Die Wintersaison im März 2020 lief so lange, wie es aus damaliger Sicht irgendwie vertretbar schien, sagen die Tiroler Verantwortlichen unisono. Der Verbraucherschutzverein (VSV) präsentiert heute die traurige Bilanz dieser (Nicht-) Entscheidungen in Tirol und Wien. Die Zahlen: Knapp 4300 Geschädigte, 27 Tote und mehr als 100 Personen, die im Krankenhaus wegen COVID-19 Infektionen behandelt werden mussten. All das vermittelt einen Einblick in die Konsequenzen des Handelns der Behörden. Ob sie für ihr Handeln verantwortlich sind, scheint indes fraglich. Ein Bericht von Sebastian Reinfeldt.
Die meisten Opfer kommen aus Deutschland
Spitzenreiter in der Statistik des Verbraucherschützers Peter Kolba ist Deutschland. 3981 Personen vom liebsten Nachbarn Österreichs haben sich bis 24. Mai gemeldet. Sie sind durch eine COVID-19 Infektion direkt oder indirekt betroffen, die auf einen Besuch in Tirol zurückgeführt werden kann. Somit kommen die mit Abstand meisten Geschädigten von dort. Es folgen 798 Personen aus den Niederlanden, 222 Menschen mit Wohnsitz in Österreich und 192 aus Belgien. Bemerkenswerte 47 Geschädigte aus den USA haben sich ebenfalls beim VSV gemeldet, immerhin 28 aus Israel, aber nur drei aus Island. Sie alle werden einer kommen zivilrechtlichen Sammelklage gegen die Republik Österreich beitreten und Entschädigung verlangen. 1000 Personen haben sie der strafrechtlichen Sachverhaltsdarstellung an die Tiroler Staatsanwaltschaft mittlerweile als Privatbeteiligte angeschlossen.
Ischgl ist auch bei den Geschädigten der Hotspot
Der Ort Ischgl führt in der Statistik ganz eindeutig. Fast 75 Prozent der Geschädigten haben sich dort aufgehalten. Es folgen St. Anton am Arlberg und dann Sölden. Immerhin haben sich auch 209 Personen gemeldet, die im Zillertal unterwegs waren. Diese Region scheint in der öffentlichen Diskussion in Österreich ein wenig unter dem Radar zu laufen – offenbar zu Unrecht.
Die Ischgler Verantwortlichen hingegen haben sich in der Zwischenzeit in einem ausführlichen Statement per Mail an die Ischglerinnen und Ischgler gewendet. Darin stilisieren sie sich zum wiederholten Mal als Opfer des neuartigen Virus und der Medien. Und sie behaupten, dass mit der Kritik an den Verantwortlichen auch der ganze Ort gemeint sei. Einige Auszüge aus dem ausführlichen Schreiben:
Die momentane Situation belastet uns sehr. Ischgl steht medial am Pranger und es ist kein Ende absehbar. Stigmatisiert werden mit den politischen Entscheidungsträgern unser Ort, unsere Bevölkerung sowie die Tourismuswirtschaft von Ischgl. Fast scheint es so, als würde sich die angestaute Spannung in der Gesellschaft medial über unserem Ort entladen. Die mediale Vorverurteilung kennt keine Unschuldsvermutung. Ohne stichhaltige Beweise immer wieder beschuldigt zu werden, ist für alle im Ort schwer zu ertragen und setzt die Einheimischen einem schweren psychologischen Druck aus.
Vor allem jungen Menschen in unserem Dorf bereiten die aufgeworfenen Anschuldigungen Zukunftsängste und Existenzsorgen. Die öffentliche Diffamierung gipfelt in konkreten Bedrohungen, Anfeindungen bis hin zu anonymen Morddrohungen. Die Berichterstattung berücksichtigt weder unsere Sichtweise noch wird diese unserem Angebot, unseren internationalen Gästen und Stammgästen gerecht. Umso wichtiger ist es uns, offene Worte auch aus unserer Sicht zu finden. (…)
Fakt ist, dass der rechtlich vorgesehene Rahmen einer Gemeinde für eigene Entscheidungen so gut wie keinen Spielraum lässt. Diese Tatsache geht in der öffentlichen Berichterstattung völlig unter. Vor Ort haben wir die behördlichen Anordnungen durchgängig lückenlos und unverzüglich befolgt und umgesetzt.
