Wie konnte es dazu kommen, dass von Ischgl ausgehend sich das COVID-19 Virus nach Österreich und nach Europa verbreitet hat? Niemand behauptet ernsthaft, dass das Virus in Tirol oder in Ischgl entstanden sei. Aber die Tiroler Behörden waren bei ihren „Abklärungen“ der ersten positiven Corona-Tests schlicht auf der falschen Fährte. So verstrich wertvolle Zeit. Das ergeben jedenfalls aktuelle Recherchen von Sebastian Reinfeldt. Bereits vor dem positiven Testergebnis des Kitzloch-Barkeepers, das am 7. März um 17 Uhr bekannt wurde, gab es Corona-Fälle in Tirol, und das bei drei Personen, die die Ischgler Après-Ski-Bar besucht hatten.
Der Viren-Spreader Ischgl
Vor zwei Monaten wurde öffentlich bekannt, dass COVID-19 sichtbar und spürbar in Österreich umher geht. Nach Lage der Dinge ist dieser Ausbruch in Tirol beschleunigt worden. Das weiß mittlerweile ganz Europa. Und auch den Namen “I S C H G L” können viele Menschen in der Welt mittlerweile ausbuchstabieren, auch wenn sie niemals dort gewesen sind. War dies quasi ein Naturereignis, das dem Land von Außen wiederfuhr, oder tragen die Behörden bei seiner Verbreitung eine Mit-Verantwortung? Aufgrund neuer Informationen zum Fall Kitzloch haben wir die Landesregierung um Auskunft gebeten – und diese auch erhalten. Demnach hat sich das Geschehen in den Tagen des März folgendermaßen abgespielt:
Das Ischgl-Buch von vorne lesen
Der erste Fall in Ischgl sei ein Barkeeper gewesen, den die Tiroler Landesregierung für einen Norweger gehalten hat. Doch war er jedenfalls nicht der erste positive Fall, der mit der Kitzloch-Bar in Verbindung steht. Und das wissen wir nicht erst aus heutiger Sicht, aus der wir, wie Landeshauptmann Platter gerne formuliert, „das Buch von hinten her lesen können“. Sondern auch damals waren weitere COVID-19 Infektionen in Tirol mit Bezug zu Ischgl bekannt. Die Behörden wussten über die anderen Testergebnisse Bescheid. Das Buch lässt sich also auch von vorne gut lesen. Weil die Tiroler Behörden auf einer falschen Fährte waren, haben sie die Betroffenen erst zu spät nach ihren Besuchen in Ischgl befragt. Dort gingen die Partys daher bis 13. März weiter.
Vier positive Tests in vier Tagen – alle mit Bezug zum Kitzloch
Am 4. März wurde bei T.T., einem Mann aus Norwegen, ein Rachenabstrich abgenommen und an der MedUni Innsbruck ausgewertet. Das positive Ergebnis stand am 5. März fest. Dieser Mann war zuvor in der Kitzloch-Bar, logierte aber in Pettneu am Arlberg. In der Umgebung von Innsbruck, konkret in Hall, nächtigte N.J.. Der Mann machte seinen Test auf COVID-19 am 6. März und das positive Ergebnis erhielt er bereits an diesem Tag. Auch er hatte das Kitzloch besucht. Und schließlich wurde der Test von H.T. am 6. März abgenommen und an der MedUni ausgewertet. Das Ergebnis für diese Frau, bekannt gemacht am selben Tag, lautete ebenfalls auf positiv. Alle drei Personen kommen aus Norwegen und sie hatten Ischgl und das Kitzloch besucht.
Am 7. März schließlich wurde am späten Vormittag der Test des Kitzloch-Barkeepers abgenommen. Sein positives Resultat gab es am selben Tag um 17 Uhr. Diese Daten sind dem Semiosisblog seitens der Tiroler Landesregierung so bestätigt worden.
Warum erinnern wir uns dann nur an den Barkeeper?
