Meine Muttersprache ist Kurdisch. Es gehört zur indogermanischen Sprachengruppe. Man wirft mir vor, dass ich mit einem „tirolerischen Akzent Kurdisch“ rede. Ich spreche nicht nur Tirolerisch, Kurdisch oder Türkisch, sondern auch fließend ironisch, und das sogar mit sarkastischem Akzent! Von Berivan Aslan.
Du hast Kurdisch !
Ich hörte das Wort „Kurdisch“ das erste Mal mit sechs oder sieben Jahren.
Damals ging ich in Tirol noch in die Volksschule. Auf dem Heimweg lernte ich ein gleichaltriges Mädchen kennen, das bei uns in der Nachbarschaft wohnte. Wir verabredeten uns, dass wir nach dem Essen und den Hausaufgaben zusammen spielen. Als ich dann bei ihnen vor der Haustür stand und mehrmals läutete, machte mir niemand auf. Ich wartete noch in der Hoffnung, dass mir jemand aufmacht, weil wir ja verabredet waren. Danach öffnete mir meine „neue“ Schulfreundin und sagte traurig: „Ich darf mit dir nicht spielen, weil du Kurdisch hast“ und machte die Tür wieder zu.
Ich dachte, dass Kurdisch eine ansteckende Krankheit sein könnte
Ich konnte mit dem Wort „Kurdisch“ nichts anfangen. Das Nachbarmädchen wusste höchstwahrscheinlich auch nicht, was es bedeutet. Ich dachte, dass es eine ansteckende Krankheit wäre und heulte den ganzen Weg nach Hause. Daheim zog ich mich nackt aus, damit meine Mutter nachschaut, was ich denn so habe. Meine Eltern waren schockiert, als ich ihnen das erzählte und versuchten – ohne ein großes Drama daraus zu machen -, mich über meine Wurzeln aufzuklären. Das erste Mal wurde mir klar, dass wir eine eigene Muttersprache haben und auch einen eigenen ethnischen Hintergrund. Ich verstand auch, warum mir meine Mutter bei meinen Hausaufgaben nicht helfen konnte. Weil sie Deutsch nicht beherrschte, immerhin wäre es die zweite Fremdsprache.
Warum meine Eltern in ihrer Muttersprache nicht lesen und schreiben können
Mit 15 Jahren redete ich schon fünf Sprachen fließend, aber ich konnte in meiner eigenen Muttersprache weder lesen noch schreiben. Meine Eltern können es bis heute nicht. Kurdisch war in der Türkei jahrzehntelang Restriktionen und Verboten ausgesetzt. Kurdische Publikationen, kurdische Radio-TV-Sendungen, das Singen oder das Unterrichten der Sprache waren verboten. In den 1980er und 1990er Jahren war das Sprechen der Sprache sogar auf der Straße verboten. Das Sprachverbotsgesetz von 1983 war ultranationalistisch und akzeptierte nur Türkisch als Amtssprache.
Dies war der Grund, warum viele Kinder in meiner Generation noch „Türkisch“ lernen mussten, weil die Eltern Angst hatten, dass sie verhaftet oder diskriminiert werden, wenn ihre kleinen Mäuse auf der Straße „Bawo“ (deutsch: „Vater“) rufen.
Warum es bis zu drei Jahre Haft für „Bawo“ gab
Zu Recht: Denn es konnten Haftstrafen von 6 Monaten bis zu 3 Jahren(!) ausgesprochen werden. Es ist unvorstellbar, aber dieses Gesetzt war noch bis 1991 gültig!
Die türkische Verfassung von 1982 war nicht nur ultranationalistisch, sondern auch sehr restriktiv. Laut dem Parteiengesetz Gesetz 6529von 1983 durften Politikerinnen und Politiker bei Veranstaltungen nur Türkisch sprechen. In der Türkei gibt es immer noch sehr viele Regionen, wo Menschen Türkisch nicht verstehen. Erst im Jahr 2014 (auch heftig!) wurde dieses Sprachverbot mit dem Gesetz 6529 aus dem Parteiengesetz gestrichen!
