Das Tiroler Paznauntal sowie die Gemeinde St. Anton am Arlberg waren die ersten Regionen in Österreich, die unter Quarantäne gestellt worden sind. Das geschah am 13. März. Kanzler Kurz verkündete diese Entscheidung im Zuge einer dramatischen Presskonferenz kurz nach 14 Uhr. Vier Tage später, am Abend des 17. März, wurde auch über das Skigebiet Sölden eine Quarantäne verhängt. Seit dem 19. März war ganz Tirol abgeriegelt, sowie weitere Wintersport-Regionen im Salzburger Land und am Arlberg. Fest steht aus heutiger Sicht: Dies geschah zu spät. Denn mindestens seit dem 3. März wussten die österreichischen Behörden von Corona-Infektionen in Österreich. Sie reagierten zu Beginn gar nicht, dann zögerlich (so wurden nur die Apres-Ski-Hütten in Ischgl gesperrt). Und dann wollte man plötzlich alle Gäste und Gastronomiemitarbeiter so schnell wie möglich los werden. Knapp bevor die Quarantäne wirksam wurde. Auf diese Weise verbreitete sich das Virus, überbracht von den infizierten Heimkehrenden, in Windeseile durch ganz Europa.
Warum ist dies so abgelaufen? In dieser Suche nach Antworten hat Sebastian Reinfeldt Fragen gestellt, um den zeitlichen Ablauf und die Zuständigkeiten zu klären: Wer hatte wann welche Informationen? Wer traf wann welche Entscheidungen – und warum? In einem weiteren Artikel wird die Spur des Geldes interessant. (Für die ersten Recherchen haben wir mit der investigativen Rechercheplattform Fass ohne Boden kooperiert. Danke für diesen produktiven Austausch.)
Erstveröffentlichung am 20.3. 2020. Aktualisierungen am 20.3. (SMS-Nachrichten an den Besitzer des Kitzlochs), am 22.3. (Infos zum Zillertal), am 22. März (Info aus Bayern), am 23.3. (Anzeige des Landes Tirol), am 26.3. (Corona-Tests in Ischgl am 7.3.) und am 28.03 (SPIEGEL-Recherche). Mitarbeit von Katharina Rohrauer. Dann Aktualisierung am 5. April (AGES Cluster-Analyse), am 26. April, am 5. Mai und eine überarbeitete Neuveröffentlichung am 22.Mai.
9. Januar: Warnung der EU-Kommission vor COVID-19 an alle Mitgliedsstaaten via EWRS
Das „Early Warning and Response System“ (EWRS) der Europäischen Union dient dazu, alle Mitgliedsstaaten über Seuchen, Pandemien und Bedrohungen des Gesundheitssystems zu informieren und diese zu überwachen. Der Zugang ist beschränkt; die Meldungen sind vertraulich. Am österreichischen Kontaktpunkt sitzen abwechselnd der Abteilungsleiter Bernhard Benka (Gesundheitsministerium, Abteilung Übertragbare Erkrankungen, Krisenmanagement, Seuchenbekämpfung) oder Franz Allerberger, Leiter des Geschäftsfelds Öffentliche Gesundheit bei der AGES.
Gewarnt wurde vor einer „ernsten, grenzüberschreitenden Bedrohung für die Gesundheit“ (serious cross-border threat to health). Daher wurde ein Alarm im System ausgelöst.
15. bis 19. Januar: Der britische Patient 0 infizierte sich in Ischgl
Die Dailymail berichtet über den wahrscheinlichen „Patienten 0“ in Großbritannien: Daren Bland, 50 Jahre alt und von Beruf IT-Konsulent. Er verbrachte mit drei Freunden seinen Schiurlaub in Ischgl. Die Apres-Ski-Bar Kitzloch war gerammelt voll:
Die Leute waren aufgeheizt und verschwitzt vom Skifahren. Die Kellner brachten hunderte Shots an die Tische. Man kann sich kaum eine bessere Heimat für das Virus vorstellen. Nach meiner Rückkehr war ich 10 Tage lang krank. Ich konnte nicht aufstehen, ich konnte nicht arbeiten, ich hatte Atemnot.
Daren Bland hat auch seine Frau angesteckt. Seine Freunde reisten nach dem Urlaub zurück nach Dänemark und in die USA. Dort wurden sie positiv auf das Coronavirus getestet, schreibt die Dailymail. Auch in Dänemark gibt es Zeitungsberichte über diesen Fall.
