Interview mit Jenny Havemann: Das mögliche Ende der Ära Netanjahu

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By Sebastian Reinfeldt

Wie denken die Leute in Israel über die politischen Veränderungen dieser Tage? Wie wirken dort die militärischen Auseinandersetzungen mit der Hamas nach? Wir konnten unsere Fragen Jenny Havemann stellen, die in der Nähe von Tel Aviv lebt und zur deutschsprachigen Bubble im Land gehört. Das Leben sei wieder weitgehend normal, berichtet sie. Und die neue Regierung, die vorerst die Ära Bibi Netanjahu beendet hat, genießt im Land einen Vertrauensvorschuß. Übrigens: Das Hissen der israelischen Fahne am österreichischen Bundeskanzleramt wurde dort nur in einer sehr kleinen Bubble wahrgenommen. Mit Jenny Havemann hat Sebastian Reinfeldt gesprochen. Am Ende des Interviews bieten wir eine Übersicht über die acht Parteien, die an der neuen Regierung Israels beteiligt sind.


Wie geht ihr jetzt mit den Erfahrungen des Lebens im Raketenhagel um?

Das war vor allem für die Kinder viel traumatisierender als vorher. Ich hab das auch an uns gemerkt, auch bei mir selbst. Als die erste Sirene losging, saß ich mitten in einem Business-Meeting, abends. Ich habe dann innerlich angefangen zu zittern. Wir haben das so lange nicht mehr erlebt.

Mein Mann war gerade dabei, die Kinder ins Bett zu bringen. Dann sind wir ganz schnell in unser Bunkerzimmer. Die Häuser, die ein bisschen älter sind, haben nur im Keller ein Bunkerzimmer. Die Wohnungen, die moderner sind, haben ein Zimmer mit Bunkertür, verstärkten Wänden und Fensterläden aus Stahl. Bei uns ist das Arbeitszimmer so.

Ich habe über Twitter gesehen, wie dein Mann das Zimmer in Betrieb genommen hat. So habe ich euch kennen gelernt.

Er hat dann die Kinder wieder aus dem Bett geholt und die Tür verriegelt. Es war ja dann tagelang Raketenbeschuss. Die Straßen waren in der Folge wie leergefegt, die Spielplätze blieben unbenutzt. Wir haben am Spielplatz keinen Bunker, das heißt, die Menschen haben sich nicht mehr da raus getraut, weil man Angst hatte, dass man es in eineinhalb Minuten nicht schafft, nach Hause zu laufen und sich in Sicherheit zu bringen.

Ich habe gemerkt, wie das die Kleineren sehr mitgenommen hat. Unsere Kinder sind 9, 6 und 2 Jahre alt. Der Große hat das eigentlich ganz gut weggesteckt, der mittlere hat Angst gehabt, konnte schlecht einschlafen, hat geweint, ist ständig zu uns nachts gekommen, was normalerweise nicht passiert. Er hat die ganze Zeit gefragt: Warum schießen sie auf uns? Warum schießen sie auf uns?

Was habt ihr geantwortet?

Der 9-jährige hat dann gesagt: Weil sie Juden töten wollen. Da haben wir dann natürlich bisschen geschluckt. Im Endeffekt ist es aber so.

Wir haben natürlich auch gesagt, macht euch keine Sorgen. Der Iron-Dome beschützt uns und die Armee auch. Die Kleine hat es gar nicht verstanden. Es waren ja auch zwei Nächte, wo wir die Kinder aus dem Bett geholt haben. Wir haben sie dann die dritte Nacht gleich im Bunkerzimmer schlafen lassen. Die Jüngste hat sich immer wieder an mich gelehnt und gesagt: Angst, Angst, Sirene, Angst, Angst.

Und wie ist das jetzt?

Das Leben ist wieder wie vorher. Aber, man lebt in Israel immer so, dass man damit rechnen muss, dass so etwas wieder passieren kann. Das gehört zum Leben dazu in Israel.

Spielt das, was auf der anderen Seite, im Gaza-Streifen, passiert ist, eine Rolle? Redet ihr darüber?

Gerade Eltern in Israel haben schon gesagt, dass es denen natürlich weh tut, dass Menschen, die unbeteiligt sind, sterben oder verletzt werden. Besonders, wenn es sich um Kinder handelt, ist das furchtbar.

