In bester Tradition des Ordoliberalismus zeigt unser Gastautor Christoph Canaval auf, dass der Preis an den Strompreisbörsen kein Marktpreis ist. Weiters argumentiert er, warum Strom und Wasser keine Waren sind, die wir dem Markt überlassen sollten. Schließlich lautet seine Kritik am herrschenden Strompreis-Regime, dass es faktisch zur Kartellbildung führe. Es gehört grundlegend reformiert – nicht nur wegen der Kartell-Exzesse der vergangenen Monate.
Marktwirtschaft in der Theorie
Nach allgemeiner Auffassung ist die Marktwirtschaft einfach definiert: Angebot und Nachfrage ergeben den Preis eines Produktes. Zwei Teilnehmer*innen vereinbaren ein Geschäft. Der von diesen beiden ausgemachte Preis gilt für dieses eine Geschäft zwischen den beiden. Sonst für niemanden.
Die Kosten der Anbieter*innen spielen für die Nachfragenden keine Rolle. Die Anbietenden können und dürfen weit unterhalb der Gestehungskosten anbieten, aber auch weit darüber. Sie tragen das volle unternehmerische Risiko – nämlich dasjenige, auf dem Produkt sitzen zu bleiben, aber auch die Chance, reich zu werden, indem ein sündteures, aber gutes Produkt viele Abnehmer*innen findet.
Kartelle, Wucher oder Geschäftsschädigung
Das letzte Geheimnis der Marktwirtschaft liegt im unternehmerischen Risiko. Das vorletzte Geheimnis der Marktwirtschaft ist die Tatsache, dass sie gegen Manipulationen weitgehend immun ist, denn das Ganze ist ein fairer Handel. Sollte eine*r der beiden Teilnehmenden unter Druck gesetzt werden, so widerspricht das dem Modell und ist verboten.
Spontane Kartelle, Wucher oder Geschäftsschädigung sind aus gutem Grund untersagt.
Für Wasser- und Energieversorgung sind Marktmechanismen ungeeignet
Bei Gütern, die die Menschen nicht unbedingt hier und jetzt brauchen, verhindert der Markt somit letale Preisexzesse. Anders sieht es bei Strom oder Trinkwasser aus. Für deren Verteilung ist ein freier Markt ungeeignet, was man an den monströsen Reglementierungen erkennen kann, mit denen die Politik krampfhaft versucht, das dafür grundsätzlich untaugliche Marktmodell notdürftig zurechtzubiegen.
Im August 2022 verteidigt die Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden ACER das bestehende Strom-Preisfindungsmodell; im Jänner 2023 kündigt die Agentur auf einmal Änderungen an.
Offenbar ist das Preisfindungsmodell suboptimal, und man muss es ändern.
Was nun den Strom-„Markt“ betrifft, so ist festzustellen, dass eine öffentliche Auseinandersetzung darüber in den Medien nur oberflächlich stattfindet. (Die Berichte beschränken sich auf Lamento-Storys über Menschen, die sich das alles nicht mehr leisten können und detailverliebte Reportagen um gerechte oder ungerechte Ausgleichszahlungen der öffentlichen Hand.)
Nur Grenzkosten an den Strombörsen
Es geht aber vielmehr um die Tatsache, dass das von der EU verordnete Modell der Strom-Großhandels-Preisfindung der Idee einer Marktwirtschaft widerspricht.
Erstens werden an den Börsen keine Preise angeboten, sondern Grenzkosten. Es sind Kosten-„Auktionen“. Das Unternehmerrisiko ist für die Masse der Anbieter Null. Auch in der Sowjetunion wurden die Preise nach Kosten festgelegt – mit den bekannten Folgen.
Zweitens sind Kosten, also auch Grenzkosten, keine geschäftlichen Konstanten, denn sie können vom Anbieter durchaus beeinflusst werden. Das Kennzeichen einer Auktion ist aber die Tatsache, dass Preise geboten werden. Das Lied vom Kostendruck ist für die Marktwirtschaft nicht konstitutiv.
Drittens definiert der letzte Strom-Anbieter, den man zur Bedarfsdeckung braucht, den Preis für alle anderen Anbieter auch. Was mit einem Markt nichts mehr zu tun hat.
Ein System, das Manipulation einfach macht
Viertens braucht man keine große kriminelle Fantasie, um die Manipulationsanfälligkeit dieses EU-Modells zu sehen. Die Anbieter kommen in ganz kurzen Abständen zu „Auktionen“ zusammen, das heißt, sie kennen einander und nach einiger Zeit kennen sie auch Kosten, Lieferfähigkeit, Produktqualität und Verlässlichkeit der Konkurrenten. In einer angespannten Situation wie jetzt braucht ein Großanbieter nur zu warten, bis der preissetzende Letztanbieter ein kleines, besonders teuer produzierendes Gaskraftwerk ist. Was dieses Gaskraftwerk an Energie höchstens liefern kann, wissen die „Markt“-Teilnehmer*innen ja auch.