Es wird immer wieder der Anschein erweckt, dass das Sprechen der kurdischen Muttersprache in der Türkei kein Problem sei. Erst im Dezember 2018 wurden ein Vater und sein Sohn in der westtürkischen Provinz Sakarya mit einer Schusswaffe angegriffen, weil sie sich auf Kurdisch unterhalten haben. Der Vater starb.
Warum nur Berivan?
Ich habe offiziell zwei Vornamen: Aygül Berivan. „Aygül“ ist mein türkischer und „Berîvan“ ist mein kurdischer Name. Als ich geboren wurde, war mein Vater in Europa und wünschte sich den Namen „Berivan“ für seine Tochter. Jedoch wurde keine Geburtsurkunde ausgestellt, weil kurdische Namen damals verboten waren. Also gab man mir „provisorisch“ einen türkischen Namen, „Aygül“ eben, damit ich auf dieser Welt registriert werde.
Beim Nationalratswahlkampf 2013 wurde mir immer wieder gesagt, dass ich meinen kurdischen Namen „Berivan“ nicht verwenden sollte, weil mich die „Türken“ dann nicht wählen würden. Ich habe bemerkt, dass manche türkischen Veranstaltungseinladung nur auf „Aygül Aslan“ erfolgten. Nationalistisch angehauchte Türkischstämmige weigerten sich nämlich, meinen kurdischen Namen „Berivan“ anzuführen.
Und warum Tirol-Kurdisch?
Aus Protest gegen diesen Rassismus – den ich bei meiner Muttersprache und bei meinem Namen bis dato nicht in dieser Dimension erlebt habe – lehnte ich diese „gutgemeinte“ Empfehlung ab. Stattdessen verwendete ich nur meinen kurdischen Namen, „Berivan“ also.
Ich dachte mir, dass ich lieber ein paar Stimmen verliere als mein Gesicht und meine Haltung. Wir können ja nichts dafür, in welche ethnische, religiöse oder soziale Gruppe wir hinein geboren werden.
Diese Vielfalt an Sprachen gibt mir das Gefühl, dass ich mehr Identitäten in meiner Brust trage, als es mir vorgegeben wird.
Meine Muttersprache ist eine „Never-Ending-Story“, wo ich nicht einmal weiß, wie es sich anfühlt, wenn in der Öffentlichkeit (im Bus, im Supermarkt etc.) und überall meine Muttersprache gesprochen wird. Weil ich es nicht kenne. Es war die Sprache, die wir nur zu Hause gesprochen haben.
Dank meiner alpinen Sozialisation wird es übrigens einen neuen Kurdischen Dialekt, „Tirol-Kurdisch“, geben. Wer weiß: Vielleicht wird es die neue Muttersprache meiner noch nicht geborenen Kinder.
Zur Person
Berîvan Aslan wude im Oktober 1981 in Kulu, Türkei geboren. Sie ist eine österreichische Politikwissenschaftlerin, Juristin und Politikerin der Grünen. Bis 2017 war sie Nationalratsabgeordneter der Grünen mit den Schwerpunkten Menschen- und Frauenrechte sowie Migrationsfragen. Aslan wurde in ihrer Zeit als Abgeordnete – und danach – immer wieder von türkischen Nationalisten und Erdogan-Anhängern verbal angegriffen. Semiosis hat darüber in der Recherche Liste Erdogan berichtet. Und sie war die einzige österreichische Abgeordnete, die eine Morddrohung vom IS bekommen hat. Übrigens: Die im Text angesprochene Namensänderung wäre, auf Deutsch übersetzt, eine von Mondrose zu Bergblume: Aygül (Mondrose), Berivan (Bergblume).
Fotocredit: Bergblume, Wikipedia. Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“ lizenziert. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Bergblume-0332.JP
Tirolerisches Kurdisch als Muttersprache der künftigen Kinder.. das ist schön!