Freitag, 30. Januar: Das Bayerische Landesamt für Gesundheit informiert die Tiroler Gesundheitsbehörden über eine Corona-erkrankte Frau
Die Betroffene hatte in der Woche zuvor ihren Urlaub in der Dortmunder Hütte im Kühtai verbracht. Die Bayrischen Behörden informieren die Tiroler Behörden auf der anderen Seite der Grenze. Die wiederum erklären laut eines Berichts in den Bezirksblättern vom 30. Januar:
Wir haben uns umgehend mit der Hüttenwirtin in Verbindung gesetzt, um die identifizierten 23 engen Kontaktpersonen, die vornehmlich aus Deutschland stammen, zu identifizieren. Sie werden über den Krankheitsfall persönlich informiert und dafür sensibilisiert, ihren Gesundheitszustand in enger Abstimmung mit dem jeweiligen Gesundheitsamt im Auge zu behalten. Sollten sich Krankheitszeichen entwickeln, wird eine Abklärung eingeleitet“, erklärt Franz Katzgraber, Vorstand der Abteilung Landessanitätsdirektion.
Die Kontaktpersonen stammten also vorwiegend aus Deutschland. Weil er der Test in Deutschland erfolgte, wird dieser COVID-19 Fall offiziell Deutschland und nicht Tirol zugerechnet.
AGES: Erster Corona-Fall in Ischgl am 8. Februar
Am Donnerstag, den 2. April, präsentiert die staatliche AGES ihre Analyse von 40 Coronavirus-Clustern Österreichs. Allein in Österreich lassen sich 611 Infektionen direkt auf Ischgl zurückführen. Im Verlauf des Tages der Veröffentlichung entwickelt sich ein mediales Ping-Pong zwischen der AGES und den Tiroler Behörden. Es geht um den ersten bekannten Fal in Ischgl und darum, wann die Tiroler Behörden Kenntnis davon hatten. Bestätigt, ohne dass die Tiroler Behörden damals Kenntnis hatten, ist jedenfalls der Fall einer „einheimischen Kellnerin“ für den 8. Februar. Sie klagte einen Monat lang über Symtome und wurde derst durch eine Cluster-Untersuchung rückwirkend als positiv festgestellt. Der ursprünglich gemeldete 5. Februar als Datum der ersten Infektion erwies sich als Eingabefehler.
Februar 2020: Viele Patienten mit „grippeähnlichen Symtomen“ in Ischgl
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bar Kitzloch klagen bereits im Februar über „grippeähnliche Symptome„. Das ist zwar in dem Winterskiort nicht ungewöhnlich, weil ein Virus dort schnell umgeht. Auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weiterer Betriebe (etwa eines Supermarkts oder der Seilbahn) klagen über ungewöhnliche, grippeähnliche Symptome. Getestet wird allerdings nicht. Aus einer Zuschrift, die uns über unserer anonymen Datenbriefkasten erreicht hat:
Ich war mit meinen 3 Kindern und meinem Mann vom 14. – 22. Februar in Ischgl – in einem Hotel der Familie P. Mein Mann erkrankte an einem Magen Darm Virus, der in Ischgl angeblich umging. Er hatte allerdings ungewöhnliche Symptome, die diesen “Magen Darm Virus” begleiteten. Zum gleichen Zeitpunkt erkrankten mindestens 3 Kellner und ein Kind einer deutschen Urlauberfamilie (hohes Fieber, Husten und Erbrechen).
Im Nachhinein erfuhren wir, dass noch 2 weitere Gruppen im Speisesaal erkrankten – teilweise bei der Abreise und teilweise während sie dort waren.
Die Familie des so genannten Gourmet Hotels (…) war sehr unfreundlich, als wir versuchten herauszufinden, was das für ein Virus ist und erkundigten sich auch kein einziges Mal nach dem Befinden meines Mannes.
Dienstag, 25. Februar, Quarantäne über das Hotel Europa in Innsbruck
Erste offizieller COVID-19 Fall in Tirol. Eine Rezeptionistin wurde positiv auf COVID-19 getestet. Das Hotel Europa in Innsbruck wird medienwirksam unter Quarantäne gestellt. Die Ansteckung der Beschäftigten erfolgte in der Lombardei, der Test allerdings in Österreich. Daher wird dies der erste COVID-19 Fall in Tirol. Eine Woche zuvor hatte sich Bundeskanzler Kurz mit der Tiroler Adlerrunde in diesem Hotel getroffen.
