Am 29. April 2021 empfängt Landeshauptmann Günther Platter in seinem Büro spezielle Gäste: Staatsanwältin Christine Knapp-Brucker und Staatsanwalt Markus Grüner kommen persönlich ins Büro des Landeshauptmanns, um diesen als Zeugen zu vernehmen. Sie führen die Strafermittlungen in Sachen Ischgl. Das Gespräch mit Platter beginnt um 9 Uhr und endete um 10:25 Uhr. Es wird eine eigenartige Zeugenaussage werden. Denn statt einfach nur Sachverhalte zu schildern, verteidigt Platter sich und die Verantwortlichen in Tirol. Immerhin sei in Tirol vor dem 13. März alles „sehr schneidig“ gelaufen, meint er. Nachdem das Protokoll der Vernehmung mit Zitaten im profil wiedergegeben wurde, fühlt sich Platter nun falsch verstanden: In keinster Weise fand von LH Platter eine Belastung des Bundeskanzlers in der Causa Ischgl statt. Diese Interpretation ist falsch und nicht zulässig, meint er laut ORF. Wir veröffentlichen nun die relevanten Auszüge aus dem Protokoll im O-Ton. Bilden Sie sich dazu Ihre eigene Meinung.
Ärger in der Familie? Die Sache mit den Überschriften
Dass die Aussage brisant ist, zeigt die Sache mit den Überschriften auf orf.at: „Profil“: Platter belastet in Causa Ischgl Kurz, so konnte man am 2. August abends auf www.orf.at nachlesen. Es geht um Ischgl. Die Zeitschrift profil zitiert aus dem Protokoll der Zeugenvernehmung Platters. Eine Überschrift wie diese ist nicht nur eine pointierte Wiedergabe des folgenden Textinhalts. Sie framt das Geschriebene, so sagt die Kommunikationstheorie. Das bedeutet: Durch die Überschrift legen die Lesenden ein Deutungsmuster über den Text, das dann die Lektüre der Sätze und Zusammenhänge steuert.
Nach der ersten Version der Überschrift beschuldigt Platter also den österreichischen Bundeskanzler, nicht ausreichend informiert zu haben, ab wann die Quarantäne im Paznaun am 13. März 2020 gelten sollte. In der zweiten Version, die nur 33 Minuten später online ging, heißt es lapidar: Causa Ischgl: Platter laut „profil“ von Isolation überrascht. Nun wird niemand mehr belastet. Gab es da beim ORF etwa eine Framing-Intervention aus Innsbruck oder aus Wien?
Der weiße Elefant in Platters Büro
Rechtlich gesehen sind weder Landeshauptmann Platter noch Kanzler Kurz Beschuldigte. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen fünf Personen, unter anderem gegen den Chef des Amtes der Tiroler Landesregierung und den direkten Untergebenen des Landeshauptmanns, Herbert Forster. Der Vorwurf: Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten. Neben der strafrechtlichen Würdigung steht die Frage der politischen Verantwortung im Raum. Sie ist der weiße Elefant in Platters Büro an diesem Morgen, über den der Landeshauptmann nicht sprechen möchte, es aber dennoch permanent tut.
Platter: Tirol war in der Pandemie ’sehr schneidig‘ unterwegs
Zur Erinnerung: Am 3. März 2020 erreicht das Gesundheitsministerium in Wien die erste offizielle Corona-Warnung der Gesundheitsbehörden in Island. Niemand fragt nach. Am 4. März konkretisierte sie sich in Richtung Tirol, Ischgl. Der Umgang der österreichischen Behörden mit diesen frühen Informationen war schleppend. Die Maßnahmen vor Ort blieben aus, da die Landesregierung zuerst nichts davon wissen wollte, dass es in Ischgl zu Infektionen gekommen sei. Das ist anhand von Auszügen aus Originaldokumenten in den #ischglfiles auf Semiosis nachlesbar. Dort stellen wir Mails und Dokumente für jeden Tag bis zum 13. März 2020 online. Haben die Verantwortlichen in Tirol also zu spät reagiert? Nein, meint Platter.
