Das Narrativ der Rechtsextremisten unterscheidet sich kaum von jenem der gewalttätigen Islamisten! Ein Interview mit Heinisch und Scholz

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By Redaktion Semiosis

Nina Scholz und Heiko Heinisch analysieren seit einigen Jahren die Netzwerke des politischen Islam in Europa. Sensibilisiert durch ihre Studien zum Antisemitismus und Nationalsozialismus warnen sie davor, Integration auf die leichte Schulter zu nehmen. Nun haben sie mit „Alles für Allah“ ein gemeinsames Buch zum Thema vorgelegt. Sebastian Reinfeldt hat sich mit ihnen über Identitätspolitik unterhalten, über die Netzwerke des politischen  Islam und was unter diesem Stichwort überhaupt zu verstehen ist. Das rechtsextreme Attentat gegen Muslime in Christchurch kam dabei ebenso zur Sprache: „Wir gehen der Identitätspolitik der Islamisten auf den Leim und stützen nebenbei die Narrative der extremen Rechten, die dieselbe Identitätspolitik, nur mit umgekehrten Vorzeichen, teilen.“


Sozialisation und die damit verbundenen Einstellungen und Vorurteile legen Menschen nicht an der Grenze ab

Im Schlusskapitel eures Buches werden die Einwanderer der letzten Jahre als „islamistisch“ und „kollektivistisch“ beeinflusst charakterisiert. Ist es aber nicht auch so, dass mindestens genauso viele Menschen nach Europa einwandern, eben weil sie aus jenen Systemen fliehen wollen?

Heinisch: Wir schreiben im Buch, dass unter den Flüchtlingen und Migranten viele sind, die konservative und fundamentalistische Islamvorstellungen mitbringen, dass sie in kollektivistischen, oft extrem frauenfeindlichen Gesellschaften sozialisiert worden sind. Ihre Sozialisation und die damit verbundenen Einstellungen und Vorurteile legen Menschen nicht an der Grenze ab.
Gleichzeitig schreiben wir auch, dass sich unter ihnen Menschen befinden, die das Leben in einer freien Gesellschaft schätzen, die wegen ihres Engagements für Menschenrechte fliehen mussten, die es vorziehen, frei von Bevormundung durch Tradition oder Religion zu leben. Kacem El Ghazzali, der einst aus Marokko in die Schweiz geflüchtet ist, bezeichnete sich und die zuletzt erwähnten einmal als Menschen, die „schon integriert ankommen“.
Wir haben als Gesellschaft die humanitäre Verpflichtung, Menschen aufzunehmen, die vor politischer Verfolgung oder Krieg fliehen, aber dauerhaft Willkommen können und sollten uns nur jene sein, die Freiheit, Menschenrechte und Gleichberechtigung schätzen und in einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft leben wollen.

Am Ende kann niemand zur Integration gezwungen werden

Stoßen wir eine große Gruppe von Einwandern mit der Stigmatisierung „potentiell islamistisch“ nicht in eine Kultur zurück, der sie eigentlich entkommen wollen?

Scholz: Stigmatisierung und Pauschalisierung liegen mir fern. Ich würde nicht den Begriff „potentiell islamistisch“ verwenden. Es ist jedoch offensichtlich, dass sich gerade unter Einwanderern aus islamischen Ländern eine signifikante Gruppe befindet, die eine liberale Gesellschaft und die mit ihr verbundenen Freiheiten ablehnt. Man kann diese Menschen nicht einfach nur als „sie sind noch nicht soweit“ betrachten. Und auch nicht so tun –  wie das oft geschieht – als handele es sich um Unmündige. Man sollte nicht einfach davon ausgehen, dass sie früher oder später der Strahlkraft von Freiheit und Demokratie erliegen, wenn sie ihnen nur gut genug erklärt würden. Wir können Menschen anbieten, sich in diese Gesellschaft zu integrieren, aber dafür ist ein gewisses Maß an Wertschätzung auch auf ihrer Seite nötig. Am Ende kann niemand zur Integration gezwungen werden. Wenn die Gesellschaft, die Werte und Gesetze des Aufnahmelandes als falsch, als unmoralisch und als Gefahr für die eigenen Kinder betrachtet werden, haben wir ein ernsthaftes Problem. Wie gehen wir mit Menschen um, die zwar hier leben möchten, aber eine sehr andere Vorstellung vom „guten und richtigen Leben“ haben? Wir können nicht immer mehr Menschen aufnehmen, die diese Gesellschaft ablehnen, ohne dass der gesellschaftliche Zusammenhalt und der gesellschaftliche Frieden gefährdet werden.

