Bei der Abgrenzung zum Islamismus stehen wir noch ganz am Anfang

Foto des Autors

By Sebastian Reinfeldt

Wenn offizielle Vertreterinnen oder Vertreter der Muslime über das moslemische Leben in Österreich sprechen, dann vermitteln sie das Bild einer patriarchalen Religion mit sehr strengen Regeln, die peinlich genau befolgt werden müssen. Die Verschleierung von Frauen, eine rigide Sexualmoral, Schwulenfeindlichkeit und Antisemitismus prägen scheinbar das islamische Leben hier. Oftmals entspringen diese Ansichten aber einer gezielten islamistischen Strategie, die bewusst auf MigrantInnen in ganz Europa abzielt. So verfügt beispielsweise die Muslimbruderschaft in Europa über ein Netzwerk aus rund 200 Organisationen, die Gutes tun, darüber reden – und die die Zivilgesellschaften unterwandern, erläutert Heiko Heinisch im ausführlichen Gespräch mit dem Semiosisblog. Er erhellt dabei den organisatorischen und ideologischen Hintergrund der wichtigsten Organisationen, die in Österreich aktiv sind, und zeigt auf, wie gut vernetzt sie agieren. Erstveröffentlichung am 18.10.2016; optisch leicht überarbeitet am 3.11.2020.

Die Ergebnisse der jüngsten Wiener Jugend-Studie sind also nicht nur ein Beleg für eine ungenügende Integrationspolitik in Wien. Sie zeigen auch die Wirksamkeit der politisch-ideologischen Strategien organisierter islamistischer Gruppen auf. Mit dem Historiker und Autor Heiko Heinisch sprach Sebastian Reinfeldt. (Erstveröffentlichung am 18.10.2016; optisch leicht überarbeitet am 3.11.2020).


SR: Die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ) plant eine eigene Flüchtlingseinrichtung, die parallel zur katholischen Caritas und zur evangelischen Diakonie arbeitet. Ist es generell ein gutes Konzept, die Flüchtlingsbetreuung in die Hände der Zivilgesellschaft zu legen?

Die Menge der ankommenden Flüchtlinge und Migrant/innen im vergangenen Jahr wäre vermutlich ohne das Engagement aus der Zivilgesellschaft gar nicht zu bewältigen gewesen. Prinzipiell ist dieses Engagement zivilgesellschaftlicher Gruppen in der Betreuung von Flüchtlingen auch aus integrationspolitischer Sicht zu begrüßen, denn hier werden erste Kontakte zwischen der hier lebenden Bevölkerung und den Ankommenden geschlossen. Allerdings ist es dabei keineswegs egal, wer diese Betreuung leistet. So sind etwa etliche Moscheegemeinden von Milli Görüş (=Nationale Sicht) in der Flüchtlingsbetreuung aktiv, obwohl gerade diese Organisation in der Vergangenheit immer wieder durch eine Politik der Segregation von der Mehrheitsbevölkerung aufgefallen ist. Und ich bezweifle stark, dass die Betreuung von Flüchtlingen durch Organisationen, die eine Politik der Segregation betreiben, der Integration förderlich ist.

SR: Wenn mit VertreterInnen der Muslime in Österreich öffentlich geredet wird, dann kommen in der Regel Personen zu Wort, die einen konservativen, ja fundamentalistischen Islam vertreten. Warum ist das so?

Da spielen zwei Faktoren zusammen. Zum einen eine institutionalisierte Faulheit bei Medien und Politik. Eine Journalistin oder ein Journalist arbeitet an einem Artikel zu einem Integrationsthema, und das ist heute in der Regel ein Islamthema, und braucht dafür unbedingt ein Statement eines Muslims oder einer Muslimin – und das in der Regel schnell. Also ruft er/sie bei einer der islamischen Organisationen an und fragt, ob diese ihm eine/n Interviewpartner/in vermitteln können. Hat das gut funktioniert, wird er/sie auch beim nächsten Mal bei dieser Organisation anrufen, die ihm/ihr ja in der Vergangenheit zuverlässig weitergeholfen hat.

