In der Nacht auf heute wurden zwei in Österreich geborene Mädchen und ihre Mutter nach Georgien abgeschoben. Das hätte klammheimlich passieren sollen, zur Überraschung der Behörden fanden sich aber Dutzende Demonstrierende ein, darunter auch einige prominente Gesichter. Eine Reportage von unserem neuen Gastautor Florian Bayer. Er war in der Nacht vor Ort.
Im Niemandsland in Wien
Es ist ein breiter Weg in die Wiener Zinnergasse 29, zu einem langen barackenartigen Bau im Niemandsland zwischen Simmeringer Haide, Donaukraftwerk Freudenau und Alberner Hafen. Hier stand einst das „Kardinal König Integrationshaus“, heute ist es ein Schubhaft-Gefängnis oder „Abschiebe-Knast“, wie viele sagen. Ganze 30 Euro würde die Taxifahrt vom Hauptbahnhof hierher kosten, jedenfalls zu diesem Zeitpunkt. Am Rad sind es 10 Kilometer, das ist machbar.
Viele wollen ein Zeichen setzen
Bei der Ankunft kurz vor 1 Uhr ist die Stimmung aufgekratzt, alle haben sich beeilt, rechtzeitig zu kommen. Rudi Fußi steigt gerade aus dem Auto, Florian Klenk filmt ihn, und viele MitschülerInnen der beiden Mädchen, der eine oder andere Politiker und eine Handvoll JournalistInnen und FotografInnen sind schon da. Bald serviert ein kleiner VW-Bus Kaffee aus dem Fenster, ein paar gute Seelen haben Thermoskannen und Plastikbecher mitgebracht. Man kennt sich, wenn auch mitunter nur von Twitter. Kaum jemand rechnet damit, die Abschiebung verhindern zu können, doch man wolle dabei sein und ein Zeichen setzen.
Der Vater ist da, um Abschied zu nehmen
Ums Eck stehen zwei größere Polizeiautos, deren Besatzung freundlich, aber bestimmt keine Auskunft gibt. Man sei hier wegen „einer größeren Menschenansammlung“ sagt der nette Polizist. Auf die Nachfrage, ob nicht vielmehr eine Abschiebung der Grund sei, gibt er keine Antwort. Man dürfe nichts sagen. Ob es um 3 Uhr so weit sei, wie es heißt? Kein Kommentar.
Nach und nach kommen immer mehr Leute, immer wieder fahren Taxis vor. Irgendwann kommt die Idee auf, sich in zwei Gruppen aufzuteilen. Eine solle beim Haupteingang bleiben, die andere von den anderen beiden Einfahrten – die eine 300 Meter weiter an der Zinnergasse, die andere von der kleineren Margetinstraße – her kommen. Der Vater von Tina und Lea, die hier und heute mit ihrer Mutter abgeschoben werden sollen, kennt den Weg. Er hier, um zumindest Abschied nehmen zu können, denn er wird nicht abgeschoben. Keine Minute zu früh geht die Gruppe los.
Und dann erstirbt der Dialog
Der Konvoi steht bereits in den Startlöchern, im Inneren der Anlage. Erst wollen uns, von der zweiten Zufahrt Zinnergasse kommend, Polizisten nicht weitergehen lassen, doch dann wirkt eine forsche, aber nicht ganz wahrheitsgemäße Ansage, wir seien allesamt von der Presse, Wunder. Wir dürfen weiter, gehen einmal ums Eck und sehen den Polizeikonvoi, der bereits langsam anfährt. Allzu sehr dürfen wir uns nicht annähern, eine Handvoll Polizisten versperrt uns den Weg.
Sie wissen nicht so recht, wer hier eigentlich abgeschoben werden soll und äußern durchaus Verständnis und Anerkennung, dass die Demonstrierenden heute da sind. Die Polizei müsste aber ihren Job machen und es gebe nun mal einen Abschiebungsbescheid. Das gegenseitige Verständnis kommt bald an seine Grenzen, der Dialog erstirbt, dann ist es soweit: Wir müssen zur Seite treten, der Konvoi aus sieben oder acht Polizeitransportern, setzt sich im Schritttempo in Bewegung. Er kommt nicht weit und bleibt auf einem schmalen Stück Straße stehen. Wo er auch auf Stunden stehenbleiben wird – davor und dahinter stehen eine Gruppe Demonstranten.
Es kommen immer mehr Menschen
Wer auf die andere Seite will, muss um das Gelände außen herum gehen, ein Weg von zehn Minuten. Etwas später ist dort bereits ein Sitzstreik im Gange. Ein gutes Dutzend Jugendliche hatte Mülltonnen, Einkaufswägen und Sperrmüll gesammelt, die Straße verbarrikadiert und sich auf den Boden gesetzt. Sie schauen Richtung Konvoi, die Polizisten Richtung Sitzstreik. Nur wenige Meter und ein heruntergelassener Balken trennen die beiden Seiten voneinander. Die Polizei bleibt passiv, es gibt keine Aufforderungen, die Straße zu räumen. Gegenseitiges Unverständnis, die Abzuschiebenden sitzen derweil in den Autos und wissen wohl nicht, wie ihnen geschieht.