Heinisch: Ich denke, dass gerade jene, die sich hier integrieren wollen und vor Autoritarismus, religiöser Unduldsamkeit und Intoleranz ihrer Heimatländer geflohen sind, oft eine wesentliche realistischere Einschätzung haben. Sie kennen die verbreiteten Einstellungen des gesellschaftlichen Mainstreams islamischer Staaten besser als die meisten hier autochthonen Europäer. Seit vielen Jahren, lange vor der großen Migrationsbewegung von 2015, sind gerade Menschen die selbst oder deren Vorfahren aus einem islamischen Land eingewandert waren, die größten Kritikerinnen und Kritikern der zunehmenden Islamisierung der islamischen Welt und muslimischer Communitys im Westen – und der daraus resultierenden Folgen.

Der politische Islam ist ein islamischer Puritanismus

Ein Knackpunkt in eurem Buch ist die Definition von „Islamismus“ und „politischer Islam“. Diese beiden stehen offenbar im Unterschied zu einem gewöhnlichen Islam ohne politischen Anspruch. Wo seht ihr da die Grenzlinie, nach der man das eine vom anderen unterscheiden kann?

Heinisch: Zunächst verwenden wir die beiden Begriffe synonym. Die Abgrenzung zu einem nicht-politischen Islam wäre dort zu ziehen, wo die Religion nicht nur als spirituelles Angebot oder als Regelwerk für das persönliche Leben betrachtet wird, sondern als politisch-religiöses Konzept. Also dann wenn der Islam die Grundlage der idealen Gesellschaft und des idealen Staates bilden soll und das Leben der Menschen bis in intime Bereiche hinein bestimmen soll. Es sind die Vordenker des Islamismus selbst, die die Religion in dieser Art und Weise definiert haben. Hasan al-Banna, der Gründer der Muslimbruderschaft, entgegnete auf den Vorwurf, seine Bewegung mache Politik und nicht Religion, dass diese Politik der Islam sei. Im Verständnis der Muslimbrüderschaft kennt der Islam die Trennung in Religion und Politik nicht. Unter politischem Islam verstehen wir die Ideologie einer Bewegung, die Staat und Gesellschaft nach islamischen, als von Gott gegebenen imaginierten Regeln umgestalten will.

Scholz: Der französische Staatsrat Thierry Tuot hat das Phänomen meiner Meinung nach gut auf den Punkt gebracht: Islamismus sei das öffentliche Einfordern von sozialen Verhaltensweisen, die als göttliche Gebote präsentiert werden und in den öffentlichen und politischen Raum eindringen. Es beschreibt recht gut, was wir seit etwa 15 Jahren in Europa, je nach Land in unterschiedlichem Maße, beobachten können: In bestimmten Stadtteilen und ganz besonders auch in Schulen nimmt religiös motiviertes Mobbing zu. Jugendliche aus muslimischen Familien schwingen sich zu Sittenwächtern auf, die Mitschülerinnen und Mitschüler drangsalieren, wenn diese sich nicht an einen islamischen Codex halten. Also zum Beispiel nicht den Ramadan halten wollen, keine Kopftücher tragen, sich nicht im islamischen Sinne zurückhaltend kleiden oder Kontakte zum anderen Geschlecht pflegen. Das sind Zeichen der Ausbreitung einer puritanischen islamischen Strömung. Sie hat in nahezu allen islamischen Ländern gesellschaftliche Hegemonie erlangt. Auch die muslimischen Communitys im Westen blieben davon nicht unbeeinflusst.
Der politische Islam ist ein islamischer Puritanismus, der in den Texten der islamischen Überlieferung die verbindliche Grundlage für soziale Normen sieht, die allesamt als gleichermaßen wichtig und notwendig betrachtet werden. Um in diesem Sinne ein guter Muslim, eine gute Muslimin zu sein, reicht es nicht, die traditionellen fünf Säulen des Islam zu beachten, vielmehr sind alle Regeln des allgemeinen und alltäglichen Verhaltens zu befolgen: Alkoholverbot, Speisevorschriften, Kleidervorschriften, Regeln für den Umgang mit Andersgläubigen, Regeln für den Umgang der Geschlechter und vieles mehr. Anhand dieses Regelwerks, der Einteilung jedes Lebensbereichs in haram und halal zieht der politische Islam eine deutliche Grenze zwischen Menschen, zwischen Muslimen und „Ungläubigen“.

