Samstagabend. Alle Parteien sind im Wahlkampf-Endspurt. Sie machen Beisel-Touren oder stehen an Nachtinfoständen. Immer noch sind viele Wählerinnen und Wähler unentschlossen, wem sie ihre Stimme geben sollen. Und wo tourt der noch amtierende Bundeskanzler Kern? Im Restaurant Kent im 10. Wiener Gemeindebezirk hält er eine Rede, und das ausgerechnet vor AKP-, Milli Görüs und UETD-AnhängerInnen. Wenn es um Stimmen geht, wird dann doch nicht mehr so genau hingeschaut. Das war eigentlich versprochen worden. Eine Recherche von Sebastian Reinfeldt. (Erstpublikation am 15. Oktober 2017; leicht überarbeitet am 27. Juni 2020 aus aktuellem Anlass wieder veröffentlicht.)
Die SPÖ widerspricht sich selbst
Bundeskanzler Kern war bei seinem Besuch dort – inklusive einer kleinen Rede – nicht allein. Ihn begleitetet unter anderen die SPÖ-Abgeordnete zum Nationalrat Petra Bayr, der Wiener Gemeinderat Omar Al-Rawi, der Milli Görüs Mann Resul Ekrem Gönültas und der interimistische Bundesgeschäftsführer Christoph Matznetter. Diese illustre Runde widerspricht an sich schon den Ankündigungen der Partei. Hatte die SPÖ noch vor einem Monat verkündet, man wolle zukünftig klarere Töne gegenüber Erdogan-Anhängern im Lande anschlagen. Dabei wandte man sich verstärkt fortschrittlicheren türkisch- und kurdischstämmigen WählerInnen zu, die sich von der Sozialdemokratie abgewendet hatten. Auf die Kritik, dass die SPÖ Leute in ihren Reihen habe, die sich mit den sozialdemokratischen Werten überhaupt nicht identifizieren, antwortete (die damalige) SPÖ-Staatssekretärin Muna Duzdar noch im September: „Sie haben schon Recht. In der Vergangenheit hat man nicht so genau hingeschaut.“
(Dieses Video über den Kern-Besuch wurde auf einer Facebook-Seite namens Viyana Rehberi veröffenlicht.)
Weg von Milli Görüs – und wieder hin zu Milli Görüs
Weiter heißt es in dem Kurier-Bericht:
Und nun? Bei dem Wahlkampf-Auftritt von Kern ist der Mann an Kerns Seite ausgerechnet jener Resul Ekrem Gönültas, der nicht ganz unzutreffend als „Milli-Görüs-Mann in der SPÖ“ bezeichnet wird.
Der „Milli-Görüs-Mann in der SPÖ„
Das Kalkül scheint offensichtlich: Beim Kern-Besuch ging es um die 12.000 Vorzugsstimmen des “Milli-Görüs-Mann in der SPÖ”, so der Journalist Rusen Timur Aksak über Gönültas.
Dieser betreibt das islamisch-konforme Lokal „Tulpe“ im 15. Gemeindebezirk Wiens und war Vorstandsmitglied der Islamischen Föderation Wien (IFW). Christoph Matznetter, mittlerweile SPÖ-Bundesgeschäftsführer, und zudem Präsident des sozialdemokratischen Wirtschaftsverbandes, unterstützte Gönültas bereits im Rahmen von IFW-Veranstaltungen im Wahlkampf.
Mit Kritik konfrontiert, gab Christian Kern in der TV-Konfrontation mit Heinz Christian Strache zu bedenken, dass Gönültas nicht mehr als SPÖ-Kandidat antreten werde. Auf Facebook verteidigt sich auch Gönültas gegen Diffamierungsversuche aufgrund seiner Tätigkeiten bei der Islamischen Föderation Wien (IFW). Die IFW gilt als österreichischer Ableger von Milli Görüs. Im Frühjahr 2013 lud die IFW Recai Kutan auf eine Büchermesse nach Wien ein. Kutan gilt als Initiator zweier Parteigründungen der Milli Görüs in der Türkei. Zudem rezitierte Gönültas beim Gedenkgottesdienst des islamistischen Gurus und wüstem Antisemiten Necmettin Erbakan in Istanbul ein Gebet für ihn.
„Alle Anstrengungen für den Dschihad!“
Der Historiker Heiko Heinisch berichtet, dass im Rahmen seiner Moscheen-Studie eine Predigt in einer Milli-Görüs Moschee beobachtet wurde, in der rund 20 Minuten lang vom Dschihad erzählt wurde. Unter anderem hieß es dort:
Um den Islam zu leben, leben zu lassen und dessen Hegemonie in der Welt zu schaffen, müssen alle Anstrengungen für den Dschihad unternommen werden.
Keine Wohltat kann dem guten Werk des Dienens so gerecht werden, wie der Märtyrertod selbst, lehrt unser Prophet Mohammed.
Veranstaltung in letzter Minute
Dass die gestrige Veranstaltung in allerletzter Minute, am letzten Abend vor der Wahl, gemacht wurde, ist wohl der Angst vor medialer Aufmerksamkeit und öffentlicher und interner Diskussion geschuldet. Die Chance auf Wählerstimmen aus diesen Kreisen wollte man sich auf keinen Fall entgehen lassen. Senol Akkilic, früher Wiener Gemeinderat der Grünen und jetzt Kandidat der SPÖ findet dennoch in letzter Minute klare Worte.
Auch die Grüne Nationalratsabgeordnete Berivan Aslan ist auf Facebook entsetzt und wird seit Samstag Abend mit Hassbotschaften von AKP-Accounts bombardiert.