Besonders schmerzt uns der Vorwurf, dass für uns wirtschaftliche Interessen und damit die Gier über die Gesundheit dominiert hätten. Diese Unterstellung trifft uns ganz besonders und macht uns betroffen. Schlichtweg auch deshalb, weil niemand seine Gäste, seine Mitarbeiter, seine Familie oder auch sich selbst je wissentlich in Gefahr bringen würde. In diesem Sinne hat es durchwegs auch ein breites Bemühen im Ort um die Mitarbeiter gegeben – insbesondere auch in der Quarantänezeit.
Unterschrieben wurde das Mail von den mächtigen Männern Ischgls, nämlich: Hannes Parth (Leiter der Stabsstelle), Werner Kurz (Bürgermeister Gemeinde Ischgl), Alexander von der Thannen (Obmann Tourismusverband Paznaun – Ischgl) und von Alfons Parth (Obmann Verein der Ischgler Tourismusunternehmen).
Justizministerin vertraut der Tiroler Justiz
Auch im österreichischen Nationalrat ist die Causa mittlerweile angekommen. Justizministerin Alma Zadic hat eine parlamentarische Anfrage des Tiroler NEOS-Abgeordneten Johannes Margreiter beantwortet. Darin findet sich inhaltlich wenig Neues. Die Ministerin vertraut jedenfalls den Ermittlungsschritten der Tiroler Staatsanwaltschaft und ihrer Unabhängigkeit.
Bemerkenswert an dieser Antwort ist die implizite Behauptung, dass die bislang vorliegenden Medienberichte nur auf Vermutungen und Hören-Sagen basieren würden. Es stellt sich doch eher die Frage, warum die Strafbehörden nicht aus eigenem Antrieb aktiv geworden sind. Im Falle des Ibiza-Videos geschah dies beispielsweise noch am Tag seiner Veröffentlichung. Wegen des Videos ist (bislang jedenfalls) niemand ums Leben gekommen. Ohne kritische Medienberichte gäbe es das Verfahren in Tirol und den 1000-Seiten dicken Zwischenbericht erst gar nicht. Medienberichte basieren ja nicht auf Vermutungen, sondern sie enthalten Dokumente und Aussagen, die journalistisch gecheckt wurden. Die Gleichsetzung dessen mit Vermutungen und Hörensagen offenbart ein seltsames Verständnis von journalistischer Arbeit. Im O-Ton der Anfragebeantwortung liest sich das in JuristInnendeutsch verpackt so:
Zur Objektivierung der in Medien und Sachverhaltsdarstellungen enthaltenen Mitteilungen hat die Staatsanwaltschaft die Kriminalpolizei mit entsprechenden Erhebungen beauftragt. Es gilt zunächst zu klären, wer wann worüber in Bezug auf COVID-19-Erkrankungen informiert war und wie mit diesen Informationen umgegangen wurde. Erst in weiterer Folge kann beurteilt werden, ob ein Anfangsverdacht (§ 1 Abs. 3 StPO) gegen eine bestimmte Person vorliegt, der weiter aufzuklären ist.
Ein Anfangsverdacht impliziert das Vorliegen eines Tatsachensubstrats sowohl hinsichtlich eines tatbezogenen als auch hinsichtlich eines täterbezogenen Verdachts. Der Anfangsverdacht muss durch bestimmte Anhaltspunkte objektiv begründet sowie empirisch nachprüfbar sein. Er muss sich klar von bloßen Vermutungen, Hinweisen vom Hören-Sagen und reinen Spekulationen abgrenzen.
Zum Nachlesen: Die Berichterstattung im Semiosisblog
Aktualisierte Chronologie der Ereignisse: Wer wusste wann was?
Bericht eines Kochs aus Ischgl
Video-Interview mit einem Seilbahnmitarbeiter
Reportage: Auf der schwarzen Liste in Ischgl
Unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung: das Zillertal
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