Pflege: zu viel „dry powder“ und zu viel Arbeit

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By Sebastian Reinfeldt

„Es ist dem Menschen nicht möglich, nicht zu handeln“, meint der Arzt Rudi Gabriel zum Auftakt einer Fokuskonferenz zum Thema Pflege und Arbeitswelt. Was der Co-Organisator dieser Konferenz mit seiner Abwandlung eines Zitates von Paul Watzlawik ausdrücken will, gilt besonders für Beschäftigte in Gesundheit und Pflege. Denn ein Nicht-Handeln der politisch Verantwortlichen bedeutet, dass sie die momentane Pflegekrise bis zum Kollaps des Gesundheitssystems verschärfen würden. Ihr Nicht-Handeln wäre also zugleich ein Tun.

Was ist Sache in der Pflege? Was tun? Und wie? Ein Bericht zum Zustand der Pflege in Österreich von Sebastian Reinfeldt.


Ein Personalbedarf von 80.000 Menschen

Die Ökonomin Brigitte Juraszovich von der Republik eigenen Gesundheit Österreich GmbH präsentiert eine nüchterne Zahlen-Tabula Rasa: 2020 wurden in Österreich rund 44 Milliarden Euro öffentliche Gelder für Gesundheit und Soziales ausgegeben. Davon macht als größter Brocken von rund 32 Prozent der Bereich Spitäler, Reha und Kuren aus. 26 Prozent gehen in die ambulante Pflege und acht Prozent in die stationäre Pflege.
Die Aufwendungen für die Pflege machen allerdings ’nur‘ zwei bis drei Prozent des österreichischen Bruttoinlandsprodukts aus. Das ist ein relativ kleiner Anteil, der allerdings in den kommenden Jahren deutlich wachsen muss, wenn das derzeitige Pflege-Niveau nur gehalten werden soll.

Krisensymptom: fehlendes Personal

Das Symptom der Pflegekrise, das auch bei den drei großen Pflegeskandalen der vergangenen Jahre in Niederösterreich und Salzburg als deren Ursache genannt worden ist, lautet stets: Personal fehlt. Die gemeinhin miesen Arbeitsbedingungen führen zudem zu Drop-outs. Über das Ausmaß der Berufsausstiege gibt es bislang keine belastbaren Zahlen. Was wir indes wissen: Alleine die Alterspensionierungen der Beschäftigten in den nächsten Jahren ergeben einen Personalbedarf von rund 32.000 Personen. Dazu kommen durch den demografischen Wandel (erhöhtes Alter und die alternde Boomer-Generation) weitere 45.000 Beschäftige in Zukunft, die nötig wären, um uns auf derzeitigem Niveau zu pflegen. Das wäre ein Personalbedarf von knapp 80.000 Personen in den kommenden Jahren.

Dass dieser Bedarf nicht durch heimische Arbeitskräfte gedeckt werden kann, liegt auf der Hand. Dafür müsste sich in Zukunft in Österreich nämlich pro Jahrgang jede*r Zehnte für einen Pflegeberuf entscheiden. Das scheint nicht realistisch zu sein.

Derzeit ist das Pflegepersonal überwiegend weiblich und es wird in den kommenden Jahren noch migrantisch geprägter werden, als es ohnehin schon ist. Denn nur dadurch könne der Personalbedarf gedeckt werden, erläutert Brigitte Juraszovich.
Zudem soll der Beruf attraktiver werden. Die Regierungspläne in dieser Sache scheinen etwas dünn zu sein: So soll verstärkt für Ausbildung und Beruf rekrutiert werden. Eine umstrittene Pflegelehre haben ÖVP und Grüne ebenfalls eingeführt. Den Drop-out wollen sie reduzieren, aber es ist unklar, wie das geschehen sollte. Effizienzsteigerung des Systems steht auch auf dem Programm, unter anderem durch systemische Koordinierung, multiprofessionelle Teams und mehr Unterstützung mit Technik.

„Ich kann nicht so pflegen, wie ich es gerne machen würde!“

Wenn von den miesen Arbeitsbedingungen in der Pflege geredet wird, dann spielt der Faktor Zeit die entscheidende Rolle, so Heidemarie Staflinger von der Arbeiterkammer Oberösterreich. Das jedenfalls ist das Ergebnis ihrer qualitativen AK Krankenhausstudie von 2019 und der Heimstudie von 2016. Denn die Pflege ist kapitalistisch „taylorisiert“ worden, so heißt es in der Arbeitssoziologie. Das bedeutet: Sie ist in einzelne Pflegehandgriffe zerlegt worden, wobei diese in Minuten-Zeitblöcke und damit in Arbeitszeit aufgeteilt wurden, die auf die Minute hin berechnet werden kann. So stehen laut Aufstellung der Caritas etwa für die tägliche Körperpflege am Morgen 25 Minuten zur Verfügung; das An- und Ausziehen darf morgens 20 Minuten dauern.