Die Vielfalt muslimischer Lebenswelten taucht in den Medien nicht auf

Und hier kommt der zweite Faktor ins Spiel: Wer organisiert sich in dezidiert religiösen Vereinen? In der Regel Menschen, die ihre religiöse Identität in den Vordergrund stellen und die sehr viel Wert auf dieselbe und deren Bewahrung legen, also Menschen, mit einer eher konservativen oder fundamentalistischen religiösen Haltung. Säkulare oder sogenannte Kulturmuslime, also Menschen, die zwar gläubig sind, sich aber nicht an alle religiösen Gebote halten, vielleicht nur an hohen Festtagen in eine Moschee gehen oder auch gar nie, werden sich nicht in diesen religiösen Vereinen organisieren. Daher kommen sie in den Medien auch entsprechend selten zu Wort, obwohl sie vermutlich die große Mehrheit der Menschen stellen, die selbst oder deren Vorfahren aus einem islamischen Land eingewandert sind. Hinzu kommt, dass gerade bei Organisationen des politischen Islam die aktive Medienarbeit Teil des Kerngeschäfts ist. Bei diesen ist man besonders bemüht, Kontakte zu Journalist/innen aufzubauen und zu pflegen, mit dem Ziel, sich als Sprachrohr DER Muslime und die eigene Interpretation der Religion als die einzig Wahre zu präsentieren. In Verbindung mit der institutionalisierten Faulheit in den Medien, gelangen hauptsächlich Stimmen aus diesem Spektrum an die Öffentlichkeit und auch immer wieder dieselben Gesichter. Meist werden die entsprechenden Artikel oder Berichte noch dazu mit Frauen mit Kopftuch illustriert, obwohl nur eine Minderheit muslimischer Frauen bei uns Kopftuch trägt. Auch das prägt ein konservatives bis fundamentalistisches Bild des Islam.
Dadurch wird das Spektrum muslimischer Stimmen massiv eingeschränkt, was letztlich nur den Extremen auf beiden Seiten hilft, die uns weismachen wollen, dass genau das DER Islam ist: Den Rechten und den Islamisten. Die Vielfalt muslimischer Lebenswelten taucht in den Medien nicht auf. – Die Politik verhält sich leider meist genauso.

SR: Stichwort Muslimbruderschaft. Welche Inhalte vertritt sie eigentlich genau? Mir scheint, dass die Muslimbrüder ideologisch recht flexibel agieren. Warum sind sie dann so gefährlich?

Da muss ich etwas weiter ausholen. Die Muslimbruderschaft wurde 1928 von Hasan al-Banna in Ägypten gegründet und breitete sich schnell in der islamischen Welt aus. Sie ist die älteste islamistische Organisation der Welt, mit Ablegern in allen sunnitisch islamischen Staaten. Die tunesische Ennahda gehört ebenso zur Muslimbruderschaft wie die palästinensische Hamas oder die algerische FIS. Ziel der Bruderschaft war von Anfang an die Umgestaltung von Staat und Gesellschaft nach islamischen Kriterien und als Endziel ein islamischer Staat, in dem sich zunächst alle Staaten mit islamischer Bevölkerung zusammenschließen sollen. Letzten Endes soll dann die ganze Menschheit unter dem Banner des Islams vereint werden. Die geistigen Väter der Bruderschaft, Hasan al-Banna und Sayyid Qutb, inspirieren bis heute sowohl Islamisten als auch Dschihadisten weltweit.