Mittwoch, 26. Februar, Landessanitätsdirektor Katzgraber: Eine Ansteckung in der Hungerburgbahn ist aus medizinischer Sicht sehr unwahrscheinlich
Die Tiroler Tageszeitung berichtet über zwei Italiener (die Rezeptionistin und ihren Freund), die Corona positiv getestet wurden und in der Innsbrucker Klinik behandelt werden. Die Betroffenen sind am 22. Februar mit mehreren Seilbahnen gefahren. Aufenthalt in den Gondeln etwa 15 Minuten. Das Land Tirol bittet andere Fahrgäste, die zur selben Zeit dort unterwegs waren an, die Hotline anzurufen. Weitere Maßnahmen werden nicht ergriffen.
Ende Februar: Zweiter positiver Corona-Fall in Ischgl (laut Strafanzeige des Landes Tirol)
Eine Mitarbeiterin eines nicht namentlich genannten Betriebs aus Ischgl soll sich mit dem Corona-Virus infiziert haben. Der Arbeitgeber hat sie nach Hause geschickt und den Behörden den Fall aber nicht gemeldet. Unklar ist bislang, ob die Mitarbeiterin, die Symptome zeigte, eine Verdachtsfall war oder ob sie auch tatsächlich positiv getestet wurde. Auch die Bezirkshauptmannschaft Landeck ermittelt wegen Vergehen nach dem Epidemiegesetz.
Sonntag, 1. März: Alle Passagiere eines Flugs von München nach Island werden auf den Corona Virus getestet
In Reykjavik landet ein Flugzeug aus München, in dem sich viele Isländer befinden, die in Tirol Schi fahren waren. Islands Strategie gegen den Coronavirus fußt auf möglichst vielen Testungen, daher werden auch alle Passagiere des Flugzeugs auf das Covid 19 Virus getestet.
Torolfur Gudnason, Chef Epidomologe in Island, meldet am 3. März 16 Coronafälle über das EU-weite Frühwarnsystem für Infektionskrankheiten EWRS . Darunter auch ausdrücklich Personen, die sich in Österreich angesteckt haben. Seitens des Gesundheitsministeriums erfolgt keine Rückfrage.
Mittwoch, 4. März: Island erklärt Ischgl zur Gefahrenzone und infomiert Österreich
Gudnason schreibt über das EWRS System eine Nachricht an alle Mitglieder und eine an die österreichischen Behörden und nennt ausdrücklich den Ort Ischgl als Corona-Hotspot. Fix ist: Um 23:55 Uhr gibt es in Island 8 Corona Fälle, deren Ursprung in Ischgl liegt.
Donnerstag, 5. März: Island gibt eine Reisewarnung für Ischgl heraus
Die isländischen Gesundheitsbehörden geben nun eine ausdrückliche Reisewarnung für den Ski- und Partyort Ischgl heraus. Island setzt den Ort im Paznauntal auf die Liste der „high-risk areas“ – neben China, Italien, Südkorea und Iran, weil Heimkehrende positiv auf das Virus getestet wurden. Diese Information hat auch die österreichischen Behörden erreicht. Dieter Walser, Geschäftsführer des Tourismusverbandes Paznaun – Ischgl wird über die mittlerweile 13 Personen aus Island informiert, die sich nachweislich in Ischgl angesteckt haben.
„Die Betroffenen waren nicht Teil einer einzigen Gruppe, sie wohnten in fünf verschiedenen Hotels und hatten unseres Wissens keinen Kontakt untereinander“ schreibt eine Mitarbeiterin der isländischen Behörde an Walser.
Hier die Details: 12 Isländer sind am 22.2 angereist und am 29.2 (je eine Person am 1.,2. und 3. März) über München zurückgeflogen. Die anderen zwei Personen kamen am 21.2 und flogen am 1.3 nach Island. Die ganze 12er Gruppe und eine Person aus der 2er Gruppe waren infiziert. Diese infizierte Person zeigte schon am 26.2 (!) Symptome und flog am 1.März nach Reykjavik. Sie war in den Reelax Apartments untergebracht. Die zweite Person wohnte im Hotel Gradiva und war von 21.2 bis 3.3. in Ischgl. Die 12er Gruppe, bei der alle infiziert waren, wohnte im Hotel Garnie Martina (3), im Hotel Nevada (7), im Hotel Garni Vogt (1) und im Hotel Gradiva (1). Ihre Symptome traten zwischen dem 29. Februar und 3. März auf.