Warum ist in unserem Bewußtsein dann hängen geblieben, dass dieser angebliche norwegische Barkeeper der erste Ischgler COVID-19-Fall gewesen sei?
Die Antwort ist komplex und einfach zugleich. Die einfache Version lautet: Weil die Tiroler Landesregierung zu dieser Zeit (und bis heute) darauf bedacht war, dem Virus einen Reisepass anzuhängen. COVID-19 sei im März “von Außen” nach Tirol hineingetragen worden. Diese Geschichte erzählt Landeshauptmann Günther Platter etwa in seiner Pressekonferenz am 27. März 2020:
Donnerstag, 5. März: Positiv getesteter Fall im Bezirk Landeck
In den Pressemeldungen der Landesregierung aus dieser Zeit werden die genannten Personen und ihre Tests erwähnt. Durchgängig beziehen die Verantwortlichen deren Erkrankung auf ihre ausländische Herkunft und auf ihren Aufenthalt in Italien. Die Tatsache, dass die Genannten im Kitzloch waren, wird weder erwähnt noch wurde das in den ersten behördlichen Abklärungen überhaupt erfragt. Am 5. März gibt die Landesregierung somit die Erkrankung des ersten positiv Getesteten bekannt. Es ist ein
22-jähriger norwegischer Student, der sich die Tage zuvor in Mailand und Bologna aufgehalten hat, am Coronavirus erkrankt.
Freitag, 6. März: Drei Personen aus Norwegen am Coronavirus erkrankt
Einen Tag später erfolgt die Information über die beiden anderen Personen. Alle drei stammten aus Norwegen, hätten untereinander engen sozialen Kontakt und seien zwischen 23 und 24 Jahre alt, berichtet die Tiroler Landesregierung. Und weiter:
Die routinemäßigen behördlichen Abklärungen laufen bereits, um mögliche weitere Kontaktpersonen zu identifizieren. Kontaktpersonen aus dem engen Umfeld werden für 14 Tage isoliert.
Samstag, 7. März: Barkeeper im Bezirk Landeck am Coronavirus erkrankt
Auch bei der Meldung der Erkrankung des Barkeepers wird reflexartig auf seine norwegische Herkunft verwiesen. Wobei diesmal sein Name als Pars pro toto für seine Herkunft herhalten muss. „Ein Norweger“ (der in Wahrheit einen deutschen Reisepass besitzt) sei heute im Bezirk Landeck im Gemeindegebiet von Ischgl positiv auf eine Coronavirus-Erkrankung getestet worden.
Der 36-Jährige wurde umgehend isoliert und wird zur weiteren Behandlung in die Infektiologie der Innsbrucker Klinik gebracht“
informiert Anita Luckner-Hornischer von der Landessanitätsdirektion.
Enge Kontaktpersonen aus dem Arbeitsumfeld des 36-Jährigen seien bereits unter Quarantäne gestellt worden. Es handele sich um 19 Kontaktpersonen aus dem Kreis der Arbeitskollegen und Urlaubsgäste im Lokal. Die in dieser Meldung nicht namentlich genannte Bar wurde von Seiten der Behörden am Tag nach Bekanntgabe des Testergebnisses kurzeitig gesperrt (allerdings wohl zu einer Uhrzeit, in der sie sowieso geschlossen war). Es wurde angeordnet, die gesamte Belegschaft auszutauschen und die Bar zu desinfizieren.
Sonntag, 8. März: Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung
Was weiter geschah, liest sich aus Sicht der Landesregierung so:
Am Sonntag, 08.03.2020, erfolgte am Vormittag die Kategorisierung der Kontaktpersonen nach dem Erlass des Bundesministeriums und der Empfehlung der AGES sowie die Desinfektion der Räumlichkeiten. Bei allen Kontaktpersonen wurde eine Rachenabstrichnahme durchgeführt.
so die Antwort auf eine entsprechende Semiosis-Anfrage.
