Ein politisches Tauschgeschäft mit Folgen: Das türkis-grüne Regierungsprogramm

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By Sebastian Reinfeldt

Offenbar wurde hier politisch getauscht. Das medienwirksame Spielfeld Migration und Innere Sicherheit wurde der ÖVP überlassen; der nicht weniger medienwirksame Bereich der Klimapolitik und der Staats- und Parteien-Transparenz geht an die Grünen. Beide Parteien haben dort vom jeweiligen Gegenüber viel Spielraum bekommen. Allerdings: Das von den Grünen geführte Klima- und Umwelt-Superministerium bekommt in Gestalt eines ÖVP-Staatsseketärs einen Aufpasser. Die Option auf eine entsprechende Funktion auf Seiten der ÖVP haben die Grünen nicht gezogen. Sie ergänzen den Bereich Kunst und Kultur.

Zwischen diesen groben Konturen des Regierungsprogramms findet sich viel Technokratie, viel Verwaltungskleinklein und allerhand Absichtserklärungen, bei denen man mehr als skeptisch sein darf, ob diese tatsächlich in allen Punkten umgesetzt werden. Sebastian Reinfeldt hat sich den Text schon mal angeschaut. Hier sein Bericht. (Leicht aktualisiert am 3. Januar 2020)


326 Seiten Vorhaben: mal konkret, mal nur Absichten

Das Regierungsprogramm enthält auf 326 Seiten eine Menge von Zielsetzungen und Maßnahmen, die unspektakuläre und vage Willensbekundungen enthalten. Das war auch bei dem Text der Vorgängerregierung aus ÖVP und FPÖ so. „Neue“ Ansätze finden sich im Klimabereich, beim Wegwerfverbot für Supermärkte, in der umfassenden Informationsfreiheit. Es gibt mehr Ressourcen für das Dokumentionsarchiv des Widerstands (DÖW) und eine neue, entsprechende Institution zum politischen Islam. Wir bekommen digitale Akteneinsicht, es werden mehrsprachige Polizisten rekrutiert, es gibt eine Polizeigewaltbehörde und mehr Psychotherapieplätze. Und so weiter. Doch es wird auch einiges aus den Vorgängerregierung(en) fortgeschrieben.

Pflegeversicherung – aber wie?

Beispielsweise findet sich im Kapitel Pflege der Verweis auf eine Pflegeversicherung, die ironischerweise in die AUVA (also in die Unfallversicherung) integriert werden soll, und nicht in die PVA, in die Penionsversicherung, kommt. Bei der Präsentation des Regierungsprogramms vor den Medien sprach Sebastian Kurz von einer „fünften Säule“ der Sozialversicherungen.
Konkret ausformuliert wurde es aber nicht. Wer, wie viel zahlt und wer diesen Topf verwaltet und vergibt, bleibt ungeklärt. Und ob das Geld für die Maßnahmen, die zur Verbesserung der Pflege formuliert worden sind, ausreicht, scheint ebenso nicht geklärt worden zu sein.

Ein Ziel: Einige schwarz-blaue Vermächtnisse aufarbeiten

Die Pflegereform hat türkis-blau nicht geliefert, und sie hätte das auch nicht hingekriegt, wenn sie die Veröffentlichung des Ibiza-Videos überdauert hätte. Zu inkompetent und dilettantisch agierte die FPÖ-Ministerin Beate Hartinger-Klein in ihrem Ressort. Sie tat so, als sei sie auf sich alleine gestellt, sie verfügte über keine einflussreichen Netzwerke und sie war beratungsresistent.
Die Versäumnisse und Fehler der türkis-blauen Vorgängerregierung werden auch beim Kampf gegen die Armut deutlich. Hier wird durch die Senkung des Eingangssteuersatzes bei der Einkommenssteuer von 25% auf 20% sowie durch Erhöhung der Untergrenze des Familienbonus von 250 auf 350 Euro pro Kind und des Gesamtbetrages von 1.500 auf 1.750 Euro pro Kind versucht zu korrigieren, was türkis-blau herbeigeführt haben. Die Bekämpfung der Kinderarmut ist ein grünes Schwerpunktthema, das mit diesen Maßnahmen allerdings nicht ihr Auskommen finden wird.

Transparenz: gläserne Verwaltung, gläserne Parteien

Ganz anders schaut dies beim Thema Transparenz aus. Hier wird aus dem Vollen geschöpft und es kommen viele Maßnahmen, die seit Jahrzehnten im Gespräch sind: Die Prüfung der Parteifinanzen durch den Rechnugnshof etwa. Oder auch, noch wichtiger, die Prüfung derjenigen Firmen durch den Rechnungshof, an denen der Bund 25 Prozent Beteiligung hält. Es soll eine gläserne Verwaltung geben – und daher wird auch das Amtsgeheimnis fallen.

Der große Abtausch: Migration und Sicherheit gegen Klima

Der bedeutende Durchbruch bei den Verhandlungen scheint der große Abtausch zwischen den Themen Migration, Innere Sicherheit und Klima gewesen zu sein. Die in den vergangenen Tagen geleakten Punkte einer rechtspopulistischen law-and-order Politik in den Bereichen Innere Sicherheit und Migration, die den Grünen weh tun sollten, sind im Text allerdings in einer Vielzahl technokratischer Bulletpoints eingelassen und versteckt. Aber die Schutzhaft im Verdachtsfall fällt ins Kapitel Migration (obwohl es doch in die Justiz gehören würde, oder?) und auch die Rückkehrzentren für abgelehnte Asylbewerber werden wieder auf die Tagesordnung gesetzt.