Aufgrund dieser Meldung ist klar, dass das Virus in Ischgl nicht auf einen einzelnen Überträger oder einen „Hotspot“ eingegrenzt werden kann. Es grassiert im ganzen Ort und kann von allen Urlaubenden übertragen werden. Ischgl ist somit Drehscheibe von COVID-19. Die österreichischen und/oder Tiroler Behörden haben zu dieser Zeit davon detaillierte Kenntnis. Dennoch werden keine Maßnahmen gesetzt. Die Gefahr wird ignoriert und niemand infomiert.
Das österreichische Gesundheitsministerium erkundigt sich am 5. März bei den isländischen Gesundheitsbehörden per Mail im O-Ton wie folgt:
Dear colleagues, Is there More Information on the whereabouts of the Patients in Ischgl/Austria? When did the Symptoms Start? Where did they stay from when to when? Any specific close contacts? Regards, EWRs-A.
Kanzler Kurz: „Ich bin frühzeitig gewarnt worden“
Bundeskanzler Sebastian Kurz meinte in einem Puls24-Fernsehinterview am 17. März mit Bezug auf den Corona-Virus wörtlich:
Ich bin sehr dankbar, dass ich schon vor zwei Wochen von einigen ausländischen Regierungschefs außerhalb Europas gewarnt wurde und dadurch auch in Österreich so viel Druck drauf gemacht habe, dass wir harte Maßnahmen setzen.
Wenn die Aussage vom 17. März 2020 mit den zwei Wochen stimmt, so ist das Wissen, dass von österreichischen Skigebieten eine Gefahr ausgeht, noch vor dem 5. März in der Bundesregierung angekommen. Hat sie diese Informationen etwa nicht weiter gegeben? Gleiches gilt für die Meldung aus Island vom 3. März. Sie wurde weder weiter gegeben noch wurde nach Details gefragt.
Die falsche Erklärung aus Tirol: Ansteckung der Isländer wäre im Flugzeug erfolgt
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass der Tiroler Landessanitätsdirektor Franz Katzgraber noch am selben Tag (am 5.3.) in einer Aussendung argumentiert, die isländischen Urlaubenden hätten sich erst im Flugzeug von München nach Reykjavik angesteckt. Indes traten die Symptome bei den Betroffenen schon sehr schnell nach ihrer Ankunft in Island auf. Aufgrund der Inkubationszeit ist der Hinweis des Sanitätsdirektors (!) also sachlich unzutreffend. Das Partywochenende in Ischgl, in Sölden, am Arlberg und im Salzburger Land kann am Freitag – wie geplant – starten. Alle Skilifte, Hütten, Bars und Restaurants sind offen. Der Tourismusverbad Paznaun versendet am Abend eine Mail an alle Hotels, in der die falsche Darstellung, dass sich die infizierten Isländer im Flugzeug angsteckt hätten, wiederholt wird. Zu diesem Zeitpunkt lag dem Verband allerdings bereits eine schriftliche Information aus Island vor, dass die Isländer nicht zusammen zurückgeflogen sind und bereits in Ischgl Symptome gezeigt haben. Somit konnte die Dastellung einer Ansteckung im Flugzeug auch aus damaliger Sicht nicht zutreffen.
Ab 5. März: Erste positive Tests mit Kitzloch-Bezug
Am 4. März wurde bei T.T., einem Mann aus Norwegen, ein Rachenabstrich abgenomme. Das positive Ergebnis stand am 5. März fest. Dieser Mann besuchte zuvor die Kitzloch-Bar, logierte aber in Pettneu am Arlberg. In Hall nächtigte N.J.. Der Mann machte seinen Test auf COVID-19 am 6. März und das positive Ergebnis erhielt er bereits an diesem Tag. Auch er hatte das Kitzloch besucht. Und schließlich wurde der Test von H.T. am 6. März abgenommen und an der MedUni ausgewertet. Das Ergebnis für diese Frau, bekannt gemacht am selben Tag, lautete ebenfalls auf positiv.
Freitag, 6. März: Eine Reisegruppe aus Bremerhaven reist nach ihrem Skiurlaub in Sölden infiziert heim – das Gesundheitsministerium lässt sich von Platter unter Druck setzten.