Die Muslimbruderschaft ist eine ideologische politische Bewegung

Wenn ihr über die Muslimbrüderschaft schreibt, erhält man den Eindruck, es ist eine Art islamisch geprägte Geheimgesellschaft. Sie ist zweifelsohne ein wichtiger politischer Akteur. Wie kann sich da eine wissenschaftliche Analyse von Verschwörungstheorien über den Islam abgrenzen?

Heinisch: Die Muslimbruderschaft muss man sich als ideologische politische Bewegung vorstellen. Im Inneren existiert eine Organisation, ein harter Kern, in dem die ideologischen Leitlinien definiert werden. Aus diesem Kreis stammt auch das im Buch zitierte Strategiepapier der Muslimbruderschaft. Um diese Kernorganisation herum ist ein großes Netzwerk unterschiedlichster Organisationen entstanden, von religiösen Vereinen, Sozialprojekten, Jugendorganisationen, Anti-Rassismusinitiativen, Bildungseinrichtungen oder auch ein in Europa tätiger sogenannter Fatwa-Rat. Nur ein Teil dieser Organisationen sind unmittelbar Organisationen der Muslimbruderschaft. In diesen Organisationen tauchen unter den Gründern oder Leitern die immer gleichen Namen auf. Andere Organisationen sind mehr oder weniger stark mit diesem Netzwerk verbunden, haben eventuell einzelne Muslimbrüder und -schwestern in der Führung, ohne dass alle Mitglieder etwas mit der Bruderschaft zu tun haben müssen. Oft wissen sie gar nicht, dass sich in ihren Reihen Muslimbrüder befinden: Klassische Vorfeldorganisationen. Daneben gibt es noch ein großes Feld von Sympathisanten, die die Ideologie der Bruderschaft mittragen und unterstützen. Natürlich sind nicht alle und nicht in allen Bereichen auf der gleichen Linie. Selbst in den inneren Zirkeln der Organisation kommt es, wie in jeder anderen politischen Bewegung auch, zu Flügelkämpfen. Die Muslimbruderschaft ist immerhin eine Massenbewegung.

Scholz: Im Vorgehen unterscheidet sie sich nicht so sehr von anderen politischen Bewegungen. Ähnliche Strategiepapiere wie das im Buch zitierte der Muslimbruderschaft von 1982 kennen wir auch von kommunistischen Organisationen dieser Zeit. Das Vorgehen letzterer war in den 1970er und 1980er Jahren dem der Muslimbruderschaft sehr ähnlich: Etwa der Versuch, soziale Bewegungen wie die Friedensbewegung zu infiltrieren und sich letztlich an die Spitze derselben zu stellen. Oder der berühmte Marsch durch die Institutionen. Mit Verschwörung hat das nichts zu tun. Es sind schlicht Möglichkeiten, die politische Bewegungen vorfinden und nutzen, um Macht zu erlangen und ihre Vorstellungen in die Gesellschaft zu tragen. Islamisten wurde dieser Weg bislang leicht gemacht. Anders als bei extremistischen politischen Bewegungen, die nicht mit einer religiösen Agenda versehen sind, wurde die Ideologie und die mit ihr einhergehende Gefahr lange unterschätzt und wird es zum Teil noch immer. Selbst Einschätzungen des Verfassungsschutzes werden von der Politik oft ignoriert.
Von Kirchen bis hin zu diversen politischen Parteien wird vor allem mit Gruppen aus dem politisch-islamischen Feld kooperiert. Etwa in Dialogrunden oder bei politischen Fragen von der Integration bis zur Flüchtlingsbetreuung und Antirassismus-Arbeit. Mitgliedern islamistischer Organisationen ist es immer wieder gelungen, in politischen Parteien aktiv zu werden. Man denke an die Milli Görüş Mitglieder in der Sozialdemokratie oder der ÖVP. Offensichtlich ist lange niemandem aufgefallen, dass die Ideologie der Milli Görüş mit eigenen Parteilinie nicht in Einklang zu bringen ist. Oder man hat diese Frage wahltaktischen Überlegungen untergeordnet.