Die Israelis sagen dann aber auch, wir sind nicht in erster Linie dafür verantwortlich, diese Menschen zu schützen. Sondern deren Führung. Die tut aber genau das Gegenteil, indem sie diese Menschen extra in Gefahr bringt.

Auch wenn es einem auf der menschlichen Ebene  weh tut, sagen sie: Ja, was sollen wir denn machen? Wir müssen uns ja schützen, und das bedeutet, wir müssen die Terror- Infrastruktur der Hamas zerstören. Die israelische Armee kann sehr gezielt diese Einrichtungen treffen und zerstören.

Wie denken eigentlich eure Nachbarn und das nähere Umfeld darüber?

Na ja, es kursieren schon Späße, etwa: Was haben Raketenangriffe aus Gaza und der Lockdown gemeinsam? Es war ja dann auch alles zu. Man hat sich auch nicht nach draußen getraut.

Die Nachbarn vor unserer Tür haben gesagt: Wir haben keinen Bock mehr! Die sollen sich um ihre eigene Wasserversorgung, Stromversorgung und so weiter kümmern, ihr eigenes Land aufbauen – und Shalom!

Das bedeutet: Lasst uns in Ruhe. Macht mal euer Ding!

Die neue Koalition in Israel: Kann das was werden, bei einer Koalition aus so unterschiedlichen Parteien ? Die vielen möglichen Bruchlinien würden ja auch die Möglichkeit der Verständigung und des Kompromisses bieten?

Sowohl als auch. Natürlich gibt es da sehr sehr viele Punkte, wo es sehr gefährlich wird, dass es kracht.

Zum Beispiel mit dem Jerusalem-Marsch. Oder auch bei der arabisch-islamistischen Partei, die Schwierigkeiten hat, LGBTQ-Rechte anzuerkennen, was wiederum Meretz und auch andere linke und Mitte-Parteien nicht akzeptieren können.

Ohne die arabische Partei gibt es bei Meretz und Awoda und auch bei Jesch Atid Probleme mit den extrem rechten Parteien, wie die von Naftali Bennett und Avigdor Liebermann oder auch Gideon Sa’ar. [Zu den Parteien, siehe das Glossar am Ende des Artikels] Der wird ja als noch rechter als Netanjahu eingeschätzt. Er ist ja erst vor kurzem aus der Likud-Partei ausgestiegen.

Haben die sich für die Regierung einen Mechanismus einfallen lassen, oder ist es einfach nur: Wir müssen still halten? In Österreich etwa haben die Grünen und die ÖVP Themen abgetauscht, um regierungsfähig zu sein.

Das wäre vielleicht eine Idee. In Israel ist das ja durchaus vergleichbar, auch wenn es natürlich eine ganz anderer Situation ist. In Israel haben wir das Problem, dass sie gesagt haben: Wir brauchen einen Schlussstrich. Wir müssen Netanjahu loswerden, um dann politisch wieder von Null anzufangen, um wieder Wettbewerb zu haben, um vorwärts zu kommen. Wir wollen einfach regieren.
Netanjahu hat andauernd blockiert, dass es eine sinnvolle Regierung in Israel geben kann. Außer den ultraorthodoxen Parteien wollte ja wirklich niemand mehr mit ihm politisch zusammenarbeiten.

Die konkrete politische Linie, auch in Form von Gesetzen und einem Haushalt, wird erst nach und nach klar werden. Selbst Expert*innen blicken da derzeit noch nicht wirklich durch, was konkret kommen wird.

Es gab grundlegende Streitigkeiten. Etwa beim Thema Verfassungsgerichtshof, da wurde ein Kompromiss gefunden. Das Thema Siedlungen wird sicher komplett ausgeklammert, weil es da einfach Null-Übereinstimmung in der Koalition geben kann.

Die Regierung braucht also Zeit. Wie ist da deine Einschätzung: Haben sie den Vertrauensvorschuss in der israelischen Gesellschaft, den sie dafür brauchen?

Ja, den haben sie. Ich habe jetzt am Shabbat herum gefragt bei uns in der Synagoge, wo ja verschiedene Menschen hinkommen, die auch ganz verschiedene Parteien gewählt haben.
Alle die, die nicht Netanjahu gewählt haben, hoffen, dass es was Gutes wird.

Stichwort Netanjahu. Was ist seine Zukunft? Er geht vor Gericht?

Er ist ja schon vor Gericht.

Wird er denn verurteilt?