In der nächsten „Auktion“ brauchen also ein, zwei Großanbieter nicht mehr zu tun als einfach geringere Mengen anzubieten.
Dann ist auch das erwähnte Gaskraftwerk zur Bedarfsdeckung nicht mehr ausreichend. Daher kommt ein noch viel Teureres an die Reihe. Mit der angenehmen Konsequenz, dass die Großanbieter wie überhaupt alle „Auktions“-Teilnehmer den noch viel höheren Preis erzielen können.
Noch besser als jedes Anbieter-Kartell
Dieses Verfahren stellt jedes Anbieter-Kartell in den Schatten. Bekanntlich besteht ein Kartell dann, wenn sich mehrere Anbieter*innen auf einen einheitlichen Preis einigen. Sie wollen nicht billiger verkaufen. Dass sie sich zwangsweise immer auf die rein kostenidente Preisvorstellung des teuersten Anbieters einigen, ist da doch eher selten. Immerhin gibt es europaweit Kartellbehörden, die Preisabsprachen generell unterbinden.
Das europaweite Stromkartell hingegen ist von der EU-Kommission verordnet worden und braucht nicht einmal Preis-Absprachen, weil es automatisch funktioniert. Dabei haben wir jetzt noch nicht einmal einen strengen Winter. Sollte der Gaslieferant Russland seine Marktmacht an den kältesten Wintertagen ausspielen, würde er zwangsläufig eine neuerliche Vervielfachung der Strom-Großhandelpreise verursachen.
Ein Dilemma wie bei der Korruption
Bei diesem Preisfindungs-Modell tut sich das bekannte Korruptionsdilemma auf: Indem alle Anbieter profitieren, hat keiner auch nur das geringste Interesse, unfaire oder verbotene Aktionen aufzuzeigen.
Allen funktionierenden richtigen Märkten ist jedoch gemeinsam, dass sie mit wenigen Regeln auskommen. Die Regeln sind einfach, jeder Mensch kann sie verstehen.
Der Strom-„Markt“ jedoch erzeugt „Übergewinne“, die so hoch und vor allem so unbegründet sind, dass der Staat sie abschöpfen wird. Allein die Tatsache, dass „Übergewinne“ entstehen können, beweist deutlich, dass es sich bei dem System jedenfalls nicht um eines der Marktwirtschaft handelt.
Die Regeln des Strom -„Marktes“ gehen allein auf EU-Ebene ins Aschgraue. Zu verstehen sind sie allenfalls von vielsprachigen Juristen mit jahrzehntelanger Stromhandelserfahrung. Dazu kommen noch die nationalen Gesetze und die Landesgesetze. Offensichtlich ist die Regelungswut der öffentlichen Hände für den Preis eines der simpelsten Produkte überhaupt inzwischen über jedes Ziel hinausgeschossen. Verwunderlich, dass sich noch kein Komplexitätsforscher dieser Materie angenommen hat.
(Keine) Meriten für merit order
Immerhin hat die auf die Spitze getriebene verordnete Komplexität ihr Ziel erreicht: Kein Journalist hat die Preisbombe rechtzeitig kommen sehen. Damit niemand auf die Idee kommt, das Preisfindungs-Prinzip für den europäischen Großhandel mit elektrischer Energie für minderintelligent zu halten, hat man es wohlweislich „merit order“ genannt. Der Begriff erinnert an „order of merit“, eine begehrte Verdienstauszeichnung für würdige Mitglieder im Commomwealth of Nations.
Aus der EU hört man zu der unbegründeten, aber verordneten Preisexplosion nichts. Dabei hätte sie alle Möglichkeiten, ganz Europa über die behaupteten Vorteile des Systems zu informieren. Die (teilweise zu) billigen Strompreise der vergangenen Jahre sprechen nicht für das merit order-Modell, sondern zeigen nur die künstlich erzeugte Volatilität in einem „Markt“ auf, der Preisstabilität dringend notwendig hätte.
Mehrfach konnte man lesen: Ohne das merit order-System wäre der Strom in Europa noch teurer, weil etliche Anbieter geringere als die gegenwärtigen Preise nicht akzeptieren würden. Wenn das wahr ist, beweist es, dass wesentliche Versorger nicht an der Versorgung ihrer Abnehmer interessiert sind. Sie würden die Kunden vor die Wahl stellen, astronomische Preise zu zahlen oder eben in Finstern zu sitzen. In Fachkreisen nennt man das ein Angebot, das der Kunde nicht ablehnen kann. Jurist*innen würden von Wucher sprechen.
