Von Snow zu Barrington: Der Paradigmenwechsel in der österreichischen Politik

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By Sebastian Reinfeldt

Es sieht wie multiples Behördenversagen aus, was derzeit in Österreich passiert. Seit Wochen steigen die COVID19-Zahlen kontinuierlich an. Seit Wochen wird über Öffnungen diskutiert statt darüber, wie die 7-Tages-Inzidenz, die Hospitaliserungen und die Belegung der Intensivbetten wieder nach unten gebracht werden können. Nun haben sich die politisch Verantwortlichen gestern zusammengesetzt und keine Maßnahmen entschieden. Das bedeutet unweigerlich: Sie schauen dem Pandemietreiben weiter zu. Auf den Intensivstationen beginnt derweil die Triage. Die Ärztinnen und Ärzte müssen entscheiden, wer noch behandelt werden kann oder wen sie sterben lassen. Was wie Behördenversagen ausschaut, markiert für Sebastian Reinfeldt einen Paradigmenwechsel in der österreichischen Pandemiepolitik.


Die Aufgaben des bürgerlichen Staates: Schutz und Sicherheit

Bei vielem herrscht Dissens in der Staatsphilosophie. Doch in einem sind sich die wenigen Autorinnen und die vielen Autoren über Jahrhunderte hinweg einig: Die vordringlichste Aufgabe des bürgerlichen Staates ist es, die Sicherheit ’seiner‘ Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. In den Vertragstheorien etwa treten diese ihre natürliche Freiheit just und nur zu dem Zwecke ab, damit dieses Geschöpf, das sie Leviathan oder liberalen Rechtsstaat nennen, sie schützen möge. Dafür kann dieser seine Kraft laut Thomas Hobbes ungebunden einsetzen, während sie bei John Locke etwa durch die Gesetze selbst begrenzt wird.

Es sieht so aus, als ob der Staat, in dem ich lebe, dieser Aufgabe nicht gerecht würde. Der österreichische Staat ist angesichts der COVID19-Pandemie nämlich nicht nur nicht in der Lage, die Gesundheit aller Bürgerinnen und Bürger wirksam zu schützen. Stattdessen setzt er diese permant aufs Spiel.

Versagen in der Pandemie auf allen Ebenen

Zum Beispiel: Der verzweifelt rumrudernde Gesundheitsminister Anschober (Ich beobachte die steigenden Zahlen), der Wiener Gesundheitsstadtrat Hacker (Schanigärten öffnen!), die oberösterreichische Ärztekammer (Technischer Labor-Tsunanmi) oder der Bürgermeister von Wiener Neustadt, Klaus Schneeberger (Diese Stadt kann man nicht abriegeln) und Hunderte Beispiele mehr zeigen Fehleinschätzungen, die auf dasselbe hinauslaufen: Die Gesundheit aller soll weniger schwer wiegen als andere Interessen, zumeist wirtschaftliche. Derweil geht in den Krankenhäusern in Ostösterreich die Triage vor sich.

Als in Wien netto 13 zusätzliche COV+ ICU-Betten belegt wurden

Auf Twitter berichtet am 22. März 2021 der Intensivmediziner Wolfgang Hagen über seinen Arbeitsalltag. Für das, was er beschreibt, scheint mir der Ausdruck stille Triage durchaus passend.


Es begann damit, dass mir schon bei Dienstantritt mitgeteilt wurde, dass es in ganz Wien nur mehr ein einziges reguläres COV+ Intensivbett gebe + einzelne Notbetten ohne Personal dafür. Eines davon auf unserer an sich vollbelegten ICU.

Was also tun mit dem 70jährigen Diabetiker, der sich seit der Aufnahme vor ein paar Tagen progredient verschlechtert hatte und auf unserer Normalstation trotz auf Maximum eingestellter HFNC (Nasale High-Flow-Therapie bei respiratorischer Insuffizienz) nur mehr auf 85% sättigte?

Soll ich das Notfallbett opfern?