Betreuungszeiten in Minuten. Quelle: Caritas Salzburg

Menschlichkeit, Zuwendung und gute Gespräche lassen sich derart nicht bemessen. Sie sind in der Pflege allerdings oft der (unbezahlte, weil nicht quantifizierbare) Hauptaspekt.
Daraus ergibt sich ein unlösbarer Widerspruch, den alle Beschäftigten in der Pflege auf die eine oder andere Weise erleben – und durchleiden.

Arbeiten am Limit

Das Resultat: Sie arbeiten am Limit. Denn das Nicht-Quantifizierte der Care-Arbeit kommt den knapp bemessenen Handgriffen hinzu und bewirkt eine andauernde, strukturelle Überlastung. Jede(r) Vierte der Beschäftigten fühlt sich stark belastet durch Zeitdruck. Das ist im Vergleich mit allen Branchen ein absoluter Top-Wert. 43 Prozent erleben Belastung durch psychisch belastende und aufreibende Arbeit. Daher kann sich nur ein Viertel der Beschäftigten vorstellen, den Beruf bis zur Pensionierung auszuüben.

Pflege ist also physische und psychische Schwerstarbeit, die als solche nicht anerkannt wird.

Die Vorhaben der Regierung, um die Pflege zu „attraktiveren“, wie es heißt, werden an diesem Grundwiderspruch nichts ändern. Auch, weil das Beschlossene der Pflegereform vage bleibt. So soll es 600 Euro monatlich für Personen in der Pflegeausbildung mehr geben. Da die Pflege größtenteils Ländersache ist, fällt das Plus aber je nach Bundesland verschieden aus.

Ferner ist eine Entlastungswoche Pflege geplant. Es gibt bis heute indes noch kein Gesetz.
Für die Arbeit in der Nacht sind eigentlich mehr Ersatzstunden vorgesehen. Aufgrund des Personalmangels ist es den Beschäftigten allerdings nicht möglich, diese zu konsumieren. Wir sehen: Die Maßnahmen drehen sich im Kreis, solange der Personalbedarf in der Pflege nicht ausreichend gedeckt wird.

Das Geschäft mit Pflegeheimen

Pflege ist (auch) ein Geschäft. Die Soziologen Manfred Krenn und Leonard Plank haben sich in ihrem Vortrag mit den Shareholderinteressen in der Pflege beschäftigt. Die wichtigsten privaten Pflegeheimbetreiber in Europa sind der Orpea-Konzern, gefolgt von Korian, DomusVi, Colisee, HC-One und Alloheim. Seit 2017 haben die privaten Gesellschaften ihre Kapazitäten um 22 Prozent gesteigert.

Besonders für Österreich relevant ist der Orpea-Konzern. Denn die österreichische Senecura-Gruppe gehört seit 2015 zur französischen Firma. Wieso fließt eigentlich so viel privates Kapital in einen – aus der Sicht von Investor*innen – ’schwierigen‘ Sektor? Denn Pflegearbeit ist aufgrund ihres „Arbeitsgegenstands“ schwer rationalisierbar.

Die Erklärung der Vortragenden lautet: Es gibt in der Welt derzeit zu viel dry powder. Liquide Geldmittel sind im Überschuss zum Anlegen vorhanden. Außerdem ist die Pflege ein stark wachsender Wirtschaftsbereich, mit vielen kleinen Anbietern, kleinteilig strukturiert. Insgesamt ergeben sich somit günstige Bedingungen für Wachstumsstrategien. Durch den geringen gewerkschaftlichen Organisierungsgrad in der Pflege lassen sich auch kurzfristig gute Geschäfte realisieren, wo die Investor*innen ihre „Investitionsobjekte“, also die Pflegeheime (plus die guten Grundstücke, auf denen sie stehen), nach fünf bis sieben Jahren gewinnbringend verkaufen können. Wo andere Branchen zum Streik gerufen werden könnten, prägen die „care ethics“ das Berufsbild der Beschäftigten: „Um Gottes willen, wer kümmert sich dann um meine Patient*innen?“

Harte Arbeitskämpfe sind mit so einem Zugang zur Arbeit nicht zu organisieren. Statt wirksam zu protestieren, pflegen die Beschäftigten lieber weiter – bis zum eigenen Burn-out.

Wie entstehen die Gewinne privater Pflegekonzerne?

Wie lassen sich mit der Pflege satte Gewinn machen?, fragen sich wohl viele. Die Antwort der Ökonomen Martin Krenn und Leonard Plank ist vielschichtig. Ihre Hauptthese: Durch die Aufteilung der Care-Unternehmen in Betreiber- und Immobiliengesellschaften kann der Konzern verdeckte Gewinne schreiben, etwa durch überhöhte Mieten, die die Immobiliengesellschaft dem Pflegheimbetreiber in Rechnung stellt. Da der Geldfluss im Konzern stattfindet, ergeben sich so insgesamt feine Renditen. Hohe Management-Gehälter und Boni und überteuerte Kredite, die in den Firmennetzwerken der Konzerne vergeben werden, sind zusätzliche Gewinnanreize.