Millî Görüş hängt der Vision eines geeinten Kalifats unter osmanischer Führung an

Wie ist das Verhältnis von Millî Görüş zu ihrer „Partnerorganisation“, der Muslimbruderschaft? Agieren sie eher gemeinsam, oder konkurrieren sie um Mitglieder und Einfluss?

Heinisch: Laut Aussagen von Ibrahim Munir, einem Führungsmitglied der ägyptischen Muslimbruderschaft und derzeitigem Generalsekretär der Internationalen Organisation der Muslimbruderschaft, verzichtet die Bruderschaft in Ländern, in denen bereits Organisationen existieren, deren Ziele mit jenen der Bruderschaft übereinstimmen, darauf, eigene Organisationen aufzubauen. Sie arbeitet stattdessen mit bestehenden Organisationen zusammen. Etwa mit Jamaat-e-Islami in Pakistan, Indien und Bangladesch oder mit Milli Görüş in der Türkei. Das ist auch im erwähnten Strategiepapier so festgelegt. Auf der anderen Seite gibt es natürlich Auseinandersetzungen um Einfluss und Macht. Zudem folgt Milli Görüş nicht nur einer islamistischen, an die Muslimbruderschaft angelehnten Ideologie, sondern hat die Vision eines geeinten Kalifats unter osmanischer Führung. Milli Görüş bedeutet „Nationale Sicht“, gemeint ist damit aber nicht Nationalismus im europäischen Sinne, sondern eine Art Neo-Osmanismus.
Präsident Erdoğan, der selbst aus der Milli Görüş kommt, versuchte, sich 2011 an die Spitze der damaligen Aufstände in der arabischen Welt zu stellen und bot den Muslimbrüdern in Ägypten und Tunesien seine Unterstützung an. Nach dem Putsch as-Sisis in Ägypten flüchteten viele Muslimbrüder in die Türkei. Sie ist heute neben Katar eines der wichtigsten Zentren der Bruderschaft darstellt.

Scholz: Im Januar fand in Köln eine Diyanet/DITIB-Konferenz statt. Auch das ist ein Zeichen für das ideologische Zusammenwachsen von staatlicher türkischer Religionsbehörde Diyanet, Milli Görüş und Muslimbruderschaft in Europa unter Führung der staatlichen türkischen Religionsbehörde. Es ist oft nicht einfach zu sagen, wo Konkurrenz endet und Zusammenarbeit beginnt. So verfolgt etwa Saudi Arabien die Muslimbrüder im eigenen Land und unterstützt Ägyptens Regime gegen die Bruderschaft. Gleichzeitig arbeiten die Saudis im Rahmen der Islamischen Weltliga eng mit der Bruderschaft zusammen, wenn es um Mission in nicht-islamischen Ländern geht.

Eine Identitätspolitik, die Partizipation bei gleichzeitiger Segregation will

Eine wissenschaftliche Analyse einer Ideologie und ihrer Verbreitung muss auf die Institutionen und Netzwerke eingehen, in denen Ideologien „produziert“ werden und zirkulieren. Wie schaut das mit dem Islamismus in Österreich aus? Wo wird er wie verbreitet?

Scholz: Nur sehr wenige Organisationen und Personen bekennen sich offen zur Muslimbruderschaft. Jamal Morad ist einer der wenigen, der sich in Österreich zur Bruderschaft bekennt. In einem Interview mit einem ägyptischen Fernsehsender bezeichnete er sich 2013 als Kader der Muslimbruderschaft in Österreich und die von ihm gegründeten Organisationen als solche der Muslimbruderschaft. Gemeint ist damit unter anderem die Liga Kultur, die sich übrigens auch zu ihrer Mitgliedschaft in der FIOE, dem europäischen Dachverband der Muslimbruderschaft, bekennt.

