Abwassermonitoring, Virusvariantenscreening, Sentinelsystem – so lauten derzeit die Covid-19-Schlagworte.
Wer kennt sich dabei aus? Im Grunde genommen geht es um eine einfache Sache: Wir sollten wissen, welche Virusvarianten im Sommer und im Herbst in Österreich umgehen werden. Denn es ist wichtig, abzuschätzen, wann eine weitere Covid-19-Welle droht. Außerdem wäre es gut, wenn wir den Variantentyp, seine Gefährlichkeit und das mögliche Ausmaß von Infektionen einordnen könnten.
Sebastian Reinfeldt hat recherchiert, wie die Behörden in Österreich dabei vorgehen wollen. Spoiler: Sie streiten noch. [Update 2.6.2022: Was mittlerweile als Plan dabei durchscheint, sieht mehr nach Verschleierung als nach transparenter Information aus. In den Protokollen der Coronakommission wird nämlich vermerkt, dass es aktuell kein funktionierendes Überwachungssystem in Österreich gibt.]
Ein Wochenend-Battle der Pressesprecher
Mario Dujakovic, seines Zeichens Pressesprecher des Wiener Gesundheitsstadtrats Peter Hacker, hat wegen seiner Tweets wohl einige böse Anrufe bekommen. Am Wochenende hatte er sich darüber beschwert, dass der Bund die Finanzierung des Virusvarianten-Monitorings einstellen würde. Und er berichtet von Plänen, das Abwassermonitoring zu reduzieren.
Daraufhin entbrannte eine heftige Diskussion unter Pressesprechern.
Sorry Daniel, ich lasse mich nur ungern Lügner nennen
Da der Pressesprecher des Gesundheitsministers am Wochenende ebenfalls auf Twitter war, reagierte er prompt, indem er alles bestritt.
Das stimmt nicht.
Woraufhin Dujakovic meinte, er würde ungern ein Lügner genannt werden.
Was genau Sache sein wird, blieb in der Diskussion leider unklar.
Also haben wir im Ministerium nachgefragt. Dort müssen sie Auskunft darüber geben, was sie planen, denn es besteht ein öffentliches Interesse an den Vorhaben der Regierung.
Im Hintergrund: Parteipolitik und Bund-Länder Gerangel
Einen Sachverhalt wie diesen aufzuklären, ist in Österreich deshalb so schwer, weil jedes Thema parteipolitisch eingefärbt wird und weil das Kompetenzwirrwarr zwischen Bundesverwaltung und Länderbehörden es ermöglicht, munter Verantwortungen hin- und herzuschieben. Wien ist gleich SPÖ, das Gesundheitsministerium ist grün, die Länder mehrheitlich schwarz. Alles klar?
Dazwischen gibt es noch türkise Einsprengsel im Bund inmitten von Lobbyverbänden wie dem Handelsverband, der Wirtschaftskammer, den Touristikern und den Gewerkschaften, die jeweils ebenso parteipolitisch dominiert werden. Aus dieser Gemengelage heraus entsteht unsere Pandemiepolitik, da die Rolle des Gesundheitsministers von Anschober bis Rauch deutlich eingegrenzt worden ist. Daher hat Pandemiepolitik derzeit mit Gesundheitsschutz in der Regel wenig zu tun.
Denn die Schutzbedürftigen haben in diesem Konzert schlicht keine Stimme.
Daher kommt auch die Vermutung auf, dass Änderungen bei der Überwachung der Infektionen kurz vor Beginn der wirtschaftlich wichtigen Urlaubssaison auf das Konto der mächtigen Touristiker und des Handels geht. Haben sie Wünsche nach möglichst niedrigen Zahlen angemeldet?
Alles Sentinel, oder was?
Der Plan für die amtliche Infektionsüberwachung, den uns Ministeriums-Pressesprecher Daniel Böhm schließlich telefonisch und schriftlich erläuterte, sieht vor, dass das (wie er meint) eher unsystematische Suchen nach Virusvarianten in Laboren aufgrund positiver PCR-Tests eingestellt werde. An seine Stelle sollen repräsentativ ausgewählte „Sentinel-Labore“ (= Wächter-Labore) treten, in denen systematisch nach Virusvarianten gesucht würde. Im O-Ton:
Bei der Sentinel-Analyse werden, über ganz Österreich verteilt, eine gewisse Anzahl von positiven Proben von Laboratorien bereitgestellt, die genauestens analysiert und ausgewertet werden. So kann ein repräsentativer Überblick über das Varianten-Geschehen im ganzen Land geboten werden.
Gesundheitsministerium auf Semiosis-Nachfrage
Das Ministerium behauptet in diesem Zusammenhang, dass es in den vergangenen Wochen zu viel falsch gemeldete Ergebnisse über Omikron-Varianten gegeben habe. Daher werde diese Änderung zum jetzigen Zeitpunkt vorgenommen.
Repräsentative Abwässer von nur 52 Prozent der Bevölkerung?