Der Blog Norderlesen berichtet am 13. März 2020 über den ersten Corona-Patienten im norddeutschen Bremerhaven. Der Mann war mit einer „Herrenrunde“ auf Schiurlaub in Sölden, berichtet er. Seit Sonntag (8. März) steht er unter Quarantäne, inzwischen wurde auch seine Ehefrau positiv getestet, obwohl sie nicht mit in Sölden war. Sie hatte sich bei ihm angesteckt. Der Betroffene erzählt über die Zeit in Sölden:
Beim Apres-Ski waren die Tanzflächen voll, und da hat auch mal jemand geniest. Wir haben während des Urlaubs alle schon Halschmerzen, Husten und Schnupfen bekommen. Eine Erkältung halt, dachten wir. Das Wetter war entsprechend.
An Corona haben Sie nicht gedacht? Überhaupt nicht, so richtig krank gefühlt haben wir uns ja auch nicht. Und Österreich galt nicht als Risikogebiet.
Mehrfach betont der Mann im Gespräch, dass Österreich ja offiziell kein Risikogebiet war. Die gesamte Reisegruppe, insgesamt fünf Männer, hat sich während des Schitrips infiziert. Ab Sonntag wusste die zuständige deutsche Gesundheitsbehörde Bescheid. Er hatte sie angerufen und wurde daraufhin getestet.
Die Behörden wissen nachweislich von der dezentralen Verbreitung des Virus in Ischgl. Dass der Virus sich in Menschenmassen besonders leicht verbreitet, ist ebenfalls schon lange bekannt. Trotz Warnungen von Virologen werden nur Tests beim Servicepersonal der Tourismusstätten angeregt. Aber: Am Nachmittag des 6. März verfügten die Tiroler Gesundheitsbehörden bereits über die Namen der 14 Namen infizierten Isländerinnen und Isländer.
Österreich stuft nur Südtirol als „potentiell gesundheitsgefährdend“ ein
Das österreichischen Gesundheitsministerium stuft Südtirol als „potentiell gesundheitsgefährdend“ ein. Nach Intervention von Landeshauptmann Günter Platter, der sich um den Ruf auch seiner Skigebiete sorgt und einen Kollateralschaden für Tirol befürchtet, hebt das Gesundheitsministerium die Reisewarnung wieder auf. Deutschland indes warnt vor Reisen nach Südtirol. Frage: Was wäre geschehen, hätten die österreichischen Behörden bereits jetzt eingegriffen?
Samstag, 7. März Barkeeper aus Ischgl erfährt von positivem Corona-Test
Nachdem am Vortag nur ein Medienbericht über 9 Isländer erschienen war, die sich in Österreich infiziert haben, wird nun am Nachmittag um 17 Uhr offiziell bekannt, dass ein Barkeeper aus dem Ischgler Apres-Ski-Lokals „Kitzloch“ positiv auf das Coronavirus getestet wurde. Die Partys gehen indes unvermindert weiter. Personal (eine komplette Kitzloch-Creq) und der Betreiber Bernhard Zangerl gehen in Heimquarantäne. Medienberichte gibt es keine.
Laut eines späteren Berichts der Kronenzeitung entsendet die Tiroler Landessanitätsdirektion Ärzte nach Ischgl, um dort zu testen – allerdings nur ausgewählte Personen. Dies berichtet einer der Ärzte.
Wir durften nur von der Behörde definierte Personen testen. Meine Kollegen und ich spürten aber, dass das Coronavirus schon weit im Land angekommen war. Wir waren uns einig, dass viel mehr Tests notwendig wären als jene durchgeführten bei aus Italien angereisten Personen oder der Putzfrau der Isländer
Daher führten die Mediziner im Ort eigenmächtig Test durch. Das Resultat:
Am nächsten Tag gab es dann die positiven Ergebnisse. Da hätte man Ischgl bereits dicht machen müssen, darin sind wir uns ebenfalls einig. Die Situation wurde aus unserer Sicht klar unterschätzt, man hat zu spät reagiert.
Sonntag, 8. März: die Tiroler Landesregierung: „Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung“
Ganz im Gegenteil gibt die Landesregierung Tirol am folgenden Tag bekannt;
„Eine Übertragung des Coronavirus auf Gäste der Bar ist aus medizinischer Sicht eher unwahrscheinlich“, informiert Anita Luckner-Hornischer von der Landessanitätsdirektion Tirol. (…) „Für alle BesucherInnen, die im besagten Zeitraum in der Bar waren und keine Symptome aufweisen, ist keine weitere medizinische Abklärung nötig. BarbesucherInnen, die aktuell grippeähnliche Symptome haben, sollen die Gesundheitshotline 1450 wählen und werden in der Folge ärztlich abgeklärt. Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung.