Heinisch: Besorgniserregend sind aktuell insbesondere die Entwicklungen im Bereich türkisch-islamischer Organisationen. Die staatliche türkische Religionsbehörde ist zu einem Instrument von Erdoğans Islamisierungskurs geworden, das ideologisch an der Milli Görüş ausgerichtet wird. Auch die Grauen Wölfe sind mittlerweile eng mit Erdoğan verbunden.
In den letzten Jahren wurde die gesamte Führung der Religionsbehörde in der Türkei ausgewechselt. Das schlägt nach und nach in die einzelnen Moscheevereine außerhalb der Türkei durch. Damit sind die beiden größten Moscheeverbände im deutschsprachigen Raum (in Österreich ATIB und Islamische Föderation (Milli Görüş), in Deutschland DITIB und Islamische Gemeinschaft Milli Görüş), als politisch islamische Organisationen zu betrachten. Man hört vereinzelt von internen Streitereien über den Einfluss aus der Türkei, deren Ausmaß und Auswirkungen aber bislang nicht einzuschätzen sind.
Für Österreich ergibt sich ein besonders Problem: Die Islamische Glaubensgemeinschaft IGGÖ ist als Vertretung der Muslime staatlich anerkannt und damit ein politischer Player. Nun wird aber diese Vertretung von Milli Görüş und ATIB dominiert. Also genau den beiden Organisationen, die von der Türkei gesteuert werden und eine Identitätspolitik betreiben, die Partizipation bei gleichzeitiger Segregation anstrebt. Ob dabei alle in der IGGÖ organisierten ethnischen Gruppen dauerhaft mitspielen, ist eine andere Frage.

Identitätspolitisches Denken führt zu einer Zwangskollektivierung von Menschen

Welche philosophische Reaktion auf die vom politischen Islam betriebene „Politik
der vollen Identität“ (Isolde Charim) schlagt ihr vor?

Scholz: Eine Auswirkung dieser Politik besteht darin, dass man heute von „Muslimen“ spricht, wo früher von Türken, Bosniern etc. gesprochen wurde. Im Diskurs sind alle Menschen, die selbst oder deren Vorfahren aus einem islamischen Land eingewandert sind, zu Muslimen geworden. Auch solche, die nicht religiös sind. Dieses identitätspolitische Denken führt zu einer Zwangskollektivierung von Menschen, von denen in der Folge erwartet wird, dass sie sich so verhalten, wie man es – in der Innen- und Außensicht – von Mitgliedern dieser Gruppe erwartet. Von identitären Muslimen wird ein Muslim, der Kritik an muslimischen Communitys, Organisationen oder am Islam übt, als Verräter, neuerdings auch als „Hausmuslim“ denunziert. Islamlobbyisten erwarten, dass „Muslime“ sich für die vermeintlichen Anliegen der Muslime einsetzen. So hat etwa der Wiener SPÖ-Landtagsabgeordnete Omar al-Rawi mehrere arabischstämmige NEOS-Mitglieder namentlich auf Facebook als „NEOS-Aktivisten aus unserer Community“ angesprochen, um sie aufzufordern, gegen den Antrag der NEOS zum Kopftuchverbot in Schulen aktiv zu werden. Unter Linken und bei den Kirchen ist oft eine Abneigung gegenüber muslimischen Dissidenten zu beobachten. Sie gelten als Störenfriede multikulturalistischer Identitätspolitik, die Einwanderungsgruppen kulturalisieren und in einer kulturellen Identität „einsperren“ will.
Rechte wie Linke sind dann zum Teil verwundert, wenn ein Muslim oder eine Muslimin Alkohol trinkt, im Ramadan nicht fastet, Schweinefleisch isst etc. Zudem glauben heute viele, das Kopftuch sei das Zeichen der muslimischen Frau, obwohl Studien zeigen, dass nur ein Drittel der sich selbst als gläubig bezeichnenden Frauen im Alltag Kopftuch trägt. Wir gehen hier der Identitätspolitik der Islamisten auf den Leim und stützen nebenbei die Narrative der extremen Rechten, die dieselbe Identitätspolitik, nur mit umgekehrten Vorzeichen, teilen.

Heinisch: Auch linke Identitätspolitik stützt letztlich Muslimfeindlichkeit und Rassismus, weil sie die Grundlage des Rassismus, die Einteilung von Menschen nach willkürlichen Kriterien von Ethnie und Kultur, permanent reproduziert und damit systematische Unterschiede entlang genau dieser Kategorien erzeugt, statt sie abzubauen. Letztendlich muss es aber darum gehen, die systematischen Unterschieden zwischen verschiedenen ethnischen und kulturellen Kategorien aufzulösen und sie so auf Dauer gesellschaftlich bedeutungslos zu machen.

