Am Wochenende 16./17. November 2019 veröffentlichte die New York Times Dokumente aus dem Innenleben der KP Chinas. Thema: die Internierungslager in Nordwestchina. Dort haben die chinesischen Behörden in den letzten vier Jahren besonders ethnische Uiguren, aber auch Kasachen und Angehörige anderer Minderheiten in Lager und Gefängnisse gesperrt. Am folgenden Wochenende haben Süddeutsche Zeitung und Tagesschau mit den China Cables nachgezogen. Unklar ist, wie viele Menschen genau festgehalten werden. Und aufklärungsbedürftig ist auch, was in diesen Lagern passiert. Sebastian Reinfeldt hat Ümit Hamit getroffen – einen der wenigen Vertreter der Uiguren im deutschsprachigen Raum. Er berichtet nicht nur über die Situation in den Lagern, sondern auch über die Überwachungstechniken, DNA-Screenings und Organhandel gegen die Minderheit. Für seine Schilderungen gibt es eine Reihe seriöser Belege. (Update 25.11.2019)
Der Nordwesten Chinas ist weit weg
Leise sind die Stimmen, die die Masseninternierungen in China thematisieren. Zu leise. Lange Zeit hatte die chinesische Führung nämlich bestritten, dass dort massiv gegen Menschenrechte verstoßen wird. Es seien Job-Trainingszentren, hieß es als Reaktion auf die Kritik zuerst. Oder: Es seien Umerziehungslager. Zudem argumentierten die chinesischen Behörden, es handle sich um eine nicht so arge Methode zur Bekämpfung des islamischen Extremismus. Und die Provinz Xinjiang im Nordwesten Chinas ist weit, weit weg. Wer kann schon dorthin reisen, und diese Angaben überprüfen?
Eine detailliert geplante diktatorische Maßnahme
Die geleakten Papiere vermitteln ein genaues Bild des chinesischen Vorgehens. Sie zeigen klar, wie der chinesische Staat die größte Repressionswelle seit der Ära Mao geplant und durchgeführt hat. Der Anlass: 2014 hatten militante Uiguren in der Stadt Kunming mehr als 150 Menschen auf einem Bahnhof mit Messern verletzt und dabei 31 Menschen getötet. Als Reaktion darauf forderte Staatspräsident und Parteichef Xi Jinping in seinen Reden einen umfassenden „Kampf gegen Terrorismus, Infiltration und Separatismus“ mit den „Organen der Diktatur“. Gnadenlos müsse man handeln, so Xi Jinping. In den 400 Seiten an Dokumenten, die die New York Times veröffentlicht hat, ist nachlesbar, wie planmäßig dabei vorgegangen wurde.
Umit Hamit berichtet, wie Jahre vor dem 2014-Attentat die chinesische Führung die Ausreise uigurischer Moslems nach Syrien geradezu gefördert hatte. Aber er erzählt auch, wie sie dort für die islamische Sache gekämpft haben.
Ümit Hamit über die Vorgeschichte des Attentats (2:57)
Die Verwandten werden für die Freilassung ihrer Angehörigen verantwortlich gemacht
Die von der New York Times veröffentlichten Dokumente enthalten Mitschriften interner Reden des Parteiführers Xi und anderer Politiker. Es werden auch Richtlinien und Berichte über die Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung in der nord-westlichen Provinz Xinjiang öffentlich. Wenn Studierende ihre Verwandten vermissen und nachfragen, dann gibt es einen Leitfaden für MitarbeiterInnen von Behörden, wie mit ihren Fragen zu verfahren sei. Unter anderem soll ihnen eröffnete werden, dass ihr eigenes Verhalten zur Freilassung der Inhaftierten beitragen könne.
Es scheint so, als ob die Behörden ein Punktesystem verwenden würden, um festzustellen, wer aus den Lagern entlassen werden könne: Das Dokument instruiert die Offiziellen, dass das Verhalten der Studenten den Punktestand ihrer Verwandten verletzen könne und auch ihr tägliches Verhalten zu bewerten und ihre Anwesenheit bei Trainingseinheiten, bei Treffen und bei anderen Aktivitäten festzuhalten. (NYT, ‘Absolutely No Mercy’: Leaked Files Expose How China Organized Mass Detentions of Muslims)
Satellitenbilder beweisen die Existenz der Lager
Insgesamt bestätigt der Inhalt dieser Dokumente frühere Berichte über die Lager in Nordwestchina. Reuters Investigativ hatte 2018 in ihrer Recherche Tracking Muslim Gulags Satellitenbilder ausgewertet. Sie konnten den Bau einzelner Internierungslager nachzeichnen. Diese sind für bis zu 20.000 Menschen ausgelegt. Es wurden auch ganz neue Anlagen errichtet. Etwa das so genannte Turpan Gaochang District Vocational Skills Education Training Center.
