Alternative Fakten – Wie Vice die Wahrnehmung seiner Politiker-Interviews verzerrt

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By wordpressadmin

Was bedeutet eigentlich Framing“? Der Begriff beschreibt, so der Wikipedia-Eintrag, den Prozess einer Einbettung von (politischen) Ereignissen und Themen in subjektive Deutungsrahmen durch massenmediale Akteure und politische Pressearbeit, umgangssprachlich „Schubladendenken“ oder „in ein (Denk)Raster setzen“. Wir zeigen an einem konkreten Beispiel, wie Framing“ im Wahlkampf funktioniert. Am Beispiel eines Mediums, das als linksliberal und kritisch gilt: Vice.

In den letzten Tagen ist man in den Social Mediakanälen fast sicher über ihre Reihe „10 Fagen an Spitzenpolitker“ (aus Deutschland) gestolpert. Nicht nur die deutsche auch die österreichische Ausgabe des Online-Magazins bringt die Videos. Vice hat Alice Weidl (AfD), Katja Kipping (Die Linke), Cem Özdemir (Die Grünen), Jens Spahn (CDU) und Alexander Graf Lambsdorff (FDP), 10 Fragen gestellt und daraus kurze Videos geschnitten – eine PolitikerIn von der SPD dürfte in den nächsten Tagen kommen. Wir zeigen im folgenden auf, wie die Vice-RedakteurInnen dabei unsere Wahrnehmung verzerren.


So simpel das Format ist, so manipulativ haben die Redakteure von Vice die Videos gestaltet. Und das so geschickt, dass man schon genau schauen muss, um das zu erkennen. Das Setting: Es werden 10 Fragen eingeblendet, auf die die Politiker jeweils in kurzen Statements antworten.

Antworten werden kommentiert – oder eben nicht

Unter den Videos mit Katja Kipping und Jens Spahn findet sich dabei folgender Hinweis von Vice:

Wenn wir den Eindruck hatten, die Antworten der Politiker verzerren die Wahrheit oder stehen im Widerspruch zur offiziellen Position ihrer Partei, haben wir Anmerkungen eingebaut.

Unter den Videos mit Cem Özdemir und Alice Weidl steht der Hinweis nicht. Bei Özdemir wird auch keine Anmerkung eingebaut. Bei Alice Weidl dagegen sehr viele.

Die Anmerkungen sind suggestiv

Dass diese Anmerkungen höchst suggestiv sind, erkennt man besonders beim Interview mit  Katja Kipping. Gleich die erste Frage an Kipping lautet: „Ihrer Partei überaltert, viele Menschen sterben. Was macht das mit Ihnen?“ Warum Vice zur Einschätzung kommt die Linke überaltere, bleibt im dunklen. Kipping antwortet, dass sie erfolgreich war, die Partei sowohl jünger als auch weiblicher zu machen.

Vice hatte nun den Eindruck, Kippings Antworten „verzerren die Wahrheit“. Also werden nachträglich folgende drei „Anmerkungen“ eingeblendet – Kipping kann darauf naturgemäß nicht mehr eingehen.

  • In den letzten fünf Jahren hat die Linke 7% ihrer Mitglieder verloren
  • Nur 16% sind unter 35
  • 37 % sind Frauen

Diese „Anmerkungen“ sind per se nicht falsch, verzerren aber die Wirklichkeit, wenn man sie in keinen Kontext gesetzt werden. Das Bild, das offensichtlich entstehen soll: Die Linke sei überaltert, aussterbend, männlich dominiert. Kippings Antwort wird so in ein anderes Licht gerückt. Bei Vice fehlt leider eine Quellenangabe. Wir haben zur Struktur der Parteimitglieder eine Studie des Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin gefunden. Die Daten sind relativ aktuell. Untersucht wird der Zeitraum bis 2015. Diese Daten lassen die „Anmerkungen“ zur Mitgliederstruktur der Linken in einem ganz anderen Licht erscheinen.