Bei Rechtsextremismus handelt es sich um ein internationales Phänomen

Angriffe von Rechtsradikalen richten sich gegen Linke, gegen Juden und gegen Muslime. In Norwegen griff Anders Breivig ein Ferienlager des sozialistischen Jugendverbandes an. Der Täter von Christchurch wütete in Moscheen – während des Freitagsgebets. In Pittsburgh töte ein Rechtsradikaler während des Sabbat-Morgendgebets 18 Menschen.
Wie groß schätzt ihr die Gefahr durch den Rechtsterrorismus derzeit ein?

Heinisch: In Österreich sind wir von Rechtsterrorismus, aber auch von islamischem Terrorismus, bislang zum Glück weitgehend verschont geblieben. Aber insgesamt würde ich für Europa und Nordamerika sagen, dass Rechtsterrorismus in den letzten Jahren unterschätzt worden ist. Vor allem wurde übersehen, dass es sich auch beim Rechtsextremismus um ein internationales Phänomen handelt. Die verschiedenen Attentäter beziehen sich in ihren Pamphleten aufeinander und sie beziehen sich auf rechtsextreme Schriften, die offensichtlich international in der Szene kursieren. Kurz gesagt: Auch der Rechtsextremismus hat sich globalisiert.
Die Gefahr, die von dieser Szene ausgeht, ist groß. Die Liste der Anschläge etwa in Deutschland in den vergangenen 30 Jahren ist beachtlich, und seit 2015 häufen sich in manchen Gegenden Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte bei denen Tote in Kauf genommen werden.

Scholz: Letztlich unterscheidet sich das Narrativ der Rechtsextremisten nicht so sehr von jenem der gewalttätigen Islamisten. Ideologische Bewegungen ziehen Kraft daraus, sich als Opfer zu sehen. Das ist ein Kernpunkt ihrer Propaganda. Mit der Einnahme der Opferrolle werden Widerstand und Gewalt als notwendige Verteidigung legitimiert. In der Erzählung der völkischen Rechten sind es diverse dunkle Kräfte – Brüssel, die Juden, die USA und aktuell natürlich auch DIE Muslime – die das eigene Volk vernichten wollen. In den Augen der Islamisten sind Muslime und der Islam dem Vernichtungswillen der Kreuzfahrer, der Juden und sonstiger Ungläubiger, also im Grunde dem ganzen Rest der Welt, ausgesetzt. Der eigene Terror wird auf dieser Grundlage zur legitimen Selbstverteidigung. Islamisten und Rechtsextreme beziehen sich in ihrer Propaganda wechselseitig aufeinander und schaukeln sich gegenseitig hoch. Jeder islamistische Anschlag belegt in den Augen Rechtsextremer, dass die Muslime die „Ungläubigen“ vernichten wollen. Umgekehrt ist jeder rechtsextreme Anschlag den Islamisten Beleg dafür, dass die „Ungläubigen“ die Muslime vernichten wollen. Und nicht zu vergessen, teilen sie dabei auch eine ganze Reihe von Zielen: Demokratie und pluralistische Gesellschaft, Juden, Israel, die USA. Und nicht zu vergessen, der Hass auf Homosexuelle. Vor rund 3 Jahren ermordete ein Islamist mit Schusswaffen in einer überwiegend von Homosexuellen besuchten Bar in Orlando 49 Menschen. In London war es 1999 ein Rechtsradikaler, der eine Nagelbombe vor einer als Schwulentreff bekannten Bar zündete und drei Menschen tötete.


Nina Scholz studierte Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin und arbeitete u.a. am Ludwig Boltzmann-Institut für historische Sozialwissenschaft in Wien.
Heiko Heinisch studierte Geschichte und arbeitete am Institut für Islamische Studien der Universität Wien. 2017 war er Koautor des ÖIF-Forschungsberichts zur Rolle der Moscheen im Integrationsprozess.
Beide forschen und publizieren zu den Themen Nationalsozialismus und Antisemitismus. Seit mehreren Jahren widmen sie sich integrationspolitischen Fragen sowie dem Themenkomplex Europa, Menschenrechte und Islam.

Ihr Buch Alles für Allah ist im Molden Verlag erschienen. ISBN 978-3-222-15029-6

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