Wenn ich gefragt werde, insbesondere dazu, wenn im Bericht von Dr. ROHRER festgehalten wird, dass ein Saisonende auch früher angedacht hätte werden können, so gebe ich an, dass das eigentlich überhaupt nicht in meinem Fokus war. Ich war damals einfach der Ansicht, dass wir eigentlich ’sehr schneidig‘ am Weg waren. Ich habe eigentlich immer gedacht, wir werden Probleme bekommen, weil wir Maßnahmen zu früh gesetzt hätten. In diesem Zusammenhang muss man sich ja auch das Infektionsgeschehen von damals vor Augen halten. Deshalb war ich und bin ich auch heute noch der Meinung, dass wir bezüglich der Maßnahmensetzung jedenfalls zeitgerecht gehandelt haben.
Das Ende der Saison kam zur richtigen Zeit
Aus dem berühmten Ausspruch des damaligen Gesundheitslandesrates Bernhard Tilg in der ZiB2, man habe Alles richtig gemacht, wird die Version Platters: bezüglich der Maßnahmensetzung jedenfalls zeitgerecht. Sinngemäß meint seine Aussage kaum etwas anders als das besagte Tilg-Mantra. Es habe also keine Fehler in Tirol bezüglich Ischgl gegeben. Diese Verteidigungslinie wird auch in einer weiteren Passage der Vernehmung Platters deutlich.
Eine Beendigung der Wintersaison vor dem tatsächlich erfolgten Datum hätte die Infektionslage einfach nicht hergegeben. Aber dann ab Mittwoch war die Situation bzw. das Infektionsgeschehen so dynamisch und hat sich nahezu stündlich geändert, sodass die diesbezügliche Entscheidung dann zu treffen war. Die Entscheidungen wurden immer mit Unterstützung der Experten getroffen.
Wir sollten dabei nicht vergessen, dass zum Zeitpunkt dieser Entscheidung die Gesundheitsbehörden in Europa von Hunderten Infizierten mit Ischgl-Bezug meldeten. Tirol war daher ab 9. März bereits das Ziel einer Reihe von expliziten Reisewarnungen in europäischer Regierungen.
Quarantäne oder Nicht-Quarantäne?
Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Innsbruck konzentrieren sich indes auf das Ausreisemanagement im Paznaun. Das hat mit dem strafrechtlichen Vorwurf der Verbreitung einer ansteckenden Krankheit zu tun. Ab Freitag, den 13. März 2020 reisten Tausende von Urlaubenden und Saisonmitarbeiter*innen aus dem Superspreader-Dorf Ischgl ungetestet und unkontrolliert durch Europa. So verbreiteten sie gezwungenermaßen das Virus in Europa und der Welt. Nachdem auch für die Tiroler Landesregierung unübersehbar geworden war, dass die Infektionszahlen nach oben schnellten und als das Contact-Tracing außer Kontrolle geriet, wurde sie initiativ: Sie erklärte die Wintersaison 2019/2020 für beendet. Am Wochenende vom 14. auf den 15. März 2020 sollten die Urlaubsorte in Tirol leer gefahren werden. So heißt es im Jargon und bedeutet: Gäste können nur mehr ausreisen und keine weiteren einreisen. Dies machte Platter bereits vor dem 13. März 2020 öffentlich bekannt. Entsprechende Verordnungen steckten bereits in der amtlichen Pipeline.
