Wenn es um die Existenz paralleler Welten geht, dann könnte der heutige Dienstagvormittag als ein Paradebeispiel dafür gelten. Während auf einer Presskonferenz der Initiative Gesundes Österreich der Lungenspezialist Arschang Valipour ein eindringliches Plädoyer für gesunde Luft in Bildungseinrichtungen hielt, spielten uns empörte Eltern Mails aus dem Büro des Wiener Bildungstadtrats Christoph Wiederkehr zu. Ihr Inhalt: Den Wiener Kindergärten ist es untersagt, ein CO₂ Messgerät aufzustellen. Der Grund: Es erzeuge angeblich ein falsches subjektives Sicherheitsgefühl. Die deutliche Mehrzahl der wissenschaftlichen Studien zum Thema belegen allerdings die Wirksamkeit der Kombi aus Messen und Lüften. [Update vom 7.12.2022 zur Antwort aus dem Büro des Bildungsstadtrats]
Eine Recherche von Sebastian Reinfeldt
Nötig: ein Paradigmenwechsel in der Politik
Beim Thema Raumluft stehe ein Paradigmenwechsel an, erläuterte der Vorstand des Karl-Landsteiner Forschungsinstitut für Lungenforschung und Pneumologische Onkologie, Arschang Valipour anlässlich einer Pressekonferenz der zivilgesellschaftlichen Initiative Gesundes Österreich (IGÖ). Dieser Zusammenschluss von Expert*innen und Engagierten meint, dass für politisches Handeln bisher die Belastungsgrenze des Gesundheitssystems maßgeblich war, um zu handeln – nicht erst in der Pandemie. Doch dieser Weg ist gescheitert. Das zeigen nicht zuletzt die Infektionswellen, die gerade durch Schulen und Kindergärten fegen. Sowohl Intensität als auch weite Verbreitung der Infektionen sind menschengemacht und dem Nicht-Handeln der Politik geschuldet, so die IGÖ.
Frische saubere Luft ist für Menschen wichtig – so wie sauberes Wasser
Wissenschaftlicher Standard ist es, dass die Luft, die wir einatmen, unsere Gesundheit bestimmt. So wie das saubere Wasser, das wir in Wien aufgrund der Hochquellleitung trinken. Beim Ausatmen geben wir Viruspartikel frei, die in der Luft schweben und zu Infektionen führen können, wenn sie eingeatmet werden. Je schmutziger die Luft ist, umso mehr Feinstaub und Viruspartikel befinden sich darin. Gesunde, frische Luft in Innenräumen ist eine systematische und vorhersehende Antwort auf die Corona-Pandemie. Eine solche fordern die Initiative und der Lungenexperte von der Politik ein.
Gütesiegel für die Raumluft
Arschang Valipour plädierte noch aus weiteren Gründen für ein Gütesiegel für Raumluft in Schulen und Kindergärten: Die kindliche Lunge ist noch nicht voll entfaltet und daher besonders empfindlich für Luftschadstoffe. Und: Volle Klassenräume mit schlechter Luft sind auch mitverantwortlich für eine schlechte kognitive Leistungsfähigkeit. Bei schlechter Luft spielt und lernt es sich schlecht.
Während der Präsentation lieferte ein portables CO₂-Messgerät stets aktuelle Daten zur Luftgüte im Raum. Die Werte pendelten rund um 770 ppm (Parts per Million). Wobei im Presseclub Concordia alle fünf Minuten das Fenster geöffnet wurde. Spätestens ab 1000 ppm könne man von schlechter Luft sprechen, führte dazu der Ziviltechniker und Lehrergewerkschafter Hannes Grünbichler aus. In der beispielhaften Messung in Klassenräumen einer Wiener Schule (siehe die Grafik oben) lagen die Messwerte fast durchwegs über dieser Grenze.
Der einfache Grundgedanke des IGÖ-Vorschlags lautet: Wenn in allen Innenräumen die Luftqualität durch technische Geräte festgestellt würde, dann könnte dann gelüftet werden, wenn es nötig ist. Das wäre ein einfaches und effektives Mittel, um Infektionswellen vorzubeugen. Die Kosten (180 Euro pro Gerät bei Bestellung großer Stückzahlen) würden rund zehn bis 15 Millionen Euro betragen – flächendeckend, für die Schulen in ganz Österreich.
