Sich keine Geschichten zu erzählen. Das hält der französische marxistische Philosoph Louis Althusser als wichtigstes Prinzip des Materialismus fest. Obwohl diese Formel gänzlich ungeeignet zu sein scheint für eine Reportage über die Kommunistische Partei in Österreich, möchte ich sie dennoch als ein Leitmotiv einsetzen. Es ist nämlich paradox: Die Kommunist*innen von heute erzählen Geschichten. Die Grazer darüber, wie sie wurden, was sie sind. Und der kommunistische Gemeinderat Kai-Michael Dangl, wie er in Salzburg Wahlkampf in Wohngebieten gemacht hat, in die sich zuvor keine Politiker*innen getraut haben.
Es sind halt Geschichten aus dem wirklichen Leben, an dem sie aktiv teilnehmen. Geschichten, die auf eine große Sehnsucht treffen könnten, nämlich nach guter, ehrlicher Politik, bei der es die revolutionärste Tat bleibt, zu sagen, was ist. Von Sebastian Reinfeldt
Über den Wechsel
Mittwoch, 6. Oktober 2021. Am Vormittag steuere ich meinen roten Suzuki Swift über das Wechselgebirge Richtung Graz. Auf der Autobahn ist wenig los. So gleiten wir entspannt durch die Kurven und über die Buckel. Neben mir fingert Werner Reisinger, der für die deutsche Zeitung Augsburger Allgemeine schreiben wird, an seinem Handy herum. Bewusst einige Tage nach dem Medienhype über den sensationellen Wahlerfolg der KPÖ fahren wir in die zweitgrößte Stadt Österreichs. Mittags haben wir dort Interviewtermine. Danach wollen wir uns in der Stadt umhören. Das Thema: Wie ist das Wahlergebnis der KPÖ zu erklären?
Dann kam die politische Krise in Wien
Plötzlich tickern die ersten Meldungen über Twitter herein. HD im Bundeskanzleramt, heißt es. HD, das ist die Abkürzung für Hausdurchsuchung. Nicht nur am Ballhausplatz, sondern auch im Finanzministerium und in der Parteizentrale der ÖVP nehmen – im Auftrag der Wirtschafts- und Korruptionsanwaltschaft WKStA – Polizist*innen Dokumente und elektronische Geräte mit. Nach Sichtung der ersten Infos ist absehbar, dass dieser Tag nach der Veröffentlichung des Ibiza-Videos ein weiteres historisches Datum in der Geschichte der österreichischen Innenpolitik werden wird. Was tun? Sollen wir umdrehen? Die Genossinnen in Graz hätten dafür sicherlich Verständnis.
Wir entscheiden uns dagegen. Die Nachrichtenlage ist noch unübersichtlich und wird sich erst im Laufe der nächsten Tage aufklären. Und so tauchen wir hinter dem Wechsel ein in eine Welt, die so ganz anders wirkt als die skandalumwitterte Politik der regierenden ÖVP in Österreich.
Vom Gebrauchswert einer kommunistischen Partei
Es ist wichtig, einen Gebrauchswert für die Menschen zu haben. Das ist uns gelungen mit der Frage des Wohnens. Da zeigt sich auch, dass wir Internationalisten sind. Anfang der 1990er Jahre hatten wir eine Delegation der Kommunistischen Partei Frankreichs aus Lille bei uns gehabt.
So berichtet Franz Stephan Parteder. Er ist der Konzeptionierer des Grazer Wegs und agiert üblicherweise im Hintergrund. Im Vordergrund steht seine Lebensgefährtin und nun Grazer Bürgermeisterin Elke Kahr. In einem schmucklosen Bürozimmer im Grazer Volkshaus (das viel weitläufiger ist als gedacht) sitzen wir mit ihm und mit dem frisch gewählten KPÖ-Gemeinderat Max Zirngast zusammen. Parteder wählt seine Worte mit Bedacht, während er den Weg der Grazer KPÖ zu den fast 29 Prozent am Wahlabend 2021 nachzeichnet.