Undurchsichtige Firmengeflechte prägen die Branche

Auffallend ist nämlich, dass die großen europäischen Pflegekonzerne ein undurchsichtiges und komplexes Unternehmensgeflecht mit Umwegen über Steueroasen aufweisen. Als Beispiel führen Krenn und Plank die Dachgesellschaft der heimischen Senecura-Gruppe an. Mehr als 800 Unternehmen befinden sich im Konzernverbund der Muttergesellschaft Orpea. Dabei sind rund 50 Gesellschaften in Luxemburg registriert, obwohl dort kein einziges Alten- und Pflegeheim betrieben wird.

Quelle: Krenn und Plank

Wie der jüngste Pflegeheimskandal in Salzburg (Semiosis berichtet) zeigt, ist staatliche Regulierung und Kontrolle für die Pflegeheimbranche wesentlich. Aber diese ist löchrig und lasch. Zum Beispiel gilt in Salzburg zwar das Gemeinnützigkeitsprinzip als Bedingung der Zulassung, aber die Kontrollen im Skandal-Heim in Salzburg-Lehen waren so schlecht und oberflächlich, dass es der Behörde nicht auffiel, wie eine „Klientin“ (so die Bezeichnung für die zu Pflegenden durch Senecura) mit offenen Wunden und unter starken Schmerzen im Heim vor sich hin vegetierte.
Die Berichte der Volksanwaltschaft, mit denen sie die Ergebnisse ihrer auch unangekündigten Kontrollbesuche zusammenfasst, lesen sich passagenweise wie Szenen aus Horrorfilmen.

24-Stunden Pflege: 92 Prozent der Pflegenden sind Frauen – fast alle mit Migrationshintergrund

Birgit Meinhard-Schiebl von der IG Pflegende Angehörige und Anna Leder von der IG24, die die 24-Stunden Betreuerinnen organisiert und vertritt betonen, dass das österreichische Pflegesystem ohne 24-Stunden-Pflege schon längst zusammengebrochen wäre. 30.000 Pflegebedürftige werden in Österreich betreut. Die Betreuenden sind zu 92 Prozent Frauen, über 98 Prozent von ihnen weisen Migrationshintergrund auf. Rund ein Drittel von ihnen kommt aus Rumänien, ein weiteres Drittel aus der Slowakei. Die Beschäftigten sind in der Regel Pendelmigrantinnen. Das bedeutet, sie leben für eine gewisse Zeit mit ihren Arbeitgeber*innen unter einem Dach und pendeln dann wieder zurück in ihr Herkunftsland. In der Regel arbeiten sie als (Schein-) Selbstständige. Es gibt in dieser Branche kein Mindesthonorar, keinen Kollektivvertrag, keine Vorgaben für einen Pausenraum und nur minimalste Vorgaben für eine Intimsphäre während der Arbeitszeit im Haushalt der zu Pflegenden.

Stundenlöhne von 1,50 Euro pro Stunde

Die Stundenlöhne von Agenturen für Frauen aus der Ukraine beginnen bei 1,50 Euro pro Stunde. Im Schnitt sind es dann zwei bis drei Euro. Während der Betreuungsschlüssel in Pflegeheimen in der Regel eins zu 30 ist, beträgt er in der 24-Stunden-Betreuung eins zu eins. In Österreich sind an die 1000 Agenturen aktiv; von diesen haben nur 40 ein Gütesiegel, mit dem die frühere Sozialministerin Beate Hartinger-Klein einst die Branche regulieren wollte. Das war, erkennbar, ein untauglicher Versuch. Es gibt kein Gemeinnützigkeitsprinzip. Die großen gemeinnützigen Pflegeorganisationen Caritas, Diakonie und Volkshilfe bieten ebenfalls so eine Betreuungsform an.

Die 24-Stunden-Kräfte sind keine professionellen Pflegenden, sondern es handelt sich um Laienpflegerinnen. Sie sollten zumindest eine Heimhilfenausbildung im Heimatland erhalten haben bzw. zumindest ein entsprechendes Zertifikat vorweisen können. Ihre Pflegehandlungen sollten von diplomierter Pfleger*innen angeleitet werden. Aus der Praxis berichtet Anna Leder aber, dass sowohl Unterstützung als auch Einschulung und Beratung nicht funktionieren.

Die pflegenden Angehörigen hingegen leisten dauerhaft unbezahlte Arbeit.

In einem katholischen Land scheint es normal zu sein, die Älteren in einer Familie zu pflegen. Auch diese unbezahlte Arbeit, die oft über Jahre hinweg dauert, verrichten in der Regel Frauen.

Die Verantwortlichen des derzeitigen Pflegesystems rechnen fest mit ihnen.


Zum Weiterlesen

Klatschen ist zu wenig: Pflege ist Schwer(st)arbeit (Semiosis, 12. November 2022)

Der Pflegeheimskandal in Salzburg ist auch ein Pflegeaufsichtsskandal (Semiosis, 4. Oktober 2022)

2 Gedanken zu „Pflege: zu viel „dry powder“ und zu viel Arbeit“

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