Öffentlich kommuniziert wurde indes anders. Die Landessanitätsdirektion gibt nämlich in ihrer Pressemitteilung vom 8. März bekannt:
Eine Übertragung des Coronavirus auf Gäste der Bar ist aus medizinischer Sicht eher unwahrscheinlich. (…) Für alle BesucherInnen, die im besagten Zeitraum in der Bar waren und keine Symptome aufweisen, ist keine weitere medizinische Abklärung nötig. BarbesucherInnen, die aktuell grippeähnliche Symptome haben, sollen die Gesundheitshotline 1450 wählen und werden in der Folge ärztlich abgeklärt. Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung.
Montag 9. März: Die Ischgler Bar Kitzloch wird behördlich gesperrt
Die Kitzloch-Bar wird nun doch gesperrt, weil sich ergeben hat, dass sich auch die ArbeitskollegInnen des Barkeepers infiziert haben. So informiert die Landesregierung in zwei separaten Meldungen.
Mittlerweile verschwunden sind die drei ersten positiven Fälle (vom 4., 5. und 6. März), obwohl alle drei einen Bezug zum Kitzloch aufweisen. Eine von ihnen, die Studentin aus Norwegen, taucht öffentlich erst wieder am 9. März in einer Sammelmeldung der Regierung zur Universität Innsbruck auf. Ein Bezug zur Kitzloch-Bar fehlt auch hier. Die Leserinnen und Leser erfahren allerdings, dass es sich um eine Norwegerin handeln würde:
Die am Coronavirus erkrankte Studentin aus Norwegen besuchte in der vergangenen Woche auch Lehrveranstaltungen an der Universität Innsbruck. In Abstimmung mit der Landessanitätsdirektion und der Universität wurden die jeweiligen LehrveranstaltungsleiterInnen sowie Studierende der betroffenen Lehrveranstaltungen umgehend informiert. Sie werden angehalten, sich vorsorglich zur Sicherheit für 14 Tage zu isolieren und ihren Gesundheitszustand genau zu beobachten. Die Durchführung der betroffenen Lehrveranstaltungen vor Ort wurde abgesagt.
Tatsache ist: An diesem Montag, den 9. März, wussten die Tiroler Behörden bereits, dass die erkrankte norwegische Studentin auch Gast im Kitzloch war.
Die Land Tirol war schlicht auf der falschen Fährte
Die öffentliche Kommunikation der Tiroler Behörden zeigt, dass sie sich damals auf einer falschen Fährte befunden haben. Sie behandeln das Phänomen der COVID-19 Infektionen als ein Ereignis, das auf das Ausland verweist. Damit hängen sie dem Virus praktisch einen Reisepass an, je nachdem, woher sein „Wirt“ oder seine „Wirtin“ stammt oder zu stammen scheint. Dass Tirol selbst, und hier besonders der Wintersportort Ischgl, die Verbreitung des Virus beschleunigen könnte, machen sie nicht deutlich. Und das trotz der internen Datenlage und trotz der Warnungen und Informationen aus Island, die bereits am 3. März, am 4.März, und 6. März erfolgten. Da in Norwegen und Dänemark mittlerweile Touristen erkrankt aus Ischgl ankamen, meldeten auch deren Gesundheitsbehörden: Ischgl ist ein Hochrisikogebiet. Aus heutiger Sicht begründet die Landesregierung in ihrer Antwort auf eine Semiosis-Anfrage ihr Versäumnis wie folgt:
Nach Bekanntwerden der ersten positiven Testung des Barkeepers in Ischgl am Abend des 7. März wurden die drei ErasmusstudentInnen am 8. März nochmals explizit von den Behörden auf das Kitzloch angesprochen und befragt. Daraufhin bestätigten die drei ErasmusstudentInnen am späten Abend des 8. März, dass sie im Kitzloch waren.
Vielen Dank für die mühsame Arbeit beim Zusammentragen obiger Fakten und Sachverhalten. Ich besuche diesen Blog zwar unregelmäßig, aber dafür sehr aufmerksam und gerne.