Wenn ich anlässlich meiner Anhörung vor der Expertenkommission des Landes Tirol bezüglich der Quarantäne angegeben (habe), dass ich kurz vor 10:30 Uhr einen Anruf des Bundeskanzlers erhalten hätte, wonach eine Quarantäne verhängt werden soll und die Rahmenbedingungen diesbezüglich noch nicht bekannt gewesen seien, so möchte ich schon anmerken, dass mir der 13.3. natürlich noch in Erinnerung ist. Dieser Tag war für mich ein sehr dominanter Tag in Bezug auf die Pandemiebekämpfung. Die Vorbereitungen für die Beendigung der Wintersaison waren mit 12.3. abgeschlossen. Ich habe diese politische Entscheidung getroffen, dem Bundeskanzler und auch dem Gesundheitsminister mitgeteilt, diese waren einverstanden. Es sind aber dann in weiterer Folge viele Gespräche geführt worden, ich wollte insbesondere die sogenannten ‚Stakeholder‘, nämlich die Touristiker, Wirtschaftstreibende und weitere ‚mit im Boot haben‘. Die Bevölkerung sollte sehen, dass dieser doch sehr sehr einschneidende Beschluss von allen mitgetragen wird.
Keine Gedanken über die Quarantäne
Wenn dies der öffentlich angekündigte Plan der Tiroler Landesregierung war, wozu brauchte es dann eigentlich noch eine Quarantäne? Warum, so fragt man sich, verkündete der Bundeskanzler auf einer separaten Pressekonferenz in Wien etwas, wofür er gänzlich unzuständig ist und was seitens der Tiroler Behörden eh schon vorbereitet war? Kanzler Kurz war und ist rechtlich nicht ermächtigt, über irgendein Gebiet in Österreich eine Quarantäne zu verhängen. Punkt. Zuständig dafür sind, im Zuge der mittelbaren Bundesverwaltung, die Landesbehörden und das zuständige Ministerium: damals Rudi Anschober. Und nicht der Kanzler.
Bezüglich des Ablaufes der Quarantäne habe ich mir eigentlich keine Gedanken gemacht. Ich war an diesem Tag mit anderen Sachen, wie bereits ausgeführt, beschäftigt. Ich habe mich darauf verlassen, dass die Stäbe das abwickeln.
In seiner Vernehmung vor der Rohrer-Untersuchungskommission vergangenes Jahr formulierte Platter diesen Punkt etwas deutlicher, nämlich, dass er sich für die Quarantäne nicht mehr zuständig sah. Wir stellen uns vor: Zehntausende Menschen müssen wegen einer Pandemie blitzartig eine Region in einem Bundesland verlassen, und der oberste politisch Verantwortliche sieht sich weder als zuständig noch macht er sich weiter Gedanken darüber? Statt sich für den Schutz der Menschen einzusetzen, konferiert er lieber mit Stakeholdern – und sichert somit seine politische Zukunft ab? Ist das wirklich in Ordnung so?
Ich möchte schon noch diesbezüglich sagen, dass meine eigene Pressekonferenz ja bis 12:00 Uhr gedauert hat. Und wie man sich vorstellen kann, ist es danach relativ ‚rund gegangen‘. Ich habe zahlreiche Telefonate führen müssen, um bestimmte Leute zu beruhigen. (…) Es war also so, dass ich den ganzen Nachmittag damit beschäftigt war, diese Entscheidung betreffend Beendigung der Wintersaison zu erklären. (…). Ich habe mich also mit dem weiteren Geschehensablauf bezüglich der Quarantäne für das Paznaun und St. Anton a.A. nicht mehr beschäftigt. Ich hätte dafür auch keine Zeit gehabt.
Sogar der Zeitpunkt der Quarantäne war kein Thema für Platter
Sogar der genaue Zeitpunkt der Quarantäne war für den Herrn Landeshauptmann offenbar gänzlich uninteressant. Das sind doch höchst seltsame Einlassungen an diesem Aprilvormittag, besonders dann, wenn wir das Buch nicht von hinten, sondern von vorne lesen, wie Platter immer wieder fordert. Wir stellen uns vor: Der Chef eines Bundeslandes erfährt um 10:30 Uhr am Telefon, dass eine Region seines Bundeslandes unter Quarantäne kommen soll. Hernach hat er null Interesse daran, wie das ablaufen soll?
