Das eine ist, aus der Distanz heraus zu einem Thema zu recherchieren. Etwas anderes ist es, vor Ort mit Fragen und Beobachtungen ein Problem zu beleuchten. Sebastian Reinfeldt wollte letzteres tun. Daher reiste er bereits zum zweiten Mal nach Ischgl. Wie sind die Tage des März dort genau abgelaufen? Wie konnte es passieren, dass der Tiroler Wintersportort zu einem der Viren-Spreader Europas wurde? Viele Fragen sind bis heute unbeantwortet und Details bleiben unklar. Doch leider waren weder der Tourismusverband Paznaun noch Bürgermeister Werner Kurz bereit, mit ihm zu sprechen. Andere schon. Hier seine zweite Reportage aus Ischgl.
Investieren, investieren – und nicht sparen!
Wer durch den Ort mit seinen geschlängelten Wegen, Tunneln und Pfaden schlendert, kann bemerken, wie zusammengestoppelt das alles eigentlich ist – architektonisch gesehen. Zweckbauten aus den 1970er Jahren liegen in unmittelbarer Nachbarschaft zu Hotels mit historisierten Fassaden, die wiederum am Fuße der hypermoderen Seilbahnstation auf die Gäste warten. Dieses Ortsbild kommt auch dadurch zustande, dass jedes Jahr investiert wird. „Investieren, investieren – und nicht sparen“, das ist das Motto im Ort. Und wenn der Nachbar wieder anbaut, dann muss man selber nachziehen. Jede dieser Investitionen ist im Grunde genommen eine Wette auf eine gute, planbare Zukunft. Doch: Gibt es die in Zeiten von Corona?
Drei Großbaustellen nach der Quarantäne
In Ischgl offenbar. Dort ist wieder die Zeit des Bauens gekommen. Wenige Tage nach Ende der Quarantäne hat die Familie von der Thannen die Trofana Alm abreissen lassen und will nun an gleicher Stelle etwas Qualitätvolleres hochziehen. „Irgendwie andersch“ soll es werden, meint Johann von der Thannen lapidar. Die Trofana Arena hingegen ist schon Geschichte. Wo vor Wochen noch Frauen auf Tischen tanzten, werden in Zukunft Bademäntel und Handtücher für das 5 Sterne Superior Hotel Trofana Royal gelagert werden.
Im Ort wird der Skihang erweitert. Daher fahren Lastwagen im Minutentakt mit Erdhaufen am Lader herum. An den Straßenenden sind jeweils Wassersprenkler aufgestellt. Sie reinigen die LKW-Reifen beim Durchfahren. Damit die Straßen nicht so stark verdrecken und damit es nicht staubt.
Auf der anderen Seite des Tals befindet sich eine weitere Großbaustelle. Hier entsteht die Silvretta-Therme. Das wird die nächste Touristenattraktion. Bauherr: die mächtige Silvrettaseilbahn AG. Sie gibt den Takt im Ort an. Ihre Gewinne, rund 18 Millionen in der vergangenen Saison, sind seit ihrem Bestehen noch nie in Form von Dividenden ausgeschüttet worden. Auch nicht an die vielen Mini-Aktionäre aus dem Ort. Gewinne werden eben investiert.
Raus aus dem Corona-Eck!
Die Leute sehen sich ungerecht behandelt und in ein Eck gedrängt. Das ist nachvollziehbar. Denn das Virus ist in Ischgl natürlich nicht ausgebrochen. Die räumliche Enge, die Form des Tourismus und die überstürzte Abreise am 13. März haben die Verteilung via Ischgt bewirkt. „Wir waren in der Quarantäne-Zeit eigentlich ganz entspannt,“ berichtet der Kitzloch-Wirt Bernhard Zangerl. Er ist derzeit das sympathische Gesicht des Ortes nach Außen. Unaufgeregt und freundlich erzählt er, wie es war: dass sie nach den Vorgaben der Behörden gehandelt hätten und dass ihnen die Tragweite des Virus früh klar wurde. Spätestens seitdem sie wussten, dass praktisch eine ganze Kitzloch-Crew infiziert war. Er selber übrigens auch und praktisch seine gesamte Familie.