Vertraue keiner Statistik, die du nicht selbst…

Die Statistik lässt sich leicht ganz anders lesen als dies Vice getan hat. Betrachtet man statt der letzten 5 die letzten 10 Jahre, so hatte die Linke ganze 2281 Mitglieder weniger als 2005. Das entspricht einem Rückgang der Mitgliederzahl von 3,7% in 10 Jahren. Der Rückgang in den letzten 5 Jahren erklärt sich dadurch, dass Die Linke zwischen 2006 und 2009 Mitglieder dazu gewonnen hat, die danach offensichtlich die Partei wieder verlassen haben.

Die Zahlen werden in keinen Kontext gesetzt

Ein völlig anderes Bild entsteht, wenn man Die Linke mit der der anderen Parteien vergleicht. Denn auch alle anderen traditionellen Parteien verlieren Mitglieder. Und zwar deutlich mehr als Die Linke. Im selben Zeitraum von 2005 bis 2015 hat die CDU 22,3% ihrer Mitglieder verloren. Bei der SPD waren es sogar 25%, bei der FDP 15,1%. Nur die Grünen haben Mitglieder dazu gewonnen – und zwar stolze 31,7%.

Wie viel ist ein Frauenanteil von 37% ?

37,2% der Mitglieder der Linken sind Frauen. Das stimmt. Dieser Wert hat sich in den letzten 10 Jahren kaum verändert. Aber auch die Bewertung dieser Zahl verändert sich, wenn man sie vergleicht. Bei den Grünen gibt es mit 38,6% kaum mehr Frauen. (Im Jahr 2010 hatte die Linke mit 37,3% überhaupt den höchsten Frauenanteil aller Parteien). Bei der SPD liegt die Frauenquote schon bei deutlich niedrigeren 32%, bei der CDU bei 25,9%. Bei FDP und AfD sind noch weniger Frauen. Die Linke ist also durchaus eine Partei bei der Frauen „mehr mitzureden“ haben als im Durchschnitt.

„Nur“ 16% oder „hervorragende“ 6,3%

„Nur 16% der Parteimitglieder sind unter 35“ lautet die dritte Anmerkung. Auch diese ist nicht per se falsch. Sie suggeriert allerdings durch das Wort „nur“ die Linke sei – wie schon in der Fragestellung vermittelt – überaltert und habe ein Nachwuchsproblem. „Nur 16%“ klingt bedrohlich niedrig

Nicht Katja Kiping verzerrt die Wahrheit – Vice macht das

Der Wert von 16,8% ist nicht falsch. Allerdings: Auch bei der FDP sind „nur“ 16,2% unter 35. Bei der SPD sind es 11,6% und bei der CDU 9,8% – nur die Grünen haben mit 21,2% mehr unter 35.

Wenn man will, ließe sich die Aussage mit Hilfe der Statistik sogar völlig umdrehen. Nämlich wenn man statt der Altersgruppe 16-35, die noch jüngere Altersgruppe 16-25 betrachtet. In dieser Gruppe liegt die Linke mit 6,3% sogar an der Spitze – noch vor den Grünen, die nur auf 5,7% kommen. Vice merkt an „Nur 16% der Parteimitglieder sind unter 35“ Wir merken an „Keine andere Partei hat mehr junge Parteimitglieder unter 25 als die Linke“. Beide Aussagen sind richtig, lassen aber ein völlig anderes Bild über die Altersstruktur der Partei entstehen.

Die „Systemmedien“ über die AfD

Ähnlich wie Katja Kipping ergeht es Alice Weidl von der AfD. Fast jede ihrer Antworten wird im Video mit „Anmerkungen“ versehen.

Als Weidl gesteht, in Ihrer Schulzeit Marihuana geraucht zu haben, merkt Vice nachträglich an, dass die AfD die Freigabe von Cannabis ablehnt. Offen bleibt warum der eigene frühere Drogenkonsum im Widerspruch zur politischen Forderung „gegen Legalisierung“ stehen sollte.

