Es sickert. Die Pandemie ist, entgegen der Rhetorik-Übungen österreichischer Politiker*innen, nicht vorrüber. Die Fussball-Europameisterschaft zeigt, wie rasant sich die Delta-Infektionsketten ausbreiten. Der Experte Fabian Valka schreibt in Semiosis: Ich denke, dass wir möglicherweise eine Reihe der derzeit gelockerten Beschränkungen wieder zurücknehmen müssen, um die nächste Welle an Fällen, Krankenhausaufenthalten und Toten zu verhinden.
Wie vorbereitet sich die österreichische Politik auf die vierte Welle? Gefühlt gar nicht. Eine Recherche von Sebastian Reinfeldt
Mittlerweile unvermeidbar: Die vierte Welle
Was seit Wochen aus berufenem Munde vorher gesagt wird, tritt nun ein. So meinte der unermüdliche SPD-Politiker und Gesundheitsexperte Karl Lauterbach bereits Ende Juni 2021 in einem seiner Talkshowauftritte: Bis zum Herbst wird sich die hoch ansteckende Delta-Variante flächendeckend ausgebreitet haben. Außerdem würden sich die Menschen dann wieder bei schlechterem Wetter in Innenräumen treffen. Er geht fest von einer vierten Welle aus:
Die Frage ist nur: Wie hart wird sie uns treffen?
Mittlerweile steigen die Inzidenzen und die Fallzahlen kontinuierlich an. Nicht nur in Österreich, sondern europaweit.
Überraschung: Super-Spreader Events sind Super-Spreader Events…
Die Großveranstaltungen, von denen wir geglaubt haben, dass sie Super-Spreader Events werden, wurden tatsächlich das, nämlich Super-Spreader Events. Seien dies Techno-Partys in den Niederlanden:
Bei dieser Riesenparty, dem #Verknipt Festival in Amsterdam, haben sich 1000 Personen mit dem Delta-Virus infiziert.
Oder seien dies Fussball-Europameisterschaften mit bis zu 60.000 Personen in einem Stadion: In Schottland hat das Contact-Tracing beispielsweise knapp 2.000 Corona-Fälle in Verbindung mit EM-Spielen ergeben.
Und in Österreich? Da sorgt mal wieder eine Bar für Schlagzeilen. Die steierische Disco Almrausch sucht in den sozialen Medien rund tausend Gäste, weil sich nur ein kleiner Teil beim Eintritt hat registrieren lassen. Ein Besucher hatte aber Covid, die Delta-Variante.
Dornröschenschlaf in Österreich
Erinnern wir uns an den Sommer vor einem Jahr: Urlaub in Österreich, hieß es, sei das Mittel der Wahl. Punktuell kam es hier zu Ausbrüchen, wie etwa am Wolfgangsee. Die Infektionen köchelten aber landesweit auf niedriger Stufe vor sich hin, um dann im Herbst mithilfe eingeschleppter Mutationen zu explodieren. Volle Intensivstationen und hohe Sterberaten besonders in Pflege- und Altenheimen waren die Folge. Wir haben die Schwächsten damals nicht geschützt.
Haben die Verantwortlichen daraus gelernt?
Offenbar nicht. Im Sommer 2021 behandeln sie die Pandemie wie ein diskursives Ereignis, das sich wegspinnen lässt. Die Pandemie sei vorüber, heißt es. Für alle Geimpften, sagt der Kanzler. Sogar diese Aussage ist falsch. Delta kann auch doppelt Geimpfte infizieren. Wir stecken weiterhin mitten in einer Pandemie. Doch ist die Logik der Politik bestechend: Wenn es keine Pandemie mehr gibt, dann muss die Politik auch nichts mehr unternehmen.
Wer schützt die Schulen und Kindergärten?
Wovon wir aber ebenso sicher wie von der vierten Welle ausgehen können: Bis Herbst werden Kinder und Jugendliche nicht geimpft sein. Denn für sie wird es keinen zugelassenen Impfstoff geben. Auf Semiosis-Nachfrage, wann mit einem Impfstoff für die unter 12-jährigen zu rechnen sei, meint das zuständige Gesundheitsministerium:
Dies ist von der Zulassung des jeweiligen Impfstoffes für diese Altersgruppe abhängig. Derzeit führen die ersten Hersteller diesbezüglich Zulassungsstudien durch. Sobald eine Zulassung beantragt wird, wird diese durch die EMA [= Europäische Arzeneimittel-Agentur] behandelt. Gleich danach wird sich dann auch das Nationale Impfgremium (NIG) mit den Empfehlungen in Österreich beschäftigen.
Bis Herbst geht sich das alles nicht mehr aus. Hier sind also die neuen Risikogruppen. Und wer schützt sie?
