Die drei Basiserzählungen in Corona-Verschwörungsideologien

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By Redaktion Semiosis

Unser Corona De-Briefing, nächster Teil.

Während derzeit sowohl Politiker*innen als auch Journalist*innen die Aussage kreieren, die Schutz-Maßnahmen gegen Corona seien übertrieben gewesen, ziehen neue Infektionswellen mit dem gefährlichen Virus durch die Lande. Da weder ordentlich getestet und somit auch nicht korrekt gezählt wird, haben wir nur ungefähre Daten über das Ausmaß der Durchseuchung zur Verfügung.

Was das mediale sich Überbieten in falscher Maßnahmen-Kritik allerdings zeigt: Die Coronaleugner- und die rechtsextreme Schwurbler-Szenen haben gewonnen. Zentrale „Narrative“ von ihnen – ihre Kernaussagen also – werden mittlerweile ungeprüft und faktenfrei übernommen, so als ob sie wirkliche Tatsachen wären. Zum Beispiel die Zweifel an der Wirksamkeit des Maskentragens.

Wir setzen unser erstes kritisches Corona-De-Briefing von Paul Schuberth mit einer Interview-Serie mit dem Sozialforscher und Buchautor Sebastian Schuller fort. In diesem ersten Teil unseres Gesprächs analysieren wir die drei Basiserzählungen der Szene. Im zweiten Teil des Gesprächs, das in wenigen Tagen folgt, gehen wir auf ihren strukturellen Antisemitismus ein und schließlich besprechen wir, warum diese Erzählungen im Kampf um die Deutungshoheit gewinnen konnten. Das Interview führt Sebastian Reinfeldt.


Welche Verschwörung-Mythen waren – und sind – bezogen auf die Covid-Pandemie von Bedeutung?

Ich kategorisiere die verschiedenen Corona-Verschwörungserzählungen anhand von drei zentralen ‚Erzählsträngen‘. Das heißt also, ich bestimme grundlegende Basis-Erzählungen, auf denen dann die konkreten Theorien aufbauen, die einzelne Personen von sich geben,

Basiserzählung eins: Sie sind Satanisten

Eine Koalition aus Satanisten und anderen obskuren Gruppen nutzen Corona zu ihren dunklen Machenschaften. Hier geht es häufig um esoterische Erzählungen, die oft mit dem qAnon-Universum, oder ‚New-Age‘-Glauben (z.B. an Reptiloide) zusammenhängen. Als Vertreter dieser Weltanschauung wären etwa der deutsche Attila Hildmann, oder Xavier Naidoo anzusehen. Letzterer hat zwar inzwischen erklärt, er würde nicht mehr an Verschwörungstheorien glauben. Aber noch 2020 in einem Video sprach er weinend davon, dass satanische Eliten sich am Blut entführter Kinder berauschen würden.

Basiserzählung zwei: Sie wollen die Weltbevölkerung reduzieren

Dunkle Eliten nutzen Covid-19, um ein Programm der Bevölkerungsreduktion, z.B. durch den Impfstoff, zu erreichen. Diesem Erzählstrang folgen häufig Personen aus ‚impfkritischen‘ Zirkeln, aber auch Verschwörungsideologien, die beispielsweise Bill Gates oder George Soros als Mastermind hinter der Pandemie vermuten, lassen sich hier einordnen.

Basiserzählung drei: Sie planen eine neue Ordnung

Die Pandemie als Vorwand einer Einrichtung einer neuen, autoritären Weltordnung, die meist als eine Art Weltbolschewismus vorgestellt wird. Diese Basiserzählung ist vermutlich die beliebteste und hat unendlich viele Varianten hervorgebracht. Schon im Mai 2020 gingen vermeintlich linke Aktivist:innen in diesem Sinne auf die Straßen, um gegen die vermeintliche Abschaffung der Demokratie zu demonstrieren.

Der ex-marxistische Philosoph Giorgio Agamben sprach so davon, die Corona-Maßnahmen würden den Beginn eines globalen, totalitären Regimes markieren. Indes stellt das bekannteste Beispiel für diese Basiserzählung sicher die Great-Reset-Verschwörungstheorie dar. Diese zirkulierte 2021/2022 in verschwörungsaffinen Kreisen, wurde aber auch von etablierten politischen Rechten geteilt. Nach dieser Theorie – die übrigens von einem rechts-libertären, US-amerikanischen Thinktank popularisiert wurde – war die Pandemie nur ein Vorwand, um den Kapitalismus durch eine Art sozialistische Weltdiktatur von Multimilliardären (sic) zu ersetzen.

Was sind typische Kennzeichen einer Verschwörungsideologie?

Ideologie ist ja an und für sich etwas Alltägliches. Ideologien durchziehen und bedingen gesellschaftliches Zusammenleben. Kalauernd könnten wir sagen: Ideologien machen Sinn. Denn sie strukturieren die Erfahrung von Individuen und schaffen kollektive Zusammenhänge.

Dasselbe gilt für Verschwörungsideologie: Sie produzieren Erzählungen, durch die die verworrene und widersprüchliche Welt eine imaginäre Struktur bekommt, an der sich die Gläubigen festhalten können.