In Europa gibt es heute über 200 Organisationen, die dem Muslimbrüder-Netzwerk zugerechnet werden

Die Organisation hatte den Putsch der freien Offiziere unter Nasser in Ägypten zunächst unterstützt, aber schon bald kam es zu massiven Spannungen zwischen der Bruderschaft und dem neuen Regime, die 1954 zum Verbot der Organisation und der Verfolgung ihrer Mitglieder führten. Viele Muslimbrüder flohen nach Europa, wo sie politisches Asyl erhielten. Hier bemerkten sie schnell, dass sie in freien und demokratischen Staaten besser arbeiten können als in den arabischen Diktaturen. Erste Zentren, etwa das Islamische Zentrum in München, wurden gegründet. In den kommenden Jahrzehnten entstand ein kaum zu durchschauendes Netzwerk an Organisationen und Moscheevereinen. Das Geflecht der Muslimbruder-Organisationen erinnert heute an Firmengeflechte, die dem Ziel der Steuervermeidung oder Geldwäsche dienen. Am Ende weiß keiner mehr, wo das Geld geblieben ist, beziehungsweise wo Muslimbrüder und –schwestern zu finden sind. Alleine in Europa und Nordamerika gibt es heute über 200 Organisationen, die dem Netzwerk der Muslimbruderschaft zugerechnet werden!
Flexibel sind dabei weniger ihre Inhalte, an denen sich seit den Anfängen kaum etwas geändert hat, als vielmehr die Art und Weise ihres politischen Handelns. Im Laufe ihrer wechselvollen Geschichte durchlief die Bruderschaft – vor allem in der arabischen Welt – Phasen der Legalität und solche der Illegalität. Dabei hat die Organisation stets ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit sowohl an die aktuelle politische Lage als auch an das jeweilige Land, in dem sie tätig ist, bewiesen.

Tu Gutes und rede darüber!

Es ist wichtig, die Arbeitsweise der Muslimbruderschaft zu verstehen: Sie betreibt ihre Propaganda hauptsächlich über soziales Engagement. Das Motto der Muslimbruderschaft ist: „Tu Gutes und rede darüber!“ Meine Kollegin Nina Scholz hat das als Graswurzel-Islamismus bezeichnet: Er läuft über eigene Sozialprojekte und Bildungseinrichtungen, sowie die Unterwanderung zivilgesellschaftlicher Organisationen und politischer Parteien. Das macht sie gefährlich und für Außenstehende schwer durchschaubar. Aus Unwissenheit oder Ignoranz helfen seriöse Organisationen und Politiker/innen oft beim gesellschaftlichen Aufstieg einzelner Organisationen aus dem Netzwerk der Muslimbruderschaft. Jede Kooperationen mit einer NGO wird auf der eigenen Website, meist unter der Rubrik „Partnerorganisationen“ kommuniziert, jedes Foto, dass Mitglieder der Organisation mit Politiker/innen zeigt, auf der Website und via Social Media verteilt. Die „Partner“ (oft handelte es sich nur um eine einzige partielle Zusammenarbeit) dienen dann – ebenso wie die fotografisch eingefangenen Politiker/innen – zukünftig als Testimonials bei der Umwerbung weiterer Organisationen und Personen. Die Organisationen können sich zumeist darauf verlassen, dass kaum jemand genauer hinsieht, wenn auf ihrer Seite steht, dass sie etwa eine Veranstaltung bei der OSZE durchgeführt oder ein gemeinsames Projekt mit Amnesty International gestaltet haben.

Man kann durchaus von gezielter Unterwanderung politischer und zivilgesellschaftlicher Strukturen sprechen

Gleichzeitig wird mit Politiker/innen-Fotos in die muslimische Community das Signal ausgesendet „seht her, wir sind diejenigen, die gute Kontakte zur Politik haben“. Geradezu fatal war diesbezüglich das Foto von der Charlie Hebdo Solidaritätskundgebung in Berlin Anfang des Jahres: Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime, einer Organisation, in der die Muslimbruderschaft eine maßgebliche Rolle spielt, auf der Bühne zwischen Kanzlerin und Bundespräsident. Für ihn persönlich war das vermutlich der Jackpot. Auf diesem Weg schaffen es Organisationen aus dem Netzwerk der Muslimbruderschaft, sich als DIE Ansprechpartner für Politik und Medien in Fragen Islam und Integration zu gerieren. Die jeweiligen Kooperationspartner und Politiker/innen wissen oft nicht, dass sie es mit einer Organisation aus dem Umfeld der Bruderschaft zu tun haben oder hatten – ein Versäumnis, dass langfristig nicht ohne Folgen bleibt.