Konkrete Fragen und Luftblasen als Antwort
Besonders unwillig aktiv zu werden, scheint das Bildungsministerium in Österreich zu sein. Auf Semiosis-Nachfrage kommt ein Mail mit rhetorischen Luftblasen zurück. Das Ministerium will erst im August verraten, was es tut.
Beraten werden alle Maßnahmen von der Weiterentwicklung unserer Teststrategie bis hin zu Luftreinigern. Präsentieren werden wir diese wie mehrmals angekündigt im August, wenn wir die Impfquote und das Infektionsgeschehen zu Schulbeginn besser einschätzen können.
Jedenfalls ist es im August 2021 für eine Bestellung von Luftfiltern im großen Stil zu spät. Die Impfquote bei den unter 12-jährigen kann ja nur sehr niedrig sein, da es keinen Impfstoff gibt. Auch Testungen mit PCR-Test in allen Schulen in Österreich brauchen ein wenig Vorlaufzeit, um dies vorsichtig zu formulieren. Verschlafen wir schon wieder einen Sommer? Nach diesem Sommer, im Jahr 2021, wird es die Schwächsten auf der anderen Seite der Skala treffen: Kinder und Jugendliche nämlich. Wir sind dabei, ihre Gesundheit für die Wirtschaft und den Tourismus zu opfern.
Die Mär von den nicht betroffenen Kindern
Aber Kinder und Jugendliche seien doch nicht von der Pandemie betroffen, heißt es. Falsch. Delta wird besonders bei den Ungeimpften durchrauschen. Dafür sprechen die oben erwähnte Beispiele aus den Niederlanden und aus Schottland. Und bereits die alten Varianten, die nun Alpha heißen, haben Kinder und Jugendliche sehr wohl mit schweren Verläufen betroffen. 1200 von ihnen mussten nämlich ins Spital (Daten bis März 2021). Die Landkarte der zivilgesellschaftlichen Initiative Bildungscluster zeigt zudem sehr gut, dass es bislang österreichweit zu ganz ansehnlichen Covid19-Clustern in Schulen gekommen ist.
Wem es wurscht ist, ob sein oder ihr Kind mit Covid19 ins Krankenhaus muss oder an den LongCovid-Spätfolgen leidet, der oder die werfe den ersten Stein.
Nachtrag: Beim Kanzler im Büro stehen die Luftreiniger herum
Kanzler Kurz setzt übrigens auf Luftreiniger im Büro.
Bei den Schulen wollen wir sie uns aber ersparen. Wirklich?
Nachtrag zwei: Oder doch Luftfilter in Schulen? (15.7.2021)
Mit den Antworten des Bildungsministerium auf die Semiosis-Nachfrage kann man nicht zufrieden sein. Das haben wir auch zurück geschrieben. Aus mehreren Quellen haben wir dann erfahren, dass Schutzmaßnahmen in Schulen und Kindergärten doch kommen könnten. Offenbar wird im Ministerium ernsthaft über Luftfilter nachgedacht. Das lässt dann auch die zweite Reaktion aus dem Ministerium erkennen, die uns gestern noch erreichte.
Minister Faßmann hat bereits mehrfach angekündigt, dass er über den weiteren Fahrplan im Schulbereich ab Herbst Anfang August Ausblick geben möchte. Bis dahin werden alle von ihnen erwähnten Punkte (Luftfilter, PCR-Tests etc.) sorgfältig analysiert und bearbeitet. Ich kann und will diesen Ergebnissen momentan aber nicht vorgreifen und würde das aufgrund der nach wie vor gegebenen Unberechenbarkeit der weiteren Entwicklung der Pandemie und der Impfentwicklung bei Kindern und Jugendlichen momentan auch noch für etwas unseriös halten.
Für die ersten beiden Schulwochen besteht hingegen wie erwähnt bereits ein konkreter Plan: Wir starten mit einer Sicherheitsphase, alle Kinder werden zumindest zwei Wochen lang dreimal in der Woche testen. Details zu dieser Sicherheitsphase hat Minister Faßmann erst kürzlich in einer Pressekonferenz präsentiert.
Dokumentation
Aktuelle Zahlen: Über 1200 Kinder und Jugendliche mit COVID-19 waren bisher im Spital
Delta Variante in Österreich: Die Daten legen nahe, dass die Fälle exponentiell anwachsen
Es ist ja zudem davon auszugehen, dass sollten Jugendliche auf der Intensivstation landen sie diese sehr viel länger in Anspruch nehmen werden, so sie einen Todeskampf führen. Das wird die auslastung der Intensivstationen nicht gerade günstig beeinflussen.