Journalisten sehen Ischgl nur als Corona-Hotspot
Gäste sind derzeit keine dort. Wenn wer Fremdes vorbei kommt, dann ist es in der Regel ein Journalist oder eine Journalistin. Bernhard Zangerl kann sich gar nicht mehr an alle Interviews erinnern, die er schon gegeben hat. Nur vor dem Interview mit Armin Wolf in der ZiB2 hat er sich coachen lassen, gibt er zu. Klar war er vorher nervös. Die Haltung der Leute im Ort ist zwar irgendwie verständlich. Aus meiner Sicht sind das eigentliche Problem aber die fatalen Kommunikationstrategien der Verantwortlichen. Sie habe ich miterlebt.
Eine imaginäre – oder eine wirkliche – schwarzer Liste
Informationen über Abläufe werden von den Behörden in Tirol wie ihr privater Schatz gehütet, statt sie der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Statt einfach zu zeigen, was Sache war und ist, bekommt man die immer gleichen Stehsätze zu lesen oder zu hören. Wer sich mit denen zufrieden gibt, wird mit netten Informationen gefüttert – und wer weiterhin kritisch nachfragt, wird offenbar auf eine (wirkliche oder imaginäre) schwarze Liste gesetzt. Auf so einer scheine ich zu stehen, denn mir wird zwei Stunden vor einem vereinbarten Gespräch im Gemeindeamt Ischgl ausgerichtet, dass ich dort nicht erwünscht sei. Da hätte ich ja Fragen an den Tourismusverband und den Ischgler Bürgermeister Werner Kurz stellen können.
Abläufe und Zuständigkeiten sind weiterhin im Dunkeln
Beispielsweise hätte mich interessiert, was in den Verordnungen der Bezirkshauptmannschaft Landeck vom 10. und 12 März stand. Oder ich hätte wissen wollen, wer die behördlichen Vorgaben für den Ablauf der Abreise nach Verkündung der Quarantäne am 13. März erlassen hat. Danach sind Tausende unkontrolliert und ungetestet aus dem Ort komplimentiert worden – mit fatalen Folgen, wie wir heute wissen.
Denn das Gesundheitsministerium, das von Wirtschaftskammerpräsidenten Christoph Walser (natürlich ÖVP) als verantwortliche Institution genannt wurde, hat ausgeschlossen, Anweisungen gegeben zu haben. Walser hatte der Tiroler Tageszeitung (die nämlich aus guten Gründen nicht auf einer schwarzen Liste steht) gegenüber behauptet:
In einem Antwort-Mail des hier erwähnten Gesundheitsministeriums auf Semiosis-Nachfrage heißt es dazu:
Das BMSGPK war nicht in die Abreiseorganisation der TouristInnen aus Ischgl involviert, es gab keine „Beauftragung“ der Abreise oder eine Weisung diesbezüglich seitens des Gesundheitsministeriums an die Landessanitätsdirektion Tirol.
Die Wahrheit, davon bin ich überzeugt, kommt so oder so ans Licht. Wir werden erfahren, wer verantwortlich war. Bis dahin leiden nicht nur die Fragenden unter diesem amateurhaften und undemokratischen Umgang der Tiroler Verantwortlichen und ihren fadenscheinigen Ausreden und Schuldverschiebungen. Auch die Bewohnerinnen und Bewohner werden noch lange über das Bild ihres Ortes als „Corona-Hotspot“ klagen müssen.
Wer eine Chronologie des Geschehens in Tirol lesen möchte, sei auf unsere aktualisierte Chronologie der Ereignisse verwiesen.
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