In Norwegen registriert man unterdessen bereits 500 Corona-Fälle, bei denen die Ansteckung in Österreich erfolgte. Die große Mehrheit davon in Ischgl. Tirol wird daher auch dort auf die Liste der Risikogebiete gesetzt. Die norwegische Gesundheitsbehörde FHI (Folkehelseinstituttet) meldet diese Fälle sogar über das Frühwarnsystem des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) den österreichischen Behörden. Am Morgen des 9. März leitet das Gesundheitsministerium in Wien diese Meldung an die Landessanitätsdirektion Tirol weiter. Auch Dänemark setzt Ischgl mittlerweile auf die Liste der Hochsicherheitsgebiete. All das berichtet das Ö1-Morgenjournal um 8 vom 19.3.2020.
Das Kitzloch und alle anderen Lokale und Lifte im Paznauntal sind weiterhin geöffnet. Das Geschäft boomt.
Montag, 9. März: Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass…
Nun nimmt auch Finnland Tirol in die Liste der Risikogebiete auf. Der Grund: Es haben sich Infektionen unter finnischen UrlauberInnen gehäuft, die aus Ischgl zurückgekehrt sind. Gleiches tut Schweden.
Und in Tirol? Lediglich das Ischgler „Kitzloch“ wird behördlich geschlossen, und das zwei Tage, nachdem bekannt geworden war, dass ein Barkeeper des Lokals positiv auf Corona getestet ist. Nun meint die Tiroler Landesregierung:
In diesem Zusammenhang kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass es eine Verbindung zu einem Teil der in Island positiv getesteten Personen gibt, die sich nach jüngsten Erhebungen kürzlich ebenso in Ischgl in besagter Bar aufgehalten haben.
Trotz dieser Häufung expliziter Reisewarnungen meinen die Behörden vor Ort immer noch, es „kann nicht ausgeschlossen werden“ und lassen die Partys in den anderen, noch geöffneten Bars weiter laufen. Diese anderen Bars befinden sich in unmittelbarer Nähe zum Kitzloch. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war die Faktenlage indes eindeutig: In den Skigebieten Ischgl und Sölden grassiert das Corona-Virus.
9. März, Hörl (ÖVP): Willst du am Ende der Saison in Ischgl Schuld sein?
Der Tiroler Blog die tiwag veröffentlicht zwei SMS-Nachrichten des mächtigen Manns im Hintergrund, des ÖVP-Politikers Franz Hörl, seines Zeichens Obmann des Fachverbandes der Seilbahnwirtschaft. Er schreibt an den Besitzer des Ischgler Kitzlochs, dass er zusperren sollte. Falls nicht, sei er „schuld am Ende der Saison in Ischgl und eventuell Tirol.“
Brisant: Der SMS-Schreiber Hörl betreibt selbst einen Gasthof im Zillertal, den Gaspingerhof in Gerlos. Aus dem Ort meldet die Tiroler Tageszeitung am 22. März bereits 32 Corona-Fälle. Die Gesundheitsbehörden gehen davon aus, dass der Zeitraum vom 8. bis 15. März besonders kritisch war. Hörl bestätigte übrigens den Inhalt der Nachrichten, und dass sie am 9. März geschrieben wurden. Hotels aus der Region kontaktieren derweil ihre Gäste, um sie zu warnen. Auch im Hotel Hörls gab es mindestens einen Corona-positiv-Fall. Unklar ist, auf welchem Weg Hörl eigentlich von den Infektionen im Kitzloch erfahren hat.
Dienstag, 10. März: Ischgl wird No-Go-Area in Dänemark, doch der Skibetrieb geht unvermindert weiter
Die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen erklärt auf einer Pressekonferenz Ischgl wörtlich zu einer No-Go-Area. Doch der Betrieb der Skilifte geht weiter; die Restaurants laden zum Schmaus. Lediglich die Après-Ski-Lokale in Ischgl müssen schließen. Das Bundesgesundheitsministerium verfügt per Erlass, der an alle Landeshauptleute ergeht,
dass nach § 15 des Epidemiegesetzes 1950 sämtliche Veranstaltungen in ihrem Wirkungsbereich, die ein Zusammenströmen größerer Menschenmengen mit sich bringen, zu untersagen sind, bei denen mehr als 500 Personen (außerhalb geschlossener Räume oder im Freien) oder mehr als 100 Personen in einem geschlossenen Raum zusammenkommen.