Praxistest: Kindergärten in Wien
Nicht nur Schulen, sondern auch Kindergärten fungieren derzeit als Virenschleudern. Das ist für alle Kinder und ihre Eltern ein Problem, trifft aber besonders Eltern, die selber Risikopersonen sind oder deren Kinder dies sind. Was in der Stadt Wien konkret zum Schutz der Kinder und der Beschäftigten in der Elementarpädagogik unternommen wird: Händewaschen und freiwillige Tests. Das hilft aber nicht gegen Viren, die via Aerosole über die Luft übertragen werden. Als ein Elternteil bei der Wiener Bildungsdirektion nachfragte, ob darüber hinaus nicht wenigstens CO₂-Messgeräte verwendet werden dürfen, wenn Eltern diese spenden, erhielt sie vom Koordinationsbereich städtische Kindergärten und Horte die folgende Antwort:
Vermitteln Messungen lediglich ein subjektives Sicherheitsgefühl?
Vielen Dank für Ihre Anregungen hinsichtlich der Verbesserung der Luftqualität an den Kindergartenstandorten während der aktuellen pandemischen Lage. Luftfilter oder Luftreinigungsgeräte stellen laut übereinstimmender Expert*innenmeinung jedoch keine Infektionsprophylaxe dar und sind keine nachhaltige Präventionslösung.
Aus der Antwortmail. Sie liegt der Redaktion vor
Im Umluftbetrieb und bei geschlossenen Fenstern steigt der CO₂ Anteil in der Raumluft und die Geräte vermitteln lediglich ein subjektives Sicherheitsgefühl.
Diese Aussagen reagieren im Verlauf der Mails auf die folgende Bitte:
[So] bitte [ich] wenigstens um die Genehmigung, einen Luftreiniger und Messgeräte aufstellen zu dürfen. Das schützt nachweislich. Ich darf davon ausgehen, dass Sie die aktuellen Studien dazu kennen?
Mail an Stadt Wien Kindergärten
Im Falter wird ein Sprecher des Bildungsministers Österreichs zum selben Thema in Schulen zitiert
Derzeit liegt keine aktuelle Studie zur Luftqualität in den Klassenzimmern vor.
https://www.falter.at/morgen/20221206/hohe-raten-fur-strom-und-gas-was-sie-tun-konnen
Erst für das Schuljahr 2023/2024 sei in Österreich eine Studie geplant. Bis dahin werde … beobachtet. Mit welchen Instrumenten auch immer.
Der Gesundheitsexperte Thomas Czypionka kommentierte das auf Twitter mit den Worten: „Eigentlich unfassbar“.
Zum Download: Studie des Mainzer Max Plank Instituts für Chemie vom Februar 2022
Auf der Homepage der Initiative Gesundes Österreich sind 21 Studien verlinkt, die den Zusammenhang von Raumluftqualität und Virenverbreitung behandeln. 21 wissenschaftliche Studien, die im Zeitraum von 2016 bis 2022 erstellt worden sind!
Sehr ausführlich stellt die Untersuchung „Vergleich verschiedener Lüftungsmethoden gegen die Aerosolübertragung von COVID-19 und für erhöhte Luftqualität in Klassenräumen: Fensterlüften, Abluftventilatoren, Raumlufttechnik und Luftreiniger“ von Frank Helleis, Thomas Klimach und Ulrich Pöschl vom Mainzer Max Plank Instituts für Chemie den Stand der Wissenschaft dar. Sie stammt vom Februar 2022.
In der Kurzfassung heißt es dort:
Wir zeigen, dass Fensterlüften ergänzt durch einfache technische Hilfsmittel sehr gut und effizient für die Aufrechterhaltung guter Luftqualität und den Infektionsschutz gegen Aerosolübertragung von SARS-CoV-2 eingesetzt werden kann – auch im Vergleich zu konventionellen raumlufttechnischen Anlagen sowie zu filter- oder UV-strahlungsbasierten Luftreinigern. Besonders wirksam ist eine Verdrängungslüftung (Quelllüftung) mit bodennaher Frischluftzufuhr durch Fenster und verteilter Abluftabsaugung über potentiell infektiösen Personen. Speziell bei warmen Wetterlagen ist Fensterlüften unterstützt durch Ventilatoren deutlich effektiver als freies Fensterlüften. Kohlendioxid-Monitore sollten eingesetzt werden, um die Raumluftqualität zu messen und ein dauerhaftes Überschreiten des CO2-Leitwerts von 1000 ppm zu vermeiden. Im Vergleich zu Luftreinigern sind Lüftungsmethoden mit Frischluftzufuhr effizienter und nachhaltiger; zudem kann ihre Wirkung mittels CO2-Monitor besser kontrolliert werden. Der Einsatz von Luftreinigern erscheint nur dort zweckmäßig, wo ausreichende Frischluftzufuhr nicht möglich ist.