Ähnlich geht man auch beim Abwassermonitoring vor. In den Ausscheidungen der Menschen in Österreich finden sich neben allerhand Bakterien und Viren auch Spuren der Covid-19-Varianten, die gerade umgehen. Um diese zu detektieren, fährt das Ministerium ein Programm:
Im Programm sind die 24 größten Kläranlagen Österreichs inkludiert. Damit wird eine Bevölkerungsabdeckung von rund 52% erreicht. Dieser Monitoringumfang reicht aus, um die Vorgaben der EU zu erfüllen und somit ein für Österreich repräsentatives Lagebild zu erstellen.
Gesundheitsministerium auf Semiosis-Nachfrage
Eingestellt würde lediglich das Abwasser-Monitoring des Bildungsministeriums und nicht das gesamte Programm.
Von dem Bildungsministeriumsmonitoring weiß indes kaum jemand, wozu dessen Daten gedient haben. Denn die Pandemiebekämpfung in den Schulen hatte den fortzusetzenden Präsenzunterricht als Dogma. Infektionsdaten störten entweder oder waren völlig irrelevant. Da man im Ministerium davon ausgeht, dass Kinder und Jugendliche eh nur leicht erkranken, nahm man bei ihnen ein paar Durchseuchungskrankentage in Kauf.
Risikokinder und das Lehrpersonal spielten in den Überlegungen eine untergeordnete Rolle.
Reicht das als Schutz aus?
Wer derzeit bei den Covid-19- Expert*innen in Österreich zum Thema nachfragt, hört Klagen über zu viel Medienarbeit. Sorry fürs Fragen, aber das ist unser Job.
Und dass sich kaum wer mehr ein eigenes Urteil über den Sinn von Pandemiebekämpfung zutraut, ist halt auch Ergebnis der (beabsichtigten) Pandemieverwirrung. Auf Twitter meint Molekularbiologe Ulrich Elling jedenfalls, man könne das schon so machen, wie das Ministerium plant. Da andere Länder das Monitoring noch massiver runterfahren würden, sei Österreich eh moderat.
Alle Staaten fahren das Monitoring gerade massiv runter. Auch absolute Infektionszahlen sind immer unklarer, da Leute nicht mehr immer PCR testen. Die Surveillance [die Überwachung – SR] war aber noch nie so systematisch über alle Bundesländer verteilt [wie] jetzt.
Elling auf Twitter
Auf den Einwand, dass das Abwassermonitoring zu lange (bis zu drei Wochen) dauern würde, führt Elling aus:
Zeitverzögerung ist suboptimal und sollte sich weiter verbessern, aber da die Verdrängung von BA.2 durch BA.4/5 viele Wochen braucht, kann man damit umgehen. Ich sehe es nicht so negativ, wie
Elling auf Twitter
@mariodujakovic
Ist aber wieder mal ein Bund-Länderthema …
Ein Blick ins Abwassermonitoring
Also schauen wir mal ins aktuelle Abwassermonitoring. Das Dashboard dazu können wir mit dem Link
https://corona.hydro-it.com/dashboard/
aufrufen. Dort sehen wir die „personengewichteten Verläufe der Bundesländer“, die im Abwasser gefunden wurden. Außerdem eine Tabelle mit einem Überblick der Kläranlagen, die bei dem Programm mitmachen. Mehr nicht.
Besonders informativ sind diese Kurven nicht. Wir können erkennen, dass das Bundesland Oberösterreich bei den personengewichteten Verläufen gerade herausragt. Unterschiedliche Covid-19-Varianten sind nicht verzeichnet. Nur Bundesländer.
Eine weitere Tabelle zeigt uns die Zahl der Kläranlagen und die Risikoeinstufungen aufgrund der Messergebnisse, ohne dass weitere Details zu erkennen wären. Schulauswertungen sind derzeit noch einbezogen. 60 Kläranlagen in der Nähe von Schulen von 120 insgesamt sind doch eine ganze Menge Messtellen, die man sich in Zukunft wohl sparen will. Zur Erinnerung: Geplant sind nurmehr 24 repräsentativ ausgewählte Kläranlagen, deren Abwässer dann untersucht werden.
Hoffentlich mit aussagekräftigen Ergebnissen.
Denn die Informationen hier verbergen mehr, als sie zeigen.
Update 2. Juni 2022: Außerhalb Wiens gibt es zu wenig Proben für eine sinnvolle Überwachung
Unsere Recherchen über die Pläne der Regierung weiterführend, haben wir im Protokoll der Corona-Kommission vom 19. Mai 2022 nachgelesen. Es offenbart Erschreckendes. Weil man in den meisten Bundesländern der Atempausen-Propaganda verfällt, gibt es zu wenig Fall-Proben, um sinnvoll überwachen zu können. Daher ist die „Mindestentdeckungsschwelle“ angehoben worden. Heißt: Es wird später Alarm gegeben als es eigentlich sinnvoll wäre.
Insgesamt resümiert der Wiener Vertreter Dr. Michael Binder am 19. Mai 2022, dass
das System derzeit nicht repräsentativ und dass eine zeitnahe Surveillance [Überwachung] nicht gewährleistet sei.
Am 2. Juni findet die nächste Sitzung statt.