So bleibt es für einige Zeit. Es kommen immer mehr und mehr junge Menschen an. Auch die Polizei bekommt Nachschub, erst stückweise, dann kommen ganze Mannschaften in Vollmontur daher. Auch scharfe Hunde sind im Einsatz, werden zwischenzeitlich aber wieder weggeführt. Einige der Demonstrierenden berichten von Häme und Beleidigungen seitens der Polizisten gegenüber den beiden Mädchen. Gut möglich, mir wäre aber nichts dergleichen zu Ohren gekommen.
Demonstrierende und Polizisten stehen und warten
Die jungen Demonstrierenden entrollen Poster mit den Aufschriften „Refugees welcome“ und „Bleiberecht für alle“. Die Einfahrt zum Gelände ist bald mit Demonstrierenden gesäumt, gefolgt von einem einreihigen, später größer werdenden Polizeikordon, den nur Presse-MitarbeiterInnen passieren dürfen und das auch eher abhängig vom goodwill des gefragten Polizisten. Einige Schritte weiter: Der Sitzstreik, grell ausgeleuchtet von den Scheinwerfern der VW-Polizeiautos. Der Motor der Autos läuft, vor und hinter dem ersten Wagen stehen Polizisten. Die Mädchen, die abgeschoben werden sollen, sind nicht zu sehen. Demonstrierende und Polizisten stehen und warten. Alle warten.
Immer wieder werden Parolen skandiert, „Hoch die Antinationale (sic)“ etwa. Einmal fragt Florian Klenk bei den mutmaßlichen Einsatzleitern nach, wie es denn weitergehe. Das gehe ihn nichts an, er schreibe sowieso nur für eine „Heislpapierzeitung“, auch anderweitige Beleidigungen fallen. Klenk will die Dienstnummer des Polizisten wissen, der erst herumdrucksert, dann absichtlich viel zu schnell spricht und sie erst beim dritten Mal verständlich nennt. Und dann heißt es Abmarsch für uns, Einsatzbesprechung.
Weiter warten. Immer wieder hört man vielstimmige Parolen von der anderen Seite des Konvois, Luftlinie bloß 100 Meter entfernt. Lebenszeichen der anderen Demonstrierenden, die ebenfalls die Stellung halten. Längst hat sich auch eine Reihe an der niedrigen grünen Rampe in der Margetinstraße gebildet, mit Blick auf die Vorderseite des Konvois. Ein junger Bursch klebt sich die Hand an eine Schrankenanlage, die offensteht. Betonierte Verhältnisse.
Alle tragen Masken
Weiter Smalltalk, weiter gebanntes Warten, die Polizei wirkt, als hätte sie alle Zeit der Welt. Mittlerweile ist eine Hundertschaft da, die Straße ist vollgeparkt mit Polizeiautos, der Straßenverkehr wird längst umgeleitet. Polizisten mit WEGA-Abzeichen und schwarzen Gesichtsmasken marschieren auf. Polizisten mit Helmen. Und die scharfen Hunde kommen wieder, knurrend, aber angeleint und mit ausreichend Abstand.
Dann, um halb 5, fährt ein Polizeiauto mit Leuchtschrift-Anzeige nah an die Demo heran. Man solle Mund-Nasen-Schutz tragen und zwei Mindestabstand halten, heißt uns die grüne Schrift freundlich. Alle hier tragen Masken, der Hinweis wäre nicht nötig gewesen. Auch die Polizisten tragen sämtlich Maske, wenn auch mitunter widerwillig, wie man in einzelnen Wortmeldungen hört.
Plötzlich: Die Versammlung habe einen „die öffentliche Ordnung bedrohenden Charakter“ angenommen
Längst sind die Demonstrierenden, noch dazu verteilt auf die zwei bis drei Zufahrten, in der Minderzahl. Die Polizei bleibt passiv. Warten, Smalltalk, Bangen. Wann wohl der Abschiebeflug gehen wird? Niemand weiß es. Viele stellen sich innerlich ein, dass das noch so lang dauern wird, bis Innenminister Karl Nehammer seinen Frühstückskaffee trinkt und die entscheidende Order gibt.
Dann eine Lautsprecherdurchsage, um 4.47 Uhr: „Die Landespolizeidirektion stellt fest, dass diese Versammlung eine die öffentliche Ordnung bedrohenden Charakter angenommen hat und löst diese Versammlung, gemäß den Bestimmungen des Versammlungsgesetzes, auf.“ Weit und breit kein bedrohender Charakter, alle sind friedlich, es sind noch nicht einmal Betrunkene da. Und: Die Polizei macht keine Anstalten, die Veranstaltung aufzulösen. Nichts geschieht. Wir warten weiter.