Für mich war (es) kein Thema, ab wann diese Quarantäne gelten soll. Für mich war nur Thema, dass die Stäbe alles vorzubereiten hatten und die notwendigen Maßnahmen zu treffen hatten. Mit mir wurde kein konkreter Zeitpunkt bezüglich des Inkrafttretens der Quarantäne vereinbart. Dies wäre Aufgabe der Stäbe gewesen bzw. war dies die Aufgabe der Stäbe. Deswegen konnte ich selbstverständlich auch Dr. Herbert FORSTER nicht sagen, wann dies gelten soll. Der Zeitpunkt war schlicht kein Thema.
Mir war bekannt, dass es eine Pressekonferenz des Bundes geben wird. Mir war nicht bekannt, dass dort die Quarantäne auch vom Kanzler verkündet wird. Ich habe über den Inhalt dieser vom Bund durchzuführenden Pressekonferenz mit den involvierten Personen nicht gesprochen. Es war nur klar, dass der Bund die Quarantäne kommuniziert.
Keine Erinnerung an Informationen zum Quarantänezeitpunkt
Die Einlassung, er habe von dieser Quarantäne ohne Angabe einer Uhrzeit erfahren, ist komisch. Das im Telefongespräch nachzufragen, wäre doch nicht ungewöhnlich. Oder hat er nach der Info durch Kurz: Du Günther, wir stellen das Paznaun unter Quarantäne. Der Bund kommuniziert das Gespräch einfach beendet? Sollen wir uns den Ablauf tatsächlich so vorstellen?
Wenn ich gefragt werde, ob anlässlich des Telefonats mit dem Bundeskanzler mitgeteilt wurde, dass die Quarantäne ab 14:00 Uhr zu gelten habe, gebe ich an, dass ich daran keine Erinnerung habe, dass anlässlich dieses Telefonats eine konkrete Uhrzeit für das Inkrafttreten dieser Maßnahme genannt wurde.
Keine Erinnerung an E-Mails zur geordneten touristischen Entleerung
Die Tiroler Behörden hätten also, das will Platter die Staatsanwaltschaft offenbar glauben machen, eine Quarantäne planen sollen, ohne zu wissen, wann genau diese in Kraft treten soll? Und niemand im Innsbrucker Landhaus ist auf die basale Frage gekommen: Wann geht das eigentlich los? Das scheint realitätsfremd zu sein.
Wenn mir diesbezüglich die Angaben von Dr. FORSTER (…) mitgeteilt werden, wonach es nie Thema gewesen sei, dass die gesamte Quarantäne bereits um 14 Uhr gelten sollte, gebe ich an, das deckt sich mit meiner Erinnerung. Über Vorhalt der Angaben von Dr. FORSTER bzw. der E-Mail in Zusammenhang mit der notwendigen politischen Abstimmung des Konzepts der geordneten touristischen Entleerung gebe ich an, dass ich daran überhaupt keine Erinnerung habe.
Platters letzte Worte: Alle haben sich bemüht
Abschließend möchte ich noch festhalten, dass sich zum damaligen Zeitpunkt und in der damaligen Woche alle wirklich bemüht haben, und zwar in allen Bereichen. Es war eine riesige Herausforderung, die wir noch nie hatten. Corona war für uns einfach ein neues Phänomen und (es) haben meines Erachtens die Stäbe hervorragende Arbeit geleistet.
Ob das die Opfer von Ischgl auch so sehen? Immerhin gibt es rund 6000 Geschädigte und über 30 Verstorbene, deren Corona-Infektionen sich auf den Wintersportort im Paznaun zurückführen lassen. Wie denken sie eigentlich über die politischen Winkelzüge in Österreich?