Man kann durchaus von gezielter Unterwanderung politischer und zivilgesellschaftlicher Strukturen sprechen. Dabei besteht die Gefahr, dass ausgerechnet Organisationen aus diesem islamistischen Umfeld das öffentliche Bild des Islams bestimmen und politischen Einfluss erlangen. Es liegt an Politiker/innen und NGOs, sich mit dieser Problematik zu beschäftigen und sich zu informieren, mit wem sie da zusammenarbeiten. Was die Abgrenzung nach rechts betrifft, ist das entsprechende Problembewusstsein vorhanden – was die Abgrenzung gegenüber dem Islamismus betrifft, stehen wir leider noch ganz am Anfang.

SR: Welche Organisationen in Österreich haben ein Naheverhältnis zu den Muslimbrüdern? Haben sie eine „hidden agenda“ ?

Die Frage lässt sich nur schwer beantworten. Kaum eine Organisation bekennt sich dazu, zum Netzwerk der Muslimbruderschaft zu gehören und auch Einzelpersonen streiten entsprechende Vorwürfe in der Regel ab, beziehungsweise beschreiten umgehend den Rechtsweg. Die italienische Extremismus-Expertin Valentina Colombo hat das einmal als Jihad by Court bezeichnet.
Um Personen und Organisationen der Muslimbruderschaft zuordnen zu können, sind wir auf Indizienketten angewiesen, die bei jenen Organisationen und Personen in Europa beginnen, deren Zugehörigkeit zum Netzwerk der Muslimbruderschaft zweifelsfrei feststeht. In Europa ist das etwa die FIOE (Federation of Islamic Organizations in Europe). Sie gilt als Dachverband der Muslimbruderschaft in Europa. Das bedeutet, Organisationen, die ihr angehören, stehen in Verbindung mit dem Netzwerk der Muslimbruderschaft. Aus Österreich gehören etwa die Liga Kultur und ihre Jugendorganisation die Jugend der Liga Kultur der FIOE an. Zudem nennt die Liga Kultur auf ihrer Website weitere Partnerorganisationen, die dem Netzwerk der Bruderschaft zugeordnet werden können.

Die MJÖ wäre gut beraten, hier endlich Licht ins Dunkel zu bringen

Auch FEMYSO, Forum of European Muslim Youth and Student Organizations, gehört zweifelsfrei dem Netzwerk der Muslimbruderschaft an. Es wurde 1996 auf Initiative der FIOE gegründet, Gründer und erster Vorsitzender war der umtriebige deutsche Muslimbruder Ibrahim el-Zayat. Einige Jahre lang war die Muslimische Jugend Österreichs Mitglied bei FEMYSO. Wie lange genau und ob alle Beziehungen mittlerweile beendet sind, ist nach wie vor unklar. Laut eigenen Angaben war die MJÖ nur von 2003 bis 2005 Mitglied des FEMYSO, allerdings fand die Journalistin Elisalex Henckel im vergangenen Oktober ein Dokument auf der Website einer Unterorganisation der MJÖ, den Jungen Musliminnen Österreichs (JMÖ), in dem es hieß, die MJÖ arbeite auf europäischer Ebene „als Mitglied des europäischen Dachverbands ‚Forum of European Muslim Youth and Student Organizations (FEMYSO)‘“. Noch dazu lässt sich über das Webarchiv nachweisen, dass dieser Eintrag erst nach September 2007, also mindestens zwei Jahre nach dem angeblichen Ausscheiden der MJÖ aus dem FEMYSO online gegangen ist. Die MJÖ wäre gut beraten, hier endlich Licht ins Dunkel zu bringen.