Das téléphone d’urgence
Die Leute aus Lille haben geschildert, was sie damals gegen Delogierung getan haben. Wenn sie von einer bevorstehenden Delogierung erfahren haben, sind die Bürgermeister und Mandatare mit Schärpe zu den Wohnungen gegangen und haben so verhindert, dass die Menschen vor die Tür gesetzt werden. Dafür hatten sie ein téléphone d’urgence eingerichtet, ein Notruftelefon.
Der Ernst [gemeint ist Ernst Kaltenegger] und ich waren mit dieser Delegation unterwegs. Und da haben wir uns gedacht: Das wäre doch auch was für Graz. Aber die Österreicher sind keine Franzosen. Also, das muss man anders machen. So ist die Idee des Mieternotrufs geboren worden. Das ist eine Telefonnummer, die in ganz Graz plakatiert wurde.“
Mieternotruf 7124 79 – KPÖ. So lautete die Nummer anfangs. Nun ist es die 0316 71 71 08.
Während wir reden, liegen vor Max Zirngast zwei tragbare Telefon-Festnetzgeräte am Tisch. Der österreichische Journalist, der monatelang aufgrund falscher Verdächtigungen in der Türkei im Gefängnis eingesperrt war, ist über die KPÖ-Liste in den Gemeinderat gewählt worden. Zur Zeit des Interviews betreut er für die Partei diesen Mieternotruf und das Parteitelefon, da Elke Kahr mit Koalitionsverhandlungen beschäftigt war. Sie wird Grazer Bürgermeisterin werden.
Das Telefon klingelt andauernd
Während wir reden, läutet das Mieternotruftelefon viermal. Jedes Mal rast Zirngast mit einer Karteikarte und einem Stift in der Hand aus dem Zimmer in den Nebenraum. Dort notiert er genau, worum es geht. Jeder Anruf ist gleich wichtig und wird gleichrangig beachtet.
So geht das jeden Tag,
berichtet er. Sogar den Anruf der verzweifelten Frau aus Oberösterreich, die wegen eines persönlichen Schicksalsschlags nicht mehr weiter weiß, nimmt er ernst. Sie hatte sich die Grazer Nummer organisiert. Denn in den Zeitungen steht, dass die Grazer Kommunist*innen sich um die Probleme der normalen Leute kümmern. Also hat sie es versucht.
Vorschläge zur Verbesserung
Kommunistische Caritas, so haben konservative und liberale Medien nach dem Wahlerfolg der KPÖ geätzt. So etwa die Wiener Zeitung oder Die Presse.
Unsere konkrete Hilfe war und ist aber immer verbunden mit Vorschlägen zu Verbesserungen und sie gehen einher mit Initiativen der Bevölkerung,
kommentiert Parteder solche Schlagzeilen.
So haben wir nicht nur die Telefonnummer eingerichtet, sondern zugleich eine Deckelung der Wohnungsausgaben auf ein Drittel des Familieneinkommens gefordert. Zuerst in einem Antrag im Gemeinderat. Der wurde abgelehnt. Dann haben wir vor jeder Gemeinderatssitzung dort symbolisch eine Mauer aufgebaut.
Und die anderen haben gemauert
Sie mauern gegen eine sinnvolle Sozialleistung, lautete der Slogan dieser beispielhaften Aktion. Sie wurde so lange wiederholt, bis der Grazer Gemeinderat den entsprechenden Antrag der Kommunist*innen einstimmig angenommen hatte. Ob die KPÖ also nicht einfach eine bessere Sozialdemokratie sei, haken wir nach.
Ja und Nein, das Soziale ist bei uns schon besser aufgehoben. Aber wir fragen niemals, wo die Leute herkommen und was sie denken. Bei der SPÖ war das ja oft so, dass eine Wohnungsvergabe mit Parteibuchwirtschaft verbunden war. Das lehnen wir strikt ab.
Außerdem habe die Sozialdemokratie ihren Frieden mit der bestehenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung gemacht. Die freilich wollen die Kommunist*innen immer noch überwinden.