Die fabrizierte Angst vor dem Blackout
Ausgerechnet zu einer Zeit, in der Großlieferanten elektrischer Energie in Geld gebadet werden, reden Politiker uns immer nachdrücklicher ein: Der Blackout kommt.
Bei vielfach geringeren Strompreisen ist er mindestens zwei Generationen lang nicht gekommen. Der Beweis ist somit erbracht, dass man Staaten jahrzehntelang ohne wochenlangen Totalausfall versorgen kann.
Sollte der Strom tatsächlich wochenlang ausfallen, wäre nicht höhere Gewalt die Ursache, sondern Managementversagen. Denn es wäre die Aufgabe von Vorstandsdirektoren, wenigstens laut Hilfe zu schreien, wenn die Gesetzgeber in Brüssel oder Wien das System ohne Not immer zentralistischer und kollapsanfälliger machen.
Wäre die EU-Verordnung (EU) 2015/1222 ein österreichisches Bundesgesetz, hätte sie große Chancen, wegen Unverständlichkeit und auch wegen Unbestimmtheit aufgehoben zu werden; die durch die exzessiven Großhandelspreise allenfalls existenzbedrohten Stromversorger könnten ihre Lieferanten wegen Wuchers verklagen.
Elektrische Energie ist in unserer Gesellschaft jenes „Produkt“, dessen Preis besonders heikel ist. Er fungiert geradezu als der ideale Inflations-Multiplikator. Die Zeitungen sind voll mit Berichten über exzessive Teuerung bei anderen Produkten (Pellets, Semmeln u. a.), die mit den zumeist grundlos hoch getriebenen Strompreisen begründet werden.
Es wird schwer werden, den Vertreter*innen anderer Unternehmen klarzumachen, die die Menschen mit lebensnotwendigen Gütern oder Dienstleistungen versorgen, dass sie ihre Preise nicht mittels Kartellautomatismus selbständig festlegen dürfen.
Die Konsequenzen liegen auf der Hand:
- Bestrebungen, den Energieverbrauch zu senken, werden über den Haufen geworfen. Leute, die ihre Ölheizung aus gutem Grund durch eine elektrisch betriebene Wärmepumpe ersetzt haben, sind für Energiesparen nicht mehr zu haben. Sie haben erlebt, wie eine teure private Investition in eine weniger umweltschädliche Heizung plötzlich nicht vorhersehbare gewaltige laufende Betriebskosten nach sich zieht.
- Einige Strom-Großhändler werden Konten und Treuhänder in Steuerparadiesen brauchen.
- Die zur Vermeidung von Aufständen notwendigen Ausgleichszahlungen der öffentlichen Hand werden deren Budget so stark belasten, dass man ohne viel fiskalische Phantasie eine Mehrwertsteuer-Erhöhung voraussagen kann.
- Der nächste Politiker, der das Thema als Wahlkampfmunition entdeckt, wird gewinnen – und wenn er Kickl heißt.
- Solange die EU nicht beabsichtigt, ihr Strom-Preisfindungs-System so zu ändern, dass „Übergewinne“ unterbleiben, liegt die Propagierung eines EU-Austritts durch populistische Politiker nahe.
Unsere Titelbild zeigt die Großhandelspreise für Strom von Oktober 2022 bis Januar 2023. Quelle: E-Control.
Über den Autor
Christoph Canaval war 20 Jahre lang Gemeindevertreter in der Gemeinde Anthering bei Salzburg – ursprünglich für eine „Liste für sparsame Verwaltung – Anthering“, dann für die „Grüne Liste für sparsame Verwaltung – Anthering“.
In einem seiner früheren Leben hat er als Journalist in Wien gearbeitet, zuletzt beim Landesstudio Wien des ORF. Das Archiv der Wochenzeitung „Die Furche“ zeigt seine früheren Kommentare im Blatt. Seit 1986 lebt er in Anthering. Darüber berichtet er: „Wo ich für den Haushalt zuständig war und meine Frau ebenfalls als Journalistin für die Ernährung der Familie (zwei längst erwachsene Kinder, zwei Enkel).“
Nach der Jahrtausendwende hat er sich ein kleines Flugzeug gebaut, das seine Frau und ihn schon bis ans Nordkap gebracht hat. In seiner Pension investiert er gerne Zeit in seine thermische Solaranlage, die mittlerweile 40 Prozent der Energie für Heizung und Warmwasser liefert.