Diese Erzählungen können wir unterschiedlich analysieren. Die aktuelle Forschung zu dem Thema neigt dazu, das ganze empirisch-sozialwissenschaftlich zu betrachten. Dabei werden mindestens zwei zentrale Merkmale von Verschwörungsideologie genannt:

Eine Verschwörungsideologie ist erstens durch die Personalisierung sozialer oder politischer Geschehnisse charakterisiert. Das bedeutet: Anstatt einen politischen, sozialen oder kulturellen Sachverhalt etwa als Effekt gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse zu begreifen, verstehen Verschwörungstheoretiker*innen diesen als Ausdruck eines zielgerichteten Handelns bestimmter, persönlicher Agenturen.

Zweitens geht dies einher mit einer Ablehnung üblicher epistemischer Systeme. ‚Episteme‘ bzw. ‚Epistemologie‘ verweist auf die Art und Weise, wie Erkenntnisse gewonnen werden können. In unserer Gegenwart, die geprägt ist von Aufklärung und Empirizismus, ist klar, dass eine Erkenntnis, um wahr zu sein, gewissen empirischen Standards (zum Beispiel ihrer Falsifizierbarkeit) genügen muss.

Verschwörungstheoretiker*innen grenzen sich davon ab, indem sie die dazugehörigen epistemischen Autoritäten (Medien, Wissenschaft, usw.) ablehnen und der Lüge bezichtigen. Dies kann bis ins Extreme gehen, denken wir an die wachsende Bewegung der Flacherdler (Flat Earth Society).

Wichtig ist mir zu betonen, dass diese Basiserzählungen sich nicht gegenseitig ausschließen. Im Gegenteil, in der Realität gehen diese Verschwörungstheorien oft ineinander über, werden individuell abgewandelt und neu zusammengesetzt. Es entstehen regelrechte Verschwörungserzählungs-Cluster, die in dauernder Veränderung begriffen sind. Entsprechendes hat die neueste Leipziger Autoritarismusstudie von 2022 gezeigt. Demnach ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch, der an eine Verschwörungsideologie glaubt, auch anderen Gläubigen folgt, sehr hoch. Folglich sind Verschwörungsideologien individualisiert und die einzelnen Erzählungen auch stetem Wandel unterworfen. Meine Kategorisierung ist nur eine Hilfestellung, die fluiden Verschwörungstexte zu fassen.

Warum findest du diese Merkmalsaufzählung problematisch?

Ich komme eher aus der Schule der kritischen Theorie, und finde, dass solche Definitionsversuche nicht falsch, aber ungenügend sind. Wir können zwar Merkmale von Verschwörungsideologien zusammentragen, werden dabei aber immer wieder auf theoretische Probleme stoßen:

Was machen wir zum Beispiel mit Menschen, die wirkliche politische Intrigen und Verschwörungen kritisieren – ist das dann auch Verschwörungsideologie?

Sind politische Ideen, wie zum Beispiel der Marxismus, die den liberalen Status aus einer progressiven Sicht heraus kritisieren, verschwörungsideologisch? Immerhin lehnt Marx ein epistemisches System, die Volkswirtschaftslehre, ab und geht davon aus, dass es gesellschaftliche Kräfte gibt, die unter der Oberfläche unseres Alltags wirken.

Oder, andersherum: Was ist mit Verschwörungstheorien, die ganz offensichtlich etwas Ideologisches haben, aber auf Basis der Wissenschaft argumentieren? Viele Transfeind*innen erklären zum Beispiel, es gebe eine genderistische Verschwörung, Kinder zu manipulieren (das sogenannte ‚Grooming‘), berufen sich dabei aber auf (meist veraltete) Ansätze der Biologie.

Folgen wir der Merkmalsliste von oben, müssten wir dann nicht sagen, dass diese politische Erzählung keine Verschwörungsideologie ist, obwohl sie beinahe eins-zu-eins Motive aus der satanic panic übernimmt, einer Verschwörungspanik aus den 1980ern/90ern Jahren?

Kurz, aus diesen und anderen Gründen sperre ich mich gegen derartiges Merkmalssuchen und gegen rein-empirische Definitionen. Stattdessen schlage ich vor, Verschwörungsideologien als Formen des strukturellen Antisemitismus zu begreifen. Wie auch immer Verschwörungsideologien konkret aussehen, was immer sie erzählen, immer basieren sie letztlich auf einem antisemitischen Weltbild. Der Antisemitismus eint sie.

Zur Person

Sebastian Schuller ist Literaturwissenschaftler und freier Autor. Seit seiner Promotion zum Zusammenhang von Gegenwartskultur und Kapitalismus (Realismus des Kapitals, Fink 2021) befasst sich Schuller mit Verschwörungssubkulturen und aktuellen Formen des Antisemitismus. Ein Teilergebnis seiner Forschungsarbeit wird 2023 im assemblage-Verlag unter dem Titel Die Freiheit, die sie meinen erscheinen. Wer mehr von Sebastian Schuller lesen möchte, kann ihm auf substack folgen und/oder seine Arbeit auf patreon unterstützen.


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Titelbild: Wikipedia https://www.flickr.com/photos/gustavocb/49913440386
A team of doctors, nurses and physiotherapists take care of critical patients with COVID-19 in the ICU of the Vila Nova Cachoeirinha hospital, north of São Paulo

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