Was Einzelpersonen betrifft, wird es ganz schwierig, denn Muslimbrüder tragen in der Regel keinen Mitgliedsausweis bei sich. Aber Naheverhältnisse, Kontakte und (partielle) Zusammenarbeit lassen sich im einen oder anderen Fall durchaus belegen. So ist etwa Amena Shakir, die Institutsleiterin des Instituts Islamische Religion (IRPA) an der KPH Krems (ehemals Islamisch Religionspädagogische Akademie) – dort werden die islamischen Religionslehrer/innen für Pflichtschulen ausgebildet –, die Schwester des bereits genannten Ibrahim el-Zayat. Das alleine würde natürlich noch nichts bedeuten, aber sie hat nachweislich in München eine Schule geleitet, deren Trägerverein vom Verfassungsschutz als nicht verfassungskonform eingeschätzt wurde – und in diesem Trägerverein saß ihr Bruder Ibrahim in leitender Funktion. Die Schule wurde im Jahr 2005, kurz nach dem Ausscheiden von Frau Shakir, die damals noch el-Zayat hieß, gesperrt.

Holocaust? „Das war eine göttliche Bestrafung“ (Yusuf al-Qaradawi)

Auch dem Politikwissenschaftler Farid Hafez wird immer wieder nachgesagt, er stünde in einem Naheverhältnis zur Muslimbruderschaft. Hafez hat das stets vehement bestritten. Umso bemerkenswerter ist, dass er kaum Berührungsängste gegenüber der Bruderschaft zu haben scheint. So war er akademischer Berater einer „Islamophobie-Konferenz“ im Juni dieses Jahres in Sarajevo, die von dem türkischen, AKP-nahen Thinktank SETA organisiert und finanziert wurde und an der mindestens drei Organisationen beteiligt waren, die dem Netzwerk der Muslimbruderschaft zugerechnet werden können. Im Jahr zuvor hielt er einen Workshop zu Islamophobie – sein Kernthema – für die oben genannte FEMYSO. Als ebenfalls bemerkenswert würde ich auch die Tatsache bezeichnen, dass Farid Hafez in seiner Tätigkeit als Autor bemüht zu sein scheint, die Vordenker der Muslimbruderschaft als große politisch-demokratische Denker zu verkaufen. Das tut er mit Hasan al-Banna, Sayyid Qutb und dem aktuellen Chefideologen der Bruderschaft, Yusuf al-Qaradawi in seinem Buch „Islamisch-politische Denker: Eine Einführung in die islamisch-politische Ideengeschichte“, sowie im Sommer 2013 in einem Artikel für den Standard, in dem er auch die ägyptische Muslimbruderschaft selbst als demokratische Kraft bewirbt. Wiewohl ich davon ausgehe, dass er die Schriften der Genannten kennt, verharmlost er deren Idee eines totalitär-islamischen Staates, indem er diesem das Etikett „islamische Demokratie“ umhängt. Auf den radikalen Antisemitismus der drei geht er mit keinem Wort ein. So bemerkte etwa al-Qaradawi über den Holocaust: „Das war ihre göttliche Bestrafung. So Gott will, wird das nächste Mal diese durch die Hand der Gläubigen erfolgen.“

SR: Aber es sind ja in Österreich nicht nur die Muslimbrüder aktiv. Wie stark wird beispielsweise die türkische Community von fundamentalistischen, nationalistischen und konservativen Organisationen dominiert?