Das müssen die Gerichte entscheiden. Da vertraue ich vollkommen der Justiz und dem Rechtssystem.

Wird er versuchen, die Regierung im Hintergrund zu hintertreiben?

Ja, er wird darauf lauern, ob sich eine Chance für Neuwahlen ergibt, wo er wieder gewinnen könnte.
Wenn er merkt, dass sich diese Möglichkeit ergibt, wird er – so schätze ich es jedenfalls ein – sich zurück ziehen. Es gibt ja noch andere Leute bei Likud, die die Führung übernehmen wollen.

Könnte es sein, dass die Ära Netanjahu zuende geht?

Ja, das könnte sehr gut sein.

Eine Frage noch aus österreichischer Perspektive: Ideologisch stehen sich ja der österreichische Kanzler Kurz und Netanjahu sehr nahe. Als die Raketenangriffe begonnen haben, hat das österreichische Bundeskanzleramt eine israelische Fahne auf seinem Dach gehisst. Wird diese besondere Solidarität in Israel wahrgenommen?

Ich habe das mitbekommen, weil ich Puls24 Interviews gegeben habe und sie es dabei angesprochen haben. In israelischen Medien wurde das allerdings nicht berichtet.
Das interessiert die Israelis nicht so sehr. In Israel wird eher berichtet, wenn antisemitische Demonstrationen stattfinden.

Die deutschsprachige Bubble in Israel hat allerdings wahrgenommen, dass in Deutschland und Österreich diesmal während der Raketenangriffe anders und fairer berichtet wurde. Und auch, dass sie viele Politiker*innen diesmal eindeutiger geäußert haben, nämlich, dass Israel das Recht hat, sich zu verteidigen.


Die Parteien der neuen Regierungskoalition in Israel

Jesch Atid, auf deutsch: Es gibt eine Zukunft, ist eine liberale Partei, die im April 2012 vom früheren TV-Journalisten Jair Lapid gegründet wurde.

Chosen LeJisra’el, auf deutsch: Widerstandskraft für Israel, wurde im Dezember 2018 gegründet. Der Vorsitzende der Partei ist Benny Gantz.

HaJamin HeChadasch, auf deutsch: Die Neue Rechte, ist eine nationalkonservative israelische Partei, die Naftali Bennett und Ajelet Schaked gegründet haben.

Awoda, auf deutsch: Arbeit, ist die israelische Sozialdemokratie.

Jisra’el Beitenu, auf deutsch: Unser Zuhause Israel, ist säkular-nationalistisch ausgerichtet und wurde von Avigdor Lieberman gegründet.

Tikwa Chadascha, auf deutsch: Die neue Hoffnung, ist eine konservative Likud-Abspaltung und wurde im Dezember 2020 von Gideon Sa’ar gegründet.

Meretz: ist eine linke politische Partei in Israel. Auf deutsch etwa: Tatkraft oder Elan

Ra’am ist die Vereinigte Arabische Liste, die fast ausschließlich von Muslimen gewählt wird.


Zur Person: Jenny Havemann engagiert sich seit vielen Jahren im Bereich deutsch-israelische Beziehungen. Nach dem Studium in Deutschland und Israel gründete sie die Firma GIIN – German-Israeli Innovation Network, die im Bereich Innovationen, Wirtschaft, Politik und Bildung bereits viele Projekte umgesetzt hat. Sie berät Unternehmen, Politiker und Organisationen bei Themen wie israelische Politik, deutsch-israelische Beziehungen und Wirtschaftsbeziehungen. 2020 gründete sie zusammen mit Dr.Susanne Glass einen israelisch-europäischen Mediengipfel „Media TLV“.
Sie ist mit Eliyah Havemann verheiratet. Sie haben 3 Kinder und leben in der Nähe von Tel Aviv.

1 Gedanke zu „Interview mit Jenny Havemann: Das mögliche Ende der Ära Netanjahu“

  1. Die Ära von König Bibi ist wohl endlich zu Ende gegangen. Der Schaden wird nicht besonders groß sein. Das ganze erinnert sehr stark an Trump und Biden. Der eine gewinnt der andere klebt am Stuhl dass man ihn hinaustragen muss. Einfach widerlich das ganze. Falls er seinen Amtssitz nicht räumt würde ich dem die Polizei und das Militär schicken und ihm die Bude räumen lassen. Auch wenn er es nicht glaubt so wie Trump es geht ohne ihn auch.

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