In Ostösterreich ist die Lage ernst geworden. So viel ist uns allen klar. Doch wie ernst ist es wirklich? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Panikmache hilft nicht weiter. Verschleierung der Fakten noch weniger. Jedenfalls passen die Berichte aus dem medizinischen Alltag und die Darstellung von offizieller Seite nicht ganz zusammen. Sebastian Reinfeldt hat recherchiert.
Wiener Gesundheitsverbund: 206 Intensivbetten in Wien sind belegt
Wie viele Intensivbetten stehen in Wien aktuell zur Verfügung? Wer auf das AGES-Dashboard für Wien schaut, findet dort die Zahl 52,5 Prozent für die COVID-Auslastung, konkret bedeutet das 173 verfügbare Intensivbetten. In den Anmerkungen dazu heißt es aber:
Die Auslastung bezieht sich auf Betten, die am Berichtstag für die Behandlung von COVID-19 PatientInnen maximal vorgesehen sind (100%). Hierbei werden Intensivbetten inkludiert, die aus Sicht des Berichtstages binnen 7 Tagen zu Verfügung stehen könnten. Für Wien liegt aufgrund einer unterschiedlichen Dateneinmeldung diese Information nicht vor.
Laut Auskunft des Wiener Gesundheitsverbunds auf Semiosis-Nachfrage liegen in den Intensivstationen der Kliniken des Wiener Gesundheitsverbundes derzeit 180 Covid-19 PatientInnen. Insgesamt sind es in Wien (also inklusive der Ordens- und Privatkrankenhäuser) aktuell 206. Auf den Normalstationen des Wiener Gesundheitsverbundes befinden sich 459 Covid-19 Patient*innen, 522 insgesamt in Wien (Stand vom 29.März 2020 um 11 Uhr)
Das sind um zwei Betten mehr als am Corona-Dashboard des Gesundheitsministeriums ausgewiesen (siehe Titelbild). Semiosis gegenüber werden diese Zahlen aus Spitalskreisen als noch zu niedrig eingestuft. Dort ist von bereits 250 belegten Betten die Rede. Aber: Was steckt hinter diesen Zahlen?
Eine sehr angespannte Situation
Vergangene Woche haben wir exklusiv die gültige Handlungsempfehlung zur Therapiezielfindung in der Intensivmedizin des Wiener Gesundheitsverbund veröffentlicht. Kernstück ist die folgende Empfehlung:
Wenn bei mehreren Patient*Innen eine Indikation für eine Behandlung vorliegt, aber diese Behandlung nicht alle Patient*innen gleichzeitig erhalten können, ist die Entscheidung an der Überlebenswahrscheinlichkeit zu orientieren. Dabei ist zu beachten, dass es rechtlich keinen Unterschied macht, ob eine indizierte Behandlung beendet oder erst gar nicht begonnen wird.
Ist es in Wien bereits so weit, dass diese Empfehlung umgesetzt wird?
Wie wir Ihnen bereits mitgeteilt hatten, wird in den Kliniken des Wiener Gesundheitsverbundes derzeit nicht triagiert. Die Situation ist aktuell aber sehr angespannt,
antwortet Gabi Egartner, Pressesprecherin des Wiener Gesundheitsverbunds, auf erneute Semiosis-Nachfrage. Also Nein.
Intensivstationen freihalten
Ist also dichter Normalbetrieb auf den Intensivstationen? Auch Nein. Ärztinnen und Ärzte haben uns Beispiele aus ihrem Berufsalltag berichtet. Sie sind auf Wunsch anonymisiert und auch das Krankenhaus wird dabei nicht genannt. Sie zeigen die Ausnahmesituation auf, in der sich das Personal in den Stationen befindet.
Beispiel eins: In einem Wiener Spital sind ein bis zwei Covid-Patient*innen nicht auf die Intensivstation verlegt worden, die normalerweise (ohne Überlastung) dorthin verlegt worden wären. Damit wollen die Ärzte eine harte Triage vermeiden, die sie ansonsten vornehmen müssten.
Beispiel zwei: Es werden auch ältere Covid-Patienten von der Normalstation nicht auf eine Intensivstation verlegt (die in normalen Zeiten dorthin kämen), weil eventuell ein jüngerer Patient von der Normalstation auf diese Station verlegt werden soll.
Schleichende Triage
Schleichende Triage gibt es schon,
heißt es von Ärztinnen und Ärzten aus mehreren Spitälern. Ein Ausdruck, der von offizieller Seite wiederum vermieden wird. In Wien werden im 2-Tagestakt Intensivstationen umgewidmet, schreibt der Arzt Wolfgang Hagen heute auf Twitter.
Ärztliche Führungskräfte sagen Semiosis gegenüber: Es ist schwierig, das Therapiezielfindungspapier im Nachtdienst umzusetzen, aber
gut, dass es dieses Papier gibt.
Denn Umsetzen müssen dies nicht die Führungskräfte, sondern die untergeordneten Ärzt*innen vor Ort.
Bisher ist keine Verlegung von Patien*innen geplant
Im Falle des Falles, also wenn in Wien bald gar kein Bett mehr frei sein wird, sollen Patient*innen NICHT in andere Bundesländer in Österreich verlegt werden, heißt es aus Spitalskreisen gegenüber Semiosis. Eine Bitte um Hilfe an Deutschland, etwa an die DIVI (Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin), sei möglich. Das sei allerdings politisch nicht erwünscht.
Entsprechende Nachfragen an den Gesundheitsverbund blieben bis Veröffentlichung unbeantwortet.
Wird eine lebenserhaltende Maschine für Jüngere abgedreht?
Ein Pädagoge, der in einer Wiener Bildungseinrichtung arbeitet, erzählt uns, dass er sich bei der Arbeit angesteckt habe. Selbst sei er zwar glimpflich davon gekommen, aber nun liege seine Frau auf der Intensiv und kämpfe um ihr Leben. Er habe solche Schuldgefühle:
Eigentlich sollte ich dort liegen!
Seine Frau, sie geht auf die 60 zu, war die ganze Zeit zuhause. Zu den Schuldgefühlen gesellt sich Wut. Auf die Behörden.
Wir sind total allein gelassen worden.
Dazu kommt noch die Angst, dass das Beatmungsgerät abgestellt wird, weil immer mehr Jüngere ein Bett brauchen. Die geschilderte Situation dürfte kein Einzelfall sein. Bereits mehrere Angehörige von Intensivpatienten hätten gefragt,
ob die Maschine eh nicht abgedreht wird, wenn ein Jüngerer kommt,
berichtet ein Arzt.
Ich werde bei keinem Patienten, wo es noch Hoffnung gibt, die Maschine abdrehen,
sagt der Mediziner. Er hat wegen der belastenden Situation schon an Kündigung gedacht. Er wolle auch nicht, dass alles so ’still und heimlich‘ über die Bühne gehe. Die Gesellschaft müsse das Wiener Triage-Papier mittragen, wünscht er sich.
Alle Statements sind auf Bitten der Auskunftsgeber*innen anonymisiert worden.