Also nicht-invasive Maskenbeatmung, geht aber nur auf Überwachung oder ICU.
Der Patient: Komplett selbständig alleine lebend, aber 70 und Vorerkrankungen. D.h. schlechter Verlauf recht wahrscheinlich. Soll ich das Notfallbett opfern und dann „zu“ sein?

Entscheidung:
Nein, denn sonst habe ich keine Möglichkeit mehr, eine jüngere, nicht vorerkrankte Person auf der ICU zu versorgen.
Pulmo-Überwachung gibt ihr letztes freies Bett her, Transferierung dorthin.

Patient fürchtet sich vor Ersticken

Davor Gespräch mit Pat. der sich vor dem Ersticken fürchtet, Beruhigung, „wir tun alles für Sie“, was gelogen ist. Ich habe ihm die ICU verwehrt.
Telefonat mit der weinenden Tochter. Versteht nicht, warum der Papa jetzt so schlecht ist wegen „Grippe“. Obige Lüge auch für sie.

Zwischenzeitlich Visite, Gespräche, normale Aufnahmen, Routine.

Abends Anfrage von der Notfall. Patienten in den Schockraum bekommen, hochgradiger Vd. auf COVID. Wurde vom Ärztefunkdienst mit 50% Sättigung bei Raumluft angetroffen, bereits seit 2Wo zunehmende Symptome.

Zunehmende Verzweiflung bei Sanis

Das Rettungsprotokoll lässt die zunehmende Verzweiflung der Sanis und die Bettensituation in Wien erahnen.
„Leitstelle wird versucht bezüglich Überwachungsbett zu erreiche, RTW (Anm: Rettungswagen) wird mehrmals abgewimmelt, da alle bettenplätze belegt …

…Nachdem sich die Bettengestaltung daher massiv verzögern wird, wird NEF (Anm: Notarzteinsatzfahrzeug) nachbeordert. … LST wird durch NEF Lenker nochmals telefonisch bezüglich Überwachungsbett kontaktiert. … Patient wird in der langen Wartezeit für Zielspital weiter…“

Jetzt ist der 67jährige ohne bekannte Vorerkrankungen also auf unserer Notfall, mit HFNC am Anschlag, alle NIV-Betten belegt, alle unsere ICU-Betten belegt außer das einzige Notfallbett fürs ganze Spital.

->Trotz HFNC (Nasale High-Flow-Therapie bei respiratorischer Insuffizienz) am Anschlag Aufnahme auf unsere Normalstation.

Die Intensivversorgung bricht gerade zusammen

Hoffen darf man. Dass sich aber angesichts so einer Lunge durch ein bisschen Cortison keine rasche Verbesserung erreichen lässt, überrascht nicht.

Über Nacht weitere langsame Verschlechterung. In der Früh Entscheidung, das Notfallbett zu „opfern“. Verlegung auf die ICU.

Fast gleichzeitig Anfrage der Pulmo, 57jähriger Mann mit Vorerkrankungen, noch an HFNC, rasche Verschlechterung, deren eigene Überwachungsstation brettlvoll.
Sorry, Pulmo, müssts in einem anderen Spital suchen.

Das ist der Bericht aus einem einzigen Spital. An einem Tag, als in Wien netto 13 zusätzliche COV+ ICU-Betten belegt wurden. Nur eines davon bei uns. Ich will mir gar nicht ausmalen, was in einigen anderen Spitälern los war.

Kann sein, dass mein Arbeitgeber unglücklich über meine Schilderung ist (wäre unnötig, denn der Gesundheitsverbund macht in dieser Krise einen großartigen Job, an ihm liegt es nicht). Kann sein, dass mir wer Preisgabe von Pat.details vorwirft.

Aber man kann nicht ruhig zusehen, wie wir nur mehr einen kleinen Schritt von London Dezember 2020 entfernt sind. Während über „kluge Öffnungen“ gesprochen wird und jeden 2.Samstag Coronaleugner durch Wien ziehen, bricht die Intensivversorgung gerade zusammen.