Dann geht es schnell
Dann, um Punkt fünf, geht alles ganz schnell. Einer schreit ein unverständliches Kommando. Tritte. Schläge. Schreie. Die Polizei zerrt Menschen mit Brachialgewalt weg, schleift sie am Asphalt entlang. Manche Polizisten schlagen auf friedlich Demonstrierende ein. Die Geschlagenen fallen hin oder werden gerade noch von den Umstehenden aufgefangen. Manche wehren sich, aber nur kurz. Die meisten gehen ein kleines Stück auf Abstand, das reicht, die Polizei schließt die Reihen.
„Was ist das für eine Gewalt, herst?“ und „Wieso haut’s ihr zu?“ rufen die Leute. Die Hunde bellen aggressiv, werden aber nicht losgelassen. „Ganz Wien hasst die Polizei“, skandieren viele. Dann bahnt sich der Konvoi seine Bahn durch Polizisten und die wenigen noch im Weg stehenden verbliebenen Demonstrierenden. Die Autos fahren um die Kurve, bleiben kurz stehen, warten zusammen, drehen das Blaulicht auf und düsen davon, wohl direkt Richtung Ostautobahn zum Flughafen. Buhkonzert der Demonstrierenden. Kaum jemand kann fassen, was innerhalb der letzten Minute geschehen ist. Schwer verletzt ist wohl niemand, erschüttert von der unverhältnismäßigen Eskalation wohl alle.
Fassungslosigkeit nach Schlägen und Tritten
Die beiden Mädchen, in Österreich geboren und aufgewachsen, und ihre Mutter, die stundenlang in den Autos festsaßen und nicht wissen, ob sie morgen noch in Österreich aufwachen, werden abgeschoben. Mit ihnen wohl einige andere mehr, deren Namen wir nicht kennen. Das Innenministerium hätte bis zuletzt noch ein „humanitäres Bleiberecht“ aussprechen können, welches ja besonders für sogenannte „Härtefälle“ vorgesehen ist. Dies geschah nicht.
Ein weiteres gebrülltes Kommando, dann nehmen die Polizisten Haltung ein. Noch ein Schrei, es könnte „Abtreten!“ gewesen sein, und sie gehen gemächlich zu ihren Autos. Manche der Jugendlichen und Antifa-Demonstranten werfen ihnen Schneebälle nach, andere applaudieren ihnen für die „tolle Leistung“, wieder andere fragen, ob sie heute eh gut schlafen werden.
Ein Stück mehr Orbán-Ungarn
Die Polizei geht auf keine der Provokationen ein. Die Stimmung bleibt dennoch äußerst angespannt, aber vor allem tief enttäuscht. Die Polizei verzieht sich, ein paar wenige Schockminuten, dann tun es ihnen die Demonstrierenden gleich. Ein letztes Interview von Puls24, dann sind auch die Journalisten weg. Frühverkehr, Schneegestöber, Arbeitswege. Ein Morgen für die Außenwelt wie jeder andere. Für die abgeschobenen Mädchen das Ende ihres Lebens, wie sie es bisher kannten. Und auch für die Demonstrierenden und alle Augenzeugen. Österreich ist in dieser Nacht ein gutes Stück mehr Orbán-Ungarn geworden.
Auszug aus der UN-Kinderrechtskonvention
Artikel 22
(1) Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um sicherzustellen, daß ein Kind, das die Rechtsstellung eines Flüchtlings begehrt oder nach Maßgabe der anzuwendenden Regeln und Verfahren des Völkerrechts oder des innerstaatlichen Rechts als Flüchtling angesehen wird, angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung der Rechte erhält, die in diesem Übereinkommen oder in anderen internationalen Übereinkünften über Menschenrechte oder über humanitäre Fragen, denen die genannten Staaten als Vertragsparteien angehören, festgelegt sind, und zwar unabhängig davon, ob es sich in Begleitung seiner Eltern oder einer anderen Person befindet oder nicht.
Alles Fotos sind von Florian Bayer.
Die Zumutung fängt schon da an, dass Kinder, die in Österreich geboren werden, nicht automatisch die Staatsbürgerschaft erhalten. Das ist eine Gesetzeslücke, die dringend überarbeitet werden müsste. Wie ist das, in einem Land aufzuwachsen ohne die Gewissheit einer Zugehörigkeit, die rechtlich gesichert ist? Was für ein niederschmetterndes Signal diese Abschiebung an all die Kinder ist, die nicht mit dem Selbstverständnis eines Kindes österreichischer Eltern aufwachsen dürfen.
Wir müssen dafür kämpfen, dass Österreich nicht noch mehr Orban Ungarn wird. Wie unmenschlich, hier in Österreich geborene Kinder mit Polizeigewalt und vorherigem Kinderknast aus unserem Land zu werfen. Wenn Familienrecht und Kinderrechte tatsächlich angewendet worden wären, so hätte so etwas niemals geschehen dürfen. Der Herr Innenminister war wohl zu sehr mit dem BVT Skandal beschäftigt.
„Dunkel türmen vor den Scheiben sich Gespenster
Die Dunkelheit kommt zu Besuch ans Fenster“
Wie gut diese Zeilen des polnischen Lyrikers Jacek Dehnel zur eindringlichen Reportage von Florian Bayer über nächtliche Kinderabschiebungen passen.