Die exakte Anzahl der Lager und auch die der dort Internierten ist nicht sicher. Es gibt aber gut begründete Schätzungen. Amnesty International stellte im Mai 2019 fest:
Auch wenn genaue Zahlen nicht bekannt sind, geht Amnesty International davon aus, dass die chinesischen Behörden seit 2018 bis zu einer Million Uiguren in Internierungs- und Umerziehungslager eingewiesen haben. Ein lokaler Sicherheitschef bestätigte, dass zeitweise „ungefähr 120.000“ Menschen in der Stadt „interniert“ gewesen seien. „Die Massenhaftzentren sind Orte der Gehirnwäsche, Folter und Bestrafung“, sagt der Amnesty-Ostasien-Experte Nicholas Bequelin.
Ümit Hamit über die Zahl der Internierten (0:59)
Bis zu drei Millionen Menschen leben in Lagern
„Bereits 2013 haben wir den Bau von großen Hallen und Gebäuden in der Region registriert“, berichtet Ümit Hamit. In mehr als tausend Lagern halte die chinesische Regierung mittlerweile bis zu drei Millionen Menschen fest. Persönlich glaubt er aber, dass es noch weitaus mehr Personen sind, die interniert wurden:
Ich habe privat Landleute gefragt, welche Familien betroffen sind. Bis zu dreißig Personen pro Familie sind verschwunden. Auch in meiner Familie sind es fünf Personen. Man findet auf den Straßen der Provinz derzeit keine Menschen mehr.
Im Netz kursieren eine Reihe von Videos aus uigurischen Städten. Die Orte wirken wie ausgestorben. Menschenleer. Ich habe zwei Beispiele zusammengetragen.
Die Innenstadt von Gulja in Xinjiang – 480.000 Einwohner
Kashagar 2009 und Kashagar 2018
Inhaftierte berichten von Vergewaltigungen, Demütigungen und elektronischer Überwachung
Einige Menschen wurden aus den Lagern entlassen. Zumeist deshalb, weil sie ausländische Staatsbürger sind. Ihre Freilassung konnte dann auf diplomatischen Wegen erreicht werden. Diese Personen haben berichtet, was ihnen widerfahren ist. Eine Frau etwa sei 200 Mal öffentlich vergewaltigt. worden. Inhaftierte hätten dabei zuschauen müssen. Wer sich die Augen schloß, sich abwandte oder Abscheu zeigte, seit abgeführt und mit der Todesstrafe bedroht worden.
Auch Männer würden vergewaltigt. Hamit hat persönlich eine Frau gesprochen, die ein Lager verlassen konnte. Ihr Mann ist Ägypter. Sie erwähnte Tabletten, die sie täglich schlucken musste, um Wasser zum Trinken zu bekommen. Das Ergebnis: Sie ist jetzt unfruchtbar.
Ümit Hamit über Berichte zu Vergewaltigungen in den Lagern (3:24)
Warum dieses Vorgehen gegen die Uiguren?
Der ethnischen Minderheit wird insgesamt vorgeworfen, zugleich religiöse Extremisten, Separatisten und Terroristen zu sein. Und diese Anschuldigung dient als Rechtfertigung für ein Unternehmen, dass auch mit modernster Technik daran arbeitet, diese Minderheit vollständig von der Landkarte zu tilgen. Aber warum? Wie kann eine Gruppe von – großzügig geschätzt – 20 Millionen Menschen einer Mehrheitsbevölkerung von rund 1,4 Milliarden Menschen gefährlich werden? Wie lässt sich diese Dämonisierung erklären? Ümit Hamit meint:
Wir wollen schon seit 70 Jahren unsere Unabhängigkeit. Das ist der erste Grund. Wir sind bereits eine autonome Region, auch wenn dies in Wirklichkeit eine Scheinautonomie ist. Zweiter Grund. Wir haben bislang 400 Aufstände gegen die chinesische Zentralregierung angezettelt. Aber der wichtigste Grund: Unser Gebiet ist reich an Bodenschätzen.“
Es geht also um Bodenschätze. Ein Dokument des pakistanischen Militärs aus 2015 besagt, dass unter der Erde dieser Provinz besonders Kohle (zwei Billionen Tonnen), Erdgas (zehn Billionen Kubikmeter) und 21 Milliarden Tonnen Erdöl liegen. Auch seltene Mineralien wurden dort gefunden. Insgesamt 138, so das Dokument.