Was die organisierte türkische Community betrifft, dominieren eindeutig konservative, islamistische und nationalistische Vereine. Der religiöse Bereich wird von vier Verbänden bestimmt: ATIB, der österreichische Ableger der türkischen Religionsbehörde DIYANET, die von Erdogans AKP gesteuert wird.
Unter dem Namen Islamische Föderation tritt in Österreich die Milli Görüş auf, was auf Deutsch „Nationale Sicht“ heißt. Milli Görüş ist nationalistisch und islamistisch. Auf verschiedenen Ebenen arbeitet die Organisation mit der Muslimbruderschaft zusammen, manche bezeichnen sie als deren türkischen Zweig. In mehreren deutschen Bundesländern wird Milli Görüş vom Verfassungsschutz beobachtet, der ihnen ein antidemokratisches Staatsverständnis unterstellt. In der Vergangenheit war Antisemitismus fester Bestandteil der Ideologie der Organisation. Ähnlich, wie es auch bei vielen rechten Organisationen und Parteien in Europa in den letzten Jahren zu beobachten ist, distanziert sich die Führung heute vom Antisemitismus, was aber noch nicht bei allen Mitgliedern und Ortsgruppen angekommen sein dürfte. Gegründet wurde Milli Görüş, aus der auch der heutige türkische Präsident Erdogan hervorgegangen ist, in den 1970er Jahren von Necmettin Erbakan.

Ein großer Teil der Menschen, die selbst oder deren Vorfahren aus der Türkei eingewandert sind, wird von diesen Vereinen nicht erfasst

Die Union Islamischer Kulturzentren, die im Westen Österreichs unter der Bezeichnung Verband Islamischer Kulturzentren auftritt ist eine mystisch geprägte konservativ islamische Organisation, die sehr stark auf den Erhalt einer islamischen Identität ausgerichtet ist.
Der vierte religiöse türkische Verband ist die Türkische Föderation. Dabei handelt es sich um den österreichischen Ableger der türkischen Partei MHP, besser bekannt als Graue Wölfe, also türkische Nationalisten.
Zudem hat sich in den letzten Jahren die UETD als direkte Lobby-Organisation von Erdogan und AKP stark hervorgetan.
Als einzig säkulare und liberale türkische Organisationen wären die Türkische Kulturgemeinde und die Alevitische Gemeinde zu nennen.
Aber, um nicht missverstanden zu werden: Wir sprechen hier ausschließlich über das türkische Vereinswesen. Ein großer Teil der Menschen, die selbst oder deren Vorfahren aus der Türkei eingewandert sind, wird von diesen Vereinen nicht erfasst und fühlt sich von ihnen auch nicht vertreten.

SR: Es gibt immer wieder eine Diskussion darüber, dass Antisemitismus bei MigrantInnen stark sei. Jetzt haben Imam Ramazan Demir und Rabbiner Schlomo Hofmeister in einem Presse-Gespräch behauptet, dass die Mehrheit der Muslime in Österreich nicht judenfeindlich ist. Wie beurteilst du das?

Das Interview der beiden war eines dieser typischen Wohlfühl-Interviews des interreligiösen Dialogs. Dabei geht es in der Regel einzig darum, Gemeinsamkeiten hervorzuheben und alles, was nicht ins Bild der friedlichen und sich freundlich gesinnten Religionen passt, außen vor zu lassen. Hätten sie nur gesagt, die Mehrheit der Muslime sei nicht judenfeindlich, ließe sich darüber noch diskutieren, aber sie gehen ja weiter und behaupten, Judenfeindschaft sei unter Muslimen nicht weiter verbreitet als im Rest der Gesellschaft. Diese Aussage entbehrt jeder Grundlage.