Parlamentarische Initiativen immer auf soziale Bewegungen in der Stadt beziehen
Weitere Beispiele für die vorab durchdachten politischen Initiativen der KPÖ fädelt Parteder wie eine Perlenkette auf. Und die wird lang. Der verbindende Faden ist, dass sie ihre parlamentarischen Initiativen immer auf soziale Bewegungen in der Stadt beziehen. Dabei schreiben sie den Leuten nichts vor, sondern sie stehen schlicht für ihre Themen ein. Sie bleiben bescheiden, erheben keinen Führungsanspruch und verzichten auf einen großen Teil ihres Gehaltes, um mit diesem ersparten Geld Menschen in Not konkret helfen zu können. So baut sich mit der Zeit ein Vertrauen auf. Entsprechend haben sie auch die Koalitionsverhandlungen mit SPÖ und Grünen geführt. Vertrauen aufgebaut und die Gegenüber ernst genommen.
Vertrauen, so lautet das Zauberwort
Die Menschen in Graz vertrauen, dass die Kommunist*innen mit der ihnen anvertrauten Macht und mit diesem Geld sorgsam umgehen. Und es für die Leute einsetzen, die es wirklich brauchen.
Das ist insgesamt ein durchdachter Gegenentwurf zur großen Politik auf der anderen Seite des Wechsels im Bund in Wien. Es braucht dafür keine geschliffene Rhetorik von drei NLP-Stehsätzen von Regierungsvertreter*innen, um zu überzeugen. Die Kommunist*innen sprechen ganz normal und verständlich. Und sie leben das vor, was sie politisch einfordern. Simple as that.
Die Vision der freien und gerechten Gesellschaft kann nicht mehr in Form sowjetischer Staatsapparate leben. Sie wird nur im täglichen politischen Handeln sichtbar.
Wir sind eine Partei mit einer Weltanschauung, das ist klar und das wirft man uns auf der einen Seite vor. Auf der anderen Seite wirft man uns ‚Sozialarbeit’ vor und sagt, wir sind eine Caritas. Da frag ich mich: Also was jetzt?“
So wird Elke Kahr in der Augsburger Allgemeinen zitiert, noch bevor sie zur Bürgermeisterin gewählt wurde.
Von Graz nach Wien nach Salzburg
Szenenwechsel nach Oberösterreich. Wie jedes Jahr trifft sich das oberösterreichische Netzwerk gegen Rassismus und Rechtsextremismus im Herbst auf Schloß Puchberg in Wels in großer Runde. Der Vorsitzende, Robert Eiter, ist ein gestandener Sozialdemokrat. Elisabeth Riener, die Finanzreferentin des Netzwerks, kommt aus der Katholischen Jugend. Zwischen den gut gefühlten Stuhlreihen geht Sabine Schatz, Nationalratsabgeordnete der SPÖ und Erinnerungskultur-Sprecherin der Partei im Nationalrat herum. Sie begrüßt viele von denen, die bereits sitzen. Aber auch ÖVPler nehmen an der Veranstaltung teil. Unter ihnen ein Alt-Bürgermeister aus einer oberösterreichischen Gemeinde, der vor Ort Gedenksteine für NS-Opfer seines Ortes hat aufstellen lassen. Unter ihnen: eine Sinti-und Romafamilie und ein Kommunist. Sie waren Bürger dieses Ortes im Hausruck. Bis die Nazis kamen.
Die Atmosphäre in Puchberg ist freundschaftlich, ein Hauch von Lager-Konsens weht durch den Saal: Einig sind sich alle, dass sich die Verbrechen der Nazis nie mehr wiederholen dürfen.
Auch Antifaschismus ist eine Frage des Vertrauens
Antifaschismus in der politischen Arbeit vor Ort ist immer auch eine Frage des Vertrauens. Dass man versucht, Vertrauen zu gewinnen bei Menschen. Vertrauen in die Vision, dass es um Solidarität gehen kann und nicht um ein Gegeneinander, sei es beim Kampf um knappen Wohnraum, wo sich dann die Menschen um Brösel streiten sollen oder bei anderen Themen. Dass die Leute nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden können, ist wichtig.
