Ischgl: Journalismus als patriotische Aufgabe

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By Sebastian Reinfeldt

„Endlich wieder ITB Berlin“, titeln einige Branchenblätter der Tourismus-Industrie. Österreich präsentierte sich dort Anfang März 2023 mit dem Trend-Thema „Energie und Nachhaltigkeit im Tourismus“. Mit dabei in Berlin war auch eine Abordnung des Tourismusverbands Paznaun-Ischgl. „Sie alle nutzten die Fachmesse, um sich mit Geschäftspartner:innen und Medien auszutauschen und am vielfältigen Kongressprogramm teilzunehmen„, heißt es in einem lokalen Medium dazu.

Wenige Tage nach der ITB startet eben jener Tourismusverband eine eigene Image-Kampagne mit der Aussage: Die Vertuschungen rund um die ersten Corona-Infektionen im Paznaun hätten ihnen nicht geschadet, sondern genutzt. Das Business geht weiter.

Das hämische Grinsen bei dieser Aussage in Richtung der 32 Toten, die das Ganze gekostet hat, soll man sich wohl hinzu denken. Faszinierend ist zu beobachten, wie heimische Medien solche nicht belegten Aussagen sekundieren und andere Tatsachen schlicht weglassen. Etwa, dass dass Hotel, für das der Urheber dieser Aussage verantwortlich ist, auf Schadenersatz verklagt wird. Der Vorwurf: Es habe noch am 8. März 2020 wider besseren Wissens behauptet, es gebe kein Corona-Virus in Ischgl. Was zu diesem Zeitpunkt definitiv falsch war.

Aber in Österreich wird Journalismus offenbar als heimat-patriotische Aufgabe verstanden. Unbequeme Fakten lässt man der bunten Story wegen (als „Multimedia-Reportage“ bezeichnet) lieber weg. Eine Intervention von Sebastian Reinfeldt, der die Umstände von Ischgl 2020 recherchiert und darüber ein Buch verfasst hat.


Ischgl: Auf der Tourismusmesse eher versteckt

Die Internationale Tourismusmesse ITB in Berlin hat für Tirol höchste Bedeutung. Sich dort, im größten Markt des Bundeslands, sympathisch und verlockend zu präsentieren, macht vielleicht nicht direkt Buchungen aus. Aber gute Stimmung bei den Drehpunktpersonen, die den Ort nächste Saison eher nach vorne oder hinten reihen, schon.

Sechs Tourismusverbände aus Tirol waren vor Ort. Darunter auch Vertreter*innen aus Ischgl-Paznaun. In der Präsentation Österreichs wird dieser Ort aber eher versteckt. Zum gewählten Leitthema Energie und Nachhaltigkeit trägt die Region mit unverändertem Geschäftsmodell wenig bei.

Keine Schuld

Nicht nur das: Im engen Tal sind die Verantwortlichen offenbar völlig unfähig zur Selbstkritik. Zwar wurde mittlerweile das gesamte Führungspersonal aus der Corona-Zeit ausgetauscht (vom regionalen Tourismusverband über den Tiroler Gesundheitslandesrat bis hinauf zum Tiroler Landeshauptmann). Aber weiterhin gilt: Vor Ort habe man alles richtig gemacht. Die Tiroler Tageszeitung apportiert solche Aussagen und zitiert Alexander von der Thannen, dessen Ischgler Hotel auf Schadensersatz verklagt wird, weil es noch am 8. März wider besseren Wissens behauptet haben soll, dass es kein Virus in Ischgl gebe.