Ümit Hamit über die Gründe der Verfolgung der Uiguren (0:58)
Elektronische Überwachung
Neben dem Einsperren und neben körperlichen Misshandlungen setzt China eine Reihe technischer Maßnahmen ein, um gegen die Uiguren vorzugehen. Über spezielle Kameratechniken zur Erkennung ethnischer Minderheiten berichtet netzpolitik.org. Und auch Hamit meint: „Von allen Uiguren wurden DNA-Proben genommen. Und elektronische Überwachungs- und Stimmerkennungstechnik wird voll eingesetzt. Wir sind total überwacht.“ Unter anderem wird eine Datenbank aufgebaut, in der Blutgruppe, Fotos des Gesichtes, ein Iris-Scan, Fingerabdrücke und DNA gespeichert werden. Beabsichtigt ist, alle Bürgerinnen und Bürgern der Provinz im Alter von 12 bis 65 Jahren zu erfassen. Das berichtet ebenfalls die Plattform netzpolitik.org.
Biologische Umvolkung
Aber es gibt auch Methoden einer biologischen Umvolkung, erzählt Ümit Hamit:
In den Lagern sind zu 90 Prozent uigurische Männer. Jetzt wurden mehr als eine Million chinesischer Männer zu uigurischen Familien geschickt, die mindestens ein Jahr mit uigurischen Frauen leben müssen. Umgekehrt werden uigurische Kinder an chinesische Familien verteilt. Bei über 300.000 Kindern ist dies bereits geschehen“,
Zudem seien besonders Intellektuelle und gebildete Menschen ins Innere Chinas verschleppt worden. Hamit nennt hier die Zahl von einer Million Menschen.
Ümit Hamit über die Methoden der biologischen Umvolkung (1:17)
Organhandel
Hamit nennt noch einen weiteren Aspekt dieser Aktionen gegen die uigurische Minderheit. Bei ihm fällt es schwer, auch nur zuzuhören: Organhandel. Bekannt ist bereits, dass China zwangsweise Organe entnimmt. Früher habe dies hauptsächlich Menschen der Falun Gong betroffen, deren Körper ausgenommen würden. Jetzt seien es die Uiguren. Hamit hat den Verdacht, dass Organe auch ohne Willenserklärung entnommen werden, und auch, dass Menschen durch die Entnahme ermordet werden:
In den arabischen Ländern bevorzugen sie Organe, die halal sind. Und Uiguren leben mehrheitlich als Moslems. Deshalb. Wir haben errechnet, dass über Hunderttausend uigurische Organe entnommen worden sind. Eine Niere kostet 30.000, eine Leber 40.000 und ein Herz sogar 100.000 Dollar. Sie sortieren die Uiguren. Die Jungen auf die eine Seite, die Kranken und Alten auf die andere Seite. Tote Uiguren werden nicht auf moslemische Art begraben. Man kann die Leichen auch nicht öffnen. Alle werden sofort verbrannt. So lässt sich nicht überprüfen, woran sie eigentlich verstorben sind.
Ümit Hamit zum Thema Organhandel (2:25)
Quellen und Belege
Über die Lager
Reuter Investigates: Tracking Muslim Gulags mit Satellitenbildern der Camps und Fotos (vom 29. November 2018)
https://www.reuters.com/investigates/special-report/muslims-camps-china/
Amnesty International (zurückhaltender, aber klarer Bericht)
https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/china-bis-zu-einer-million-menschen-inhaftiert-ihre-familien-fordern-antworten
Rohstoffvorkommen
Waqas Ali Khan, The Uyghur Insurgency in Xinjiang: The Success Potential
https://apps.dtic.mil/dtic/tr/fulltext/u2/1020463.pdf
Überwachungstechniken
netzpolitik.org: Kamerahersteller verkaufte Technik zur Erkennung von Uiguren
https://netzpolitik.org/2019/kamerahersteller-verkaufte-technik-zur-erkennung-von-uiguren/
DNA-Datenbanken
netzpolitik.org: China baut eine Biometrie- und DNA-Datenbank aller Bürger in Xinjiang auf
https://netzpolitik.org/2017/china-baut-eine-biometrie-und-dna-datenbank-aller-buerger-in-xinjiang-auf/
Organhandel
Forced organ harvesting has been committed for years throughout China on a significant scale and that Falun Gong practitioners have been one – and probably the main – source of organ supply. The concerted persecution and medical testing of the Uyghurs is more recent and it may be that evidence of forced organ harvesting of this group may emerge in due course. The Tribunal has had no evidence that the significant infrastructure associated with China’s transplantation industry has been dismantled and absent a satisfactory explanation as to the source of readily available organs concludes that forced organ harvesting continues till today.
aus: Chinatribunal, Final Judgement Report: https://chinatribunal.com/final-judgement-report/
Neu! Podcast zum Interview mit Ümit Hamit. Zum Anhören einfach runterladen bei:
Podbean: https://semcast.podbean.com/e/der-genozid-gegen-die-uiguren/
Castbox (Android App): https://castbox.fm/episode/Der-Genozid-gegen-die-Uiguren%3A-Interview-mit-%C3%9Cmit-Hamit-id2444151-id205057772?country=de