Eine Woche, nachdem die erste Meldung aus Island gekommen ist, reagiert nun auch der Tiroler Landeshauptmann – auf Druck der österreichischen Bundesregierung. Dass nur Apres Ski untersagt wird, alle anderen Lokale, Restaurants und Geschäfte weiterhin geöffnet haben, zeigt, wie halbherzig diese Reaktion ausfällt.
Im Nachbarort St. Christoph findet derweil ein Sportärzte-Kongress statt. Die Veranstaltung wird wegen Covid 19 abgebrochen, dennoch entscheidet sich eine Mehrheit, nicht abzureisen, sondern Skifahren zu gehen. Mindestens neun Ärzte infizieren sich.
Mittwoch, 11. März: Skibetrieb wird untersagt, doch erst ab Samstag
Das Land Tirol gibt nun bekannt, dass der Skibetrieb untersagt wird – vorläufig für zwei Wochen, und das erst ab Samstag, 14. März. So wie Hörl es in seiner SMS angekündigt hatte. Am gleichen Tag ist um 11 Uhr auf der Idalp auf 2300 Metern noch voller Betrieb, wie dieses Webcamfoto beweist. Dabei dürfte die Zahl von 500 Personen im Freien überschritten worden sein. Und auch in Sölden läuft der Skibetrieb weiter, und das bis zum 14. März, wie das nächste Webcamfoto vom Giggijoch belegt.
Donnerstag, 12. März: Das Epidemiegesetz erzwingt das Ende der Wintersaison
Nun also doch: Das Land Tirol widerruft, was es tags zuvor bekannt gegeben hatte und stellt nunmehr den Skibetrieb für die gesamte Wintersaison und in ganz Tirol ein. Die Seilbahnen werden allerdings erst mit Ablauf Sonntag, 15. März 2020, geschlossen; die Beherbergungsbetriebe ab Montag, 16. März 2020. Grundlage dafür: das Epidemiegesetz, das seitens der Bundesregierung bereits am 10. März in Anschlag gebracht wurde. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Ischgler Gastronomie werden förmlich aus dem Ort geworfen.
Freitag, 13. März: Ausrufen der Quarantäne für St. Anton und das Paznauntal
Über St. Anton am Arlberg, Ischgl und andere Orte im Paznauntal wird am frühen Nachmittag die Quarantäne verhängt, und das mindestens eine ganze Woche nach den offiziellen Warnungen aus Island, aus Dänemark, aus Norwegen, Schweden und aus Deutschland. Die Urlauber müssen Hals über Kopf den Ort verlassen. Viele mieten sich über Nacht in Innsbruck in Hotels ein. Ganze Reisegruppen irren durch Tirol und suchen Unterkunft. Auf das Virus getestet werden sie bei der Abreise nicht.
Resultat: Mindestens 1000 Menschen in den fünf nordischen Staaten, in Deutschland, Österreich und vermutlich einigen anderen Ländern sind durch das Corona-Virus via Ischgl infiziert worden.
Dänemark sendet an diesem Tag noch eine detaillierte Auflistung von 283 mit dem Coronavirus infizierten Urlaubsheimkehrern aus Österreich. Allein 184 davon kamen aus Ischgl, 60 aus St. Anton am Arlberg. Doch diese Warnungen wurden, so das Land Tirol, nicht weitergeleitet, berichtet der Standard.
Samstag, 15. März: Positiver Corona-Test bei Barmann in Sölden
Nun geht es auch in Sölden offiziell los: Ein Mitarbeiter der Apres-Ski-Bar „Schirmbar“ erfährt abends von seiner Diagnose. Drei Tage zuvor, am Donnerstag, bekommt er eine Nachricht, dass ein aus Sölden heimgereister Gast positiv getestet wurde. Daher hatte er sich freiwillig testen lassen. Zeitgleich wird am Samstag in Brandenburg an der Havel die Corona-Infektion eines Sölden-Urlaubers bestätigt. Der Skibetrieb in Sölden läuft indes weiter, bis Sonntagmittag.
Montag, 16. März: „Wir haben alles richtig gemacht“ (Gesundheitslandesrat Tilg)
„Alles richtig gemacht„. Der Tiroler Gesundheitslandesrat Bernhard Tilg kann in einem Interview mit der „ZiB 2“ keine Fehler seitens der Behörden erkennen.
