapitalismus war der Sieg der USA, die damals noch dazu wirklich der einzige Welt-Hegemon waren. Die Interventionen des CIA zugunsten von US-Konzernen wie der United Fruit Company in Zentralamerika waren auch keine Verschwörung, sondern real, ebenso der enorme Einfluss der US-Rüstungsindustrie. Antiamerikanisch ist dann die krasse Überzeichnung realer Gegebenheiten sowie die falsche Schlussfolgerung, dass der Feind meines Feindes mein Freund sei. Konkret heißt linker Antiamerikanismus, erstens alle Außenpolitik der USA könne kategorisch nur im Interesse des US-Kapitals erfolgen. Zweitens: Alle den USA feindlich gesinnten Kräfte sind antiimperialistisch und damit irgendwie Verbündete.
Letzteres habe ich persönlich nicht einmal im Alter von 17 Jahren geglaubt.
Wieso halten sich diese Ressentiments so beharrlich?
Ich glaube der öffentliche Diskurs in Österreich ist einfach Jahre hinten nach, auch im progressiven Spektrum. Das fällt mir auf, weil es z.B. dringend ein geistiges Update bräuchte, und zwar gegenüber dem Jahr 2000, als die USA unter der Bush-Regierung wirklich der alleinige Welt-Hegemon waren. Viele progressive Menschen glauben, wir leben noch vor 20 Jahren, aber die Welt hat sich rasant weitergedreht. Die US-Außenpolitik ist vom Irak über die Krim bis Afghanistan ausnahmslos misslungen. Dafür ist China am Sprung die USA als größte Wirtschaftsmacht einzuholen. Indien, das mittlerweile bevölkerungsreichste Land der Erde, entwickelt sich unglaublich dynamisch.
Regionalmächte wie die Türkei haben ein ganz anderes Selbstbewusstsein, aber auch Indonesien oder Brasilien. Wir erleben die größte Gewichtsverschiebung weg vom euro-atlantischen Raum seit einem halben Jahrtausend. Es passiert vor unseren Augen, aber wir müssen hinschauen. Es ist für mich ein Zeichen des Alt-Werdens, wenn man mit 25 oder 35 oder 45 die Schotten dicht macht und sagt: Ab jetzt ignoriere ich die Veränderung der Geschichte und passe mein Weltbild nicht mehr an. Das ist geistiges Altern und das gestehe ich progressiven Menschen nicht zu.
Sollte sich die Linke transatlantisch orientieren – oder sollte die österreichische Linke eher auf einen an der EU orientierten, dritten Weg setzen?
Wir können in Zeiten wie diesen weder darauf vertrauen, dass die USA eine Demokratie bleiben, noch dass die EU Bestand hat und sich nicht in mehrere illiberale Nationalstaaten nach ungarischem Vorbild zerlegt. Aber gesetzt den Fall, dass die USA und die EU Demokratien bleiben, würde ich es wie folgt zusammenfassen: Kein Freihandelsabkommen mit den USA, das stärkt nur die Konzerne und schwächt die Demokratie auf beiden Seiten des Atlantiks. Sicherheitspolitisch gemeinsam mit den USA darüber nachdenken, wie Washington aus der europäischen Verantwortung rauskommt, aus der Trump aber in Wirklichkeit auch Obama schon raus wollten. Hier reichen die Optionen von einem europäischen NATO-Arm bis zu der von mir präferierten autonomen europäischen Verteidigungsarchitektur. Das gemeinsame Nachdenken kann natürlich erst beginnen, wenn in der Ukraine Frieden und Sicherheit herrschen. Und wenn man in der EU 2035 oder 2040 militärisch auf eigenen Beinen stehen sollte, dann kann man ja über einen Klub der Demokratie grübeln. Kein Militärbündnis, aber eine Ländergruppe, die geheimdienstliche Informationen teilt, bei Militärtechnik kooperiert etc. So einem Klub könnten neben der EU dann auch die USA und Japan womöglich aber auch Indien oder lateinamerikanische Staaten angehören.
Welche geopolitische Rolle siehst du für das kleine europäische Land Österreich in der Welt?
Es gibt in China zwölf Städte, die eine größere Bevölkerung haben als ganz Österreich. Der größte indische Bundesstaat hat mit 200 Millionen Menschen beinahe so viele Einwohner:innen wie die drei größten EU-Staaten – Deutschland, Frankreich und Italien – zusammen. Die Weltbevölkerung wächst jedes Jahr um 80 Millionen Menschen, also jedes Jahr um ganz Deutschland. Würde die ganze österreichische Bevölkerung morgen tot umfallen, wäre die Weltbevölkerung 2023 immer noch um gut 70 Millionen Menschen gewachsen. Ich glaube Österreich schützt seine Interessen – Erhalt von Demokratie und Rechtsstaat, Ausbau von Lebensqualität und Wohlfahrtsstaat, nachhaltige Transformation des Wohlstands – am effektivsten, indem es sich dafür einsetzt, dass die EU nach außen geschlossen auftritt. Die Entität, die global ins Gewicht fällt, heißt Europa.
Zur Person: Nikolaus „Niki“ Kowall ist Volkswirt und gilt als SPÖ-Parteirebell. Er hat die berühmte Sektion 8 in Wien-Alsergrund ins Leben gerufen. Dort hat er mittlerweile eine politische Funktion als Vize-Bezirksparteivorsitzender. Seit Mai 2021 betreibt er den politischen Videoblog Kowall redet Tacheles. Seit Juni 2022 wiederum ist Kowall Vorstandsmitglied des Österreichischen Instituts für Internationale Politik (ÖIIP). Im März 2023 hat er 72 Stunden lang für den Bundesparteivorsitz der SPÖ kandidiert. Seine Kandidatur ebnete letztlich den Weg für die letztlich erfolgreiche Kandidatur des jetzigen Parteivorsitzenden Andreas Babler.
Titelfoto: Foto: USIS, Transparent vor der Karlskirche. „AMI GO HOME! Es lebe ein unabhängiges Oesterreich!“, 1952, ÖNB/Bildarchiv, US 24.082.
1 Gedanke zu „Kowall über Antiamerikanismus: „Kiffen, Anti-FPÖ und Anti-USA, das war ein weit verbreiteter Konsens.““