Der hier zu den Teilnehmerinnen von Vertrauen als der zentralen Kategorie antifaschistischer Politik spricht, ist ebenso ein Kommunist. Er wirkt allerdings nicht in Graz, sondern in Salzburg: Kay-Michael Dankl. Dort sitzt er im Gemeinderat für einen Zusammenschluss, der sich KPÖplus nennt und die sich in ihrer Arbeit vor Ort an das Grazer Vorbild anlehnt. Im Semiosis-Gespräch berichtet Dankl zum Beispiel, wie die Aktivist*innen in den letzten Wahlkampfwochen bewusst in ein Salzburger Stadtviertel gegangen sind, das die anderen Parteien schon abgeschrieben und im Wahlkampf gemieden haben.
Es ist eine ähnliche Geschichte wie die aus Graz. Umgelegt und adaptiert auf die Salzburger Verhältnisse. Über diese zu berichten, wäre eine andere Geschichte.
Kahr: Von der Arbeitertocher zum Bürgermeisteramt
Zurück nach Graz. Am 17. November 2021 wählt der Grazer Gemeinderat die Kommunistin Elke Kahr zur Grazer Bürgermeisterin.
Jetzt ist das interessant, um uns schlechtzureden. Aber die Menschen haben sich ihr Bild von der KPÖ gemacht, und da unterschätzen diese Leute die Klugheit der Bevölkerung.
So wird Elke Kahr vorher in der Augsburger Allgemeinen zitiert. In seiner Begründung zum Wahlvorschlag von Elke Kahr als Grazer Bürgermeisterin erzählt KPÖ-Mandatar und Gesundheitslandesrat Robert Krotzer wiederum eine Geschichte. Nämlich die Lebensgeschichte der Arbeitertochter Elke Kahr, wie sie beharrlich ihren Weg ins höchste Amt der Stadt gegangen ist.
Das Framing der ÖVP zur Grazer Koalition aus KPÖ, Grüne und SPÖ im Grazer Gemeinderat lautet, es handle sich um eine links-linke Verbindung. Mit allen dazu passenden, Ideologie getriebenen Schlagworten.
Im Vorfeld der Koalitionsverhandlungen hat sich die KPÖ die Mühe gemacht, 30 öffentlich gestellte Fragen öffentlich zu beantworten. Die Fragen kamen von Seiten der ÖVP. Mit ihnen greift sie ausschließlich die Ideologie der KPÖ an. Ein anderes Thema hat sie nicht.
Die Antworten der Grazer Kommunist*innen sind bemerkenswert.
30 KPÖ-Antworten auf 30 Fragen
Sehr geehrter Herr Stadtrat Hohensinner, lieber Kurt,
wie auch allen BürgerInnen der Stadt beantworten wir Ihnen die Fragen, die Sie uns gestellt haben. Ausdrücklich möchten wir jedoch festhalten, dass der Wahlkampf zu Ende ist und Unterton, Unterstellungen und Untergriffe, die in manchen Fragen mitschwingen, irritieren.
Dennoch antworten sie. Zum gesamten Text.
Wir dürfen auf keinen vergessen
In ihrer Rede nach der Wahl zur Bürgermeisterin betont Elke Kahr, dass die neue Stadtregierung für alle da sein will. Auch für diejenigen, die es sich im Leben nicht richten können.
Dass so jemand wie die Kahr Bürgermeisterin der zweitgrößten Stadt Österreichs werden konnte, war angesichts ihres Lebenslaufs sehr unwahrscheinlich. Richten konnte sie es tatsächlich nicht. Daher will sie sich den Blick von unten auf die Geschehnisse der Stadt behalten, kündigt sie an. Ihre Sprechstunden wird sie also weiter abhalten – so wie seit Jahrzehnten.
Louis Althusser war nicht nur ein marxistischer Philosoph sondern auch öfter wegen seiner Geisteskrankheit im Spital. 1980 brachte er seine Ehefrau um und wurde wieder im Spital interniert.
Das alles hat natürlich nichts mit der Grazer Bürgermeisterin zu tun.
Roger Garaudy, ein anderer marxistischer Denker aus Frankreich wurde notorischer Holocaustleugner. 🙂
Schade, dass du meinen Text nicht gelesen hast.
TestkommentarWas ich immer schon sagen wollte: Semiosis ist cool.
Danke für den Text!