Die Ergebnisse der Jugend-Studie von 2016 decken sich mit denen anderer Studien

Montag dieser Woche wurde die Studie der Stadt Wien „Jugendliche in der offenen Jugendarbeit. Identitäten, Lebenslagen und abwertende Einstellungen“ präsentiert. Die Ergebnisse im Bereich Antisemitismus und Homophobie decken sich mit vielen anderen Studien der vergangenen Jahre: Abwertende Einstellungen sind bei Muslimen stärker verbreitet als bei allen anderen Gruppen. So weisen laut dieser Wiener Studie 47% der Jugendlichen mit muslimischem Familienhintergrund starke antisemitische Einstellungen auf, während es bei Jugendlichen mit christlich-orthodoxem Familienhintergrund „nur“ 27% sind und bei jenen mit katholischem Familienhintergrund sogar nur 7%. Auch bei offener Feindschaft gegenüber Homosexuellen führen Jugendliche aus muslimischen Familien mit 59%, gefolgt von orthodoxen (50%) und katholischen (24%). Man muss allerdings anmerken, dass diese Studie nicht repräsentativ ist. Sie erfasst nur Jugendliche, die eines der Wiener Jugendzentren frequentieren, also überwiegend Jugendliche der unteren sozialen Schichten. Dennoch decken sich die Ergebnisse, wie schon gesagt, weitgehend mit anderen Studien. Eine Berliner Studie aus dem Jahr 2007 etwa kommt zu dem Schluss, dass 79% der türkischen Jugendlichen offen homosexuellenfeindlich eingestellt sind. Die europaweite EUMC-Studie (Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit), kam 2003 zu dem Schluss, dass gerade unter muslimischen Jugendlichen ein vermehrtes Umschlagen von Israel-Kritik in offenen Judenhass zu beobachten sei und dass das insgesamt für den Anstieg antisemitischer Einstellungen maßgeblich verantwortlich sei. Auch die Zunahme antisemitischer Übergriffe geht laut dieser Studie zu einem großen Teil auf Jugendliche mit muslimischem Familienhintergrund zurück. Und wenn wir ehrlich sind, wissen wir auch, dass jüdische Einrichtungen in Europa heute in viel größerem Maße aus Angst vor islamistischem Terror als aus Angst vor rechtsradikalen Anschlägen rund um die Uhr geschützt werden müssen.

Antisemitismus ist in allen islamischen Staaten weit verbreitet

Es bringt uns nichts, die Augen vor der Realität zu verschließen. Antisemitismus ist in allen islamischen Staaten weitverbreitet, in den meisten arabischen Staaten kann man ihn geradezu als Staatsdoktrin bezeichnen. In syrischen, ägyptischen oder libanesischen Fernsehsendern – von palästinensischen will ich gar nicht erst reden – werden tagtäglich antisemitische Sendungen ausgestrahlt – oft genug bereits im Kinderprogramm. Und ich möchte das noch einmal betonen: Nicht israelfeindliche, sondern offen antisemitische Sendungen! Auch in der Türkei ist offener Antisemitismus Teil von Erdogans Propaganda und in der türkischen Bevölkerung weit verbreitet – sowohl unter der Gefolgschaft als auch unter den Gegnern Erdogans
Es wäre naiv anzunehmen, dass dieses antisemitische Klima in nahezu allen islamischen Staaten keinen Einfluss auf die entsprechenden Communities in Europa hat. Wir sollten uns vielmehr darauf einstellen, dass sich unter den Flüchtlingen und Migranten, die in den letzten beiden Jahren hier angekommen sind, viele Menschen befinden, die antisemitische Einstellungen teilen. Denn Menschen legen ihre Vorurteile auf der Flucht nicht an der Grenze ab. Im Gegenteil: Diese haben sie immer im Gepäck und geben sie an die nächste Generation weiter. Das betrifft nicht nur antisemitische Einstellungen, sondern auch andere Abwertungsideologien, z.B. gegenüber Homosexuellen oder auch gegenüber Mädchen und Frauen. Das halte ich für die größte Herausforderung bei der Integration.

—– ENDE —-

Zur Person:

Heiko Heinisch
Heiko Heinisch

Heiko Heinisch ist Historiker und Autor. Nach jahrelanger Beschäftigung mit den Themen Antisemitismus und Nationalsozialismus befasst er sich heute vor allem mit Freiheit, Menschenrechten und Demokratie. Jüngste Publikationen mit Nina Scholz: „Europa, Menschenrechte und Islam – ein Kulturkampf?“ (Passagen-Verlag 2012) und „Charlie versus Mohammed. Plädoyer für die Meinungsfreiheit“ (Passagen-Verlag 2016). Er schreibt regelmäßig für das Online-Debattenmagazin diekolumnisten.de.

Schreibe einen Kommentar