Der Vorwurf, dass sich da die Bergbahnlobby durchgesetzt habe, „stimmt nicht“. Tirol habe ständig Maßnahmen getroffen, „die Gesamtvorgangsweise war richtig“.
Dienstag, 17. März: „Wir haben das Menschenmögliche gemacht“ (Landeshauptmann Platter)
Tags drauf meint der Tiroler Landeshauptmann Platter im Interview mit dem Standard:
Es dürfte allen klar sein, dass diese Krisenbewältigung eine unfassbar schwierige Aufgabe ist. Ich kann mit gutem Gewissen sagen, dass das Menschenmögliche gemacht wurde in der jeweiligen Situation, um angepasste Maßnahmen zu setzen. Aber ich will dazu auch sagen: Wir lernen tagtäglich dazu, in Tirol, aber auch weltweit. Dieses Virus ist ja nicht in Ischgl entstanden. Daher mussten wir erst lernen, damit umzugehen. Und wir haben etwa im Laufe der Zeit festgestellt, dass eine Verbreitung dort wesentlich schneller gegangen ist, wo mehr Leute zusammenstehen. Man wird danach schauen müssen, was ist gut gelaufen und was weniger.
Am Abend werden sowohl Sölden im Ötztal als auch St. Christoph am Arlberg ebenfalls unter Quarantäne gestellt. Landeshauptmann Platter erläutert nun:
Uns liegen drei positive Testungen von Personen aus Sölden vor, wo wir wiederum nicht ausschließen können, dass ein Bezug zu einer Schirmbar hergestellt werden kann.
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Die Grundstruktur dieser Recherche bildete die ausgezeichnete Zusammenschau der Ereignisse in Ischgl „Das ist ja nichts anderes als eine Grippe, die für die allermeisten nicht tödlich ist“, die auf dem Blog Homopoliticus erschienen ist.
Unsere Arbeit ist nicht profitorientiert. Damit wir auf diesem Niveau (und wenn möglich noch besser) weiter arbeiten können, sind wir auf eure Spenden angewiesen. Bitte hinterlasst einen Obolus auf unserem Spendenkonto… Danke!
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Ich hoffe, Sie recherchieren auch in Deutschland. Bezüglich Karneval, der eigentliche Verbreiter des Virus.
„Nach Intervention von Landeshauptmann Günter Platter, der sich um den Ruf seiner Skigebiete sorgt und einen Kollateralschaden für Tirol befürchtet, hebt das Gesundheitsministerium die Reisewarnung wieder auf.“
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Bitte ein paar Zusatzinfos, danke!
Scheint nicht ganz vollständig zu sein? Ich dachte bei diesem Franz Hörl im Hotel Gaspingerhof hätte es schon vorher einen Verdacht/ Fall gegeben? Was wissen Sie darüber? https://www.krone.at/2122953
„Hörl nennt Details: „Am 27. Februar hat sich in meinem Hotel eine Holländerin gemeldet und über Fieber und andere Symptome geklagt. Ich war beruflich in Wien. Als ich davon erfahren habe, veranlasste ich sofort, dass die Frau das ärztlich abklären soll“, schildert Hörl. „Zunächst hieß es, es fehle nicht weit. Ich habe dennoch angeordnet, dass die Frau im Zimmer in Quarantäne bleiben soll. Am nächsten Tag ging sie aber ohne unser Wissen zum Arzt, schilderte dort ihre Symptome, woraufhin der Arzt die Dorf-Seilbahn, in der die Praxis untergebracht ist, und den Gaspingerhof sperren ließ.“
Das eine Holländerin das Touristikamt gewart hatte und extra die Telefonnummer der Island Behörden steht auch nicht drin. Das Touristikamt gehört doch einem Hotelbesitzer der Adlerrunde.
Ed Moschitz schreibt heute:
„Der Ischgler Bürgermeister Werner Kurz und ein Büro des Tourismusverbandes haben den Bürgern im Paznauntal empfohlen keine Informationen an Medienvertreter zu geben. Vermutlich sollten keine Bilder von Strassensperren und chaotischen Zuständen das gesperrte Tal verlassen.“
Vielleicht sollten die „ermittelnen“ Journalisten mal gegenlesen und vervollständigen, damit alles zusammengefügt wird und hier wohl einiges fehlt.