Ist das Absicht oder Shit happens?

Doch ist dieses Versagen nicht auf unfähiges Behördenpersonal und deren Köpfe alleine zurückzuführen. Sondern es ist Absicht, so meine These. Wie die Leserinnen und Leser dieses Blogs wissen, gibt es in der wissenschaftlichen (und politischen) Diskussion zur Pandemiebekämpfung zwei Richtungen. Die eine markieren die so genannten Barrington Brothers, die darauf setzen, eine natürliche Herdenimmunität zu erreichen. Stichwort schwedischer Weg: Das normale Leben sollte weiter gehen. Nur die Risikopersonen sind zu schützen. Tote seien als Kollateralschäden auf dem Weg zur natürlichen Herdenimmunität zu akzeptieren. Impfungen verkürzen dabei den Weg dortin. Das Konzept kann in der Great Barrington Declaration nachgelesen werden. In der Wissenschaftsgemeinschaft ist dies die eindeutige Mindermeinung.

Die andere Richtung, der die Mehrheit anhängt, hat sich im John Snow Memorandum versammelt. Sie fordern harte Lockdowns, unter anderem mit dem Argument, dass es in Zeiten einer Pandemie keinen partiellen Schutz vor Ansteckung geben wird. Ziel staatlichen Handelns muss es daher sein, die Inzidenzen immer so niedrig wie möglich zu halten. Denn es sei seine ureigene Aufgabe, die Gesundheit aller Bürger zu schützen. So gut er kann, wenn er denn will.

Der Paradigmenwechsel in der österreichischen Politik

Was aber als Behördenversagen erscheint, ist in Wahrheit ein Paradigmenwechsel, der schmerzt und frustriert. Wir haben es mit mehr als dem typisch österreichischen Durchwurschteln zu tun. Die Politik hat vom Snow-Memorandum zu Barrington gewechselt. Sie setzt auf Durchseuchung solange, bis wir genug impfen können. Damit geht auch einher, die Aufgaben des Staates neu zu definieren. Das hat Gesundheitsminister Anschober gestern im übertragenen Sinne getan, wenn er in der ZiB2 meinte, dass er die steigenden Zahlen beobachte. Damit ist der neoliberale Nachtwächterstaat, den Barrington impliziert, ausgerufen. Unser Survival of the fittest in Zeiten der Pandemie kostet jeden Tag vermeidbar Menschenleben. Die Frage ist: Wollen wir uns das gefallen lassen?


Fotonachweis: Wiener Gesundheitsverbund. Aus ihren aktuellen Handlungsempfehlungen zur Therapiezielfindung in der Intensivmedizin.

1 Gedanke zu „Von Snow zu Barrington: Der Paradigmenwechsel in der österreichischen Politik“

  1. Ich muss in einem Punkt widersprechen:

    Österreich vollzog diesen Paradigmenwechsel bereits gegen Ende des ERSTEN Lockdowns. Allerbergers „Barrington Brother“ Tegnell in Schweden startete im April seine internationale Werbung für den „Schwedischen Weg“ (z.B. mit einem Webinar mit Brasilien). Bereits im Mai 2020 begann sich das Stimmungsbild unter den Regierungsberatern zu drehen. Weiss, der die Verlängerung der Quarantäne in Tirol zuerst befürwortete, forderte Anfang Mai plötzlich deutliche Lockerungen (der Maskenpflicht), die auch umgesetzt wurden. In den Folgemonaten startete eine massive Verharmlosungskampagne (Kinder und Schulen! Die Schuldirektoren wussten es seit März, siehe Glattauer!), die bis heute andauert. Der einzige Unterschied ist lediglich, dass die Politiker den Schwedischen Weg der Durchseuchung jetzt nicht mehr verbergen, sondern „sie gehen auf Risiko“, trotz Triage-Warnungen und -Berichten. Selbst geschönigt sind die Zahlen aktuell verheerend. Aber den Wechsel gab es schon viel früher.

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