Klimapolitik: Sehr konkret und äußerst ambitioniert

Im Unterschied dazu sind die Aussagen zum Klimaschutz deutlich konkreter, radikaler und ambitionierter. Hier haben sich die Grünen nicht nur textlich durchgesetzt, sondern sie haben Vorsorge getroffen, dass ihnen die Maßnahmen im Laufe der Zeit nicht wieder weg verhandelt werden können. Es beginnt schon kurzfristig mit dem Nationalen Energie- und Klimaplan, den die ÖVP-FPÖ-Regierung gründlich verhauen hat, und der nun so ausformuliert wird, dass die Ziele auch wirklich erreicht werden können,
Mit den Verpflichtungen Österreichs der EU gegenüber und mit der Unterschrift unter dem Pariser Klimaabkommen im Rücken wird diese Regierung in der Klimapolitik gründlich umsteuern. Zumindest dem Programm nach.
Die türkis-grüne Regierung verpflichtet sich, die Klimaneutralität in Österreich bis 2040 zu erreichen. Und es finden sich sehr konkrete Schritte dahin: Es beginnt mit der CO2-Bepreisung ab 2022, den CO2- Zöllen sowie mit der ökologischen Reform der NOVA und einiges mehr. Ab 2022 wird es eine öko-soziale Steuerreform geben, die notwendig ist, damit der beschriebene Entwicklungspfad tatsächlich beschritten werden kann. Das sagen alle Expertinnen und Experten. Und nun steht es auch im Regierungsprogramm.

Zur Not soll es die EU richten

Bei vielen Klimaschutzmaßnahmen, die sehr detailliert beschrieben werden (im Gegensatz zu anderen Kapiteln im Programm), fällt der wiederkehrende Verweis auf die EU auf. Dies soll einerseits die Garantie dafür abgeben, dass alles wirklich umgesetzt wird; zum anderen wird Österreich hier im EU-Kontext eine neue Rolle spielen. Und für die ÖVP ergibt sich daraus ein zusätzliches Argument: Wenn Brüssel diese Maßnahmen eh fordert und sie also sowieso notwendig sind, so entsteht innenpolitisch quasi ein Klima-TINA-Argument: there is no alternative! Wir müssen das einfach tun.

1-2-3 Ticket und 12 Euro Ticketabgabe

Der Detaillreichtum zur Klimapolitik im Programm zeigt, dass hier auch bereits institutionell gedacht wurde. Es finden sich zahlreiche Aussgen, wer künftig wie mit wem kooperieren muss, damit die Ziele erfüllbar werden. Das ist kein Blabla, sondern der Versuch, einen umfassenden Entwicklungspfad festzuschreiben. Das beginnt mit der klimaneutralen Verwaltung und geht weiter über die öffentlichen Fuhrparks bis hin zur einheitlichen Flugticketabgabe von 12 Euro und weiter bis zum medienwirksamen 1-2-3 Österreich-Ticket. Es ist vorgesehen, dass in jedem Winkel des Landes jede Stunde öffentlicher Verkehr (in verschienden Formen) stattfindet. Die Kosten dafür sollen 1 Euro pro Tag für die regionalen Tickets betragen, 2 für die überregionalen Pendlertickets und 3 Euro pro Tag für eine österreichweite Nutzung.

Das Klimakapitel gehört zu den konkretesten Teilen des Textes und es ist aus meiner Sicht das stärkste Kapitel des Programms. Wird das, was dort formuliert ist, umgesetzt, dann hat Österreich einen wirklich Beitrag geleistet, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Punkt.

Koalitionsfreier Raum bei verstärkter Zuwanderung

Bemerkenswert an dem Kapitel zu Migration und Integration sind zwei Dinge. Zum einen ist es ähnlich detailliert fourmuliert wie das Klimakapitel, obwohl der tatsächliche Regelungsbedarf weitaus geringer ist als in der Klimafrage. Hier wird mit viel Formulierungsoriginalität aus einem vergleichsweise kleinen Politikbereich ein politisches Zentralthema gemacht.Man könnte auch sagen, dass dieses Thema unnötig aufgebauscht wird.
Bemerkenswert ist schon, dass sich die Volkspartei, die sich als bürgerliche Wirtschaftspartei versteht, so stark auf einen vergleichsweise unbedeutenden Politikbereich verlegt. Es scheint hier die Einschätzung zu geben, dass das Thema der Migration ein emotionalisierendes „Zukunftsthema“ bleibt. Mag sein. Und ebenfalls wurde Vorsorge getroffen, was in einer Situation verstärkter Zuwanderung passieren soll: Ein koalitionsfreier Raum nämlich. Sollte selbst ein verpflichtendes Gespräch zwischen dem Kanzler und seinem Vizekanzler in einer Notsituation keine Einigung über die adäquaten Maßnahmen bringen, so gibt es die Möglichkeit, die unterschiedlichen Vorstellungen in Form eigener Initiativanträge mit Begutachtung im Nationalrat zur Diskussion zu stellen.

Freiräume und Gemeinsames

Insgesamt ist dies ein normales Regierungsprogramm, das den jeweiligen Regierungspartnern die politischen Freiräume lässt, die sie jeweils in ihren Wahlprogrammen und in der Wahlbewegung als Schwerpunkte gesetzt haben. Die ÖVP ordnet ihre Politikfelder  in der Tradition der türkis-blauen Vorgänger-Regierung (so auch Sebastian Kurz in seiner Präsentationsrede), die innovativen und neuen Politikbereiche haben die Grünen besetzt. Zwar bleiben beide Teile für das Gesamte verantwortlicch. Es wird aber eindeutig zu zuordnen sein. Wer nach Ablauf der Regierung damit punktet, wird sich zeigen. Es läuft da eine im Regierungsprogramm eingebaute Wette.

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