Während des Prozesses leugneten die Hotel-Verantwortlichen sogar, eine ehemalige Beschäftigte des Hotels zu kennen – trotz vorliegendem Dienstvertrag und Fotos von der Bar. All das ist in der Tiroler Tageszeitung nicht zu lesen. Stattdessen zitieren sie den feinen Herrn aus Ischgl mit Worten, in denen er rhetorisch mit Fingern auf andere zeigt:

Wir haben keine Schuld, warum sollen wir Schuld haben? Wir haben uns an alle Vorschriften gehalten. Wenn wer eine falsche Beurteilung der Lage vorgenommen hat, dann waren das unsere Politiker, unsere Virologen, die uns gesagt haben, was wir zu tun haben.

https://longread.tt.com/zurueck-in-ischgl-was-die-gaeste-wollen/index.html

Unverändertes Geschäftsmodell

In Ischgl hat sich genau nichts geändert. Bis auf personelle Konsequenzen will man mit dem Billig-Party-Tourismus, der die Landschaft zerstört und die regionale Kultur ruiniert, weiter tun. So formuliert der Tourismuschef des Ortes weiter in seiner Tiroler Hauspostille:

Der Nutzen der Corona-Berichterstattung war im Nachhinein gesehen aber größer als der Schaden.

Die Tiroler Tageszeitung weiß: Von der Thannen kann das in Zahlen gießen.

Wir haben den Wert untersuchen lassen. Wir hätten über zwei Milliarden aufwenden müssen, wenn wir so oft in den Zeitungen hätten sein wollen. Im Nachhinein ist es egal, dass die Berichterstattung negativ war.“

https://longread.tt.com/zurueck-in-ischgl-was-die-gaeste-wollen/index.html

Sogar den damit verbundenen Zynismus findet das Tiroler Hausblättchen offenbar geil. Ein Beleg für die Aussage bleibt ebenso aus wie ein kritischer Faktenchek. Es ist ja wieder Partytime!

Der erwähnte Artikel auf der Titelseite der New York Times sei als eine Art Auszeichnung zu verstehen. Teil einer Werbekampagne.

In dem Bericht wird übrigens die Geschichte der Hamburgerin Annette Garten erzählt, eines der Opfer der Ischgl-Infektionen. Ihr Mann kam mit Corona ins Krankenhaus und kämpfte mit Spätfolgen.

Auch das erwähnen die patriotischen Tiroler Journalisten besser nicht. Stattdessen formulieren sie diesen infamen Abschlusssatz ihrer „Reportage“:

Zwei Milliarden – das könne sich nicht einmal Ischgl leisten, schmunzelt er.

Die Wahrheit: Vertuschen, Tricksen, Kadavergehorsam

Minutiös lassen sich die Tage vom 3. März 2020, als es den ersten Hinweis auf Corona in einer österreichischen Tourismusregion gab, bis zum Ausrufen der Quarantäne durch Ex-Kanzler Kurz am 13. März 2020 rekonstruieren. Wir haben das in den #ischglfiles getan – anhand interner Dokumente der Landesregierung und des Tourismusverbands Tirol – von Mails bis hin zu Whatsapp-Nachrichten. Sie ergeben zum einen das Bild eines organisatorischen Chaos. Nachvollziehbar und verständlich. Doch wo sind die Lehren daraus? Wo bleiben die organisatorischen Konsequenzen in der Landesverwaltung und im Katastrophenschutz, die unter anderem der Sachverständigenbericht einfordert, den die Tiroler Landesregierung eigens hat erstellen lassen?

Zum anderen offenbaren diese Dokumente eine erschreckende Kultur des Wegsehen, des Verleugnens und einer bürokratischen Fassade, hinter der sich das eigentliche Nicht-Handeln verbirgt.

Wie dabei bewusst die Unwahrheit gesagt wurde, offenbart etwa der Mailverkehr vom 6. März 2020 eindrücklich. Der damalige TVB-Geschäftsführer bekam am Vortag aus Island noch persönlich die Info, dass in Ischgl das Virus umgeht, weil einige Tourist*innen aus Island schon im Ort Symptome zeigten. In mehreren Mails, die er einen Tag später an eine nachfragende Niederländerin sendet, behauptet er das exakte Gegenteil und stellt sich unwissend.

Quelle: #ischglfiles, 6. März 2020

So ist Ischgl.


Unser Titelbild zeigt einen Screenshot der Titelseite Tiroler Tageszeitung vom 14. März 2023.

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