Ähnlich die Anmerkung nach dem Weidl Stellung nimmt zu homophoben Äußerungen von AfD-PolitikerInnen. Unter dem Titel: „So spricht die AfD über Homosexuelle“, werden einzelne Zitate eingeblendet. Der Wechsel der Einblendungen beschleunigt sich stätig, sodass man die einzelnen Texte nicht mehr lesen kann, aber suggeriert wird, es gäbe eine endlose Zahl homophober Äußerungen.

Was ist „nur“ geschmacklos – und was ist homophob?

Schon beim ersten Zitat stellt sich jedoch die Frage, ob es überhaupt homophob ist, oder eben „nur“ ein konservatives heteronormatives Verständnis von „Familie“ artikuliert. Die nächsten 4 Zitate sind klar homophob. Beim 6 Zitat wiederum ist zweifelhaft ob es homophob ist oder lediglich ein konservatives Verständnis der Begriffe „Ehe“ und „Familien“ festhält, wie es etwa auch die CDU (zumindest teilweise) vertritt.
Das 8. Zitat eines AfD-Funktionärs schließlich lautet: „Die Männer sollen sich ruhig weiter gegenseitig in den Arsch ficken. Lesbenpornos sehe ich mir ganz gerne an“. Diese Aussage ist vielleicht geschmacklos – aber ist sie wirklich homophob?

Auch die Meinung zu vertreten, dass es für das Kindswohl besser sei die Adoptiveltern sein hetero- und nicht homosexuell, ist sicher konservativ, aber wohl noch nicht homophob. Hier muss man aber längst gezielt das Video stoppen, um die Einblendungen lesen zu können. Vermittelt soll werden, es gäbe eine schier unendlich Zahl homophober Aussagen von AfD-PolitikerInnen.

Bei FDP und CDU wird jeweils einmal die Aussage mittels Anmerkung zu Recht gerückt

Nur die Grünen kommen ohne Anmerkung davon

Als grüner Spitzenpolitiker beantwortet Cem Özdemir 10 Fragen. Gefragt wird, warum der wiederholt mit rassistischen Äußerungen aufgefallene Tübinger Bürgermeisters Boris Palmer immer noch in der Partei sein darf. Özdemir kritisiert Palmers Aussagen zwar. Zugleich relativiert er aber einedeutig rassistische Aussagen als „unterschiedliche Position“ innerhalb der Partei.

Gute Krisen-PR ohne Anmerkung

Die zweite kritische Frage betrifft die „Pädophilie-Debatte“ bei den Grünen. Vice spricht in der Frage nur von einer „Unterstellung“ von „Rechten“. Schon das Wort Unterstellung wertet. Laut Duden ist eine Unterstellung nämlich eine falsche Behauptung“. Schon die Fragestellung bewertet also die Einschätzung der Recht als falsch. Letztendlich wir auch gar nicht gefragt, ob die Vorwürfe stimmen, sondern wie es Özdemir mit den Unterstellungen – also falschen Vorwürfen – geht.

Özdemir beantwortet die Frage dennoch klar, beschwichtigt nicht, sondern verurteilt eindeutig, was geschehen ist und verweist auf die transparente“ und „schonungslose“ Aufarbeitung des dunklen Kapitels in der Geschichte der Grünen. Das gibt eine Römisch Eins in Sachen Krisen-PR.

Harte Aufarbeitung oder Furcht vor der Debatte

Wörtlich spricht Özdemir von „maximaler Transparenz“ und „harter Aufarbeitung bis an die Schmerzgrenze!“, so wie es die Grünen nach Özdemirs Einschätzung gemacht haben. Damit hat er die Frage bestmöglich beantwortet und es gibt auch keine „Anmerkung“ von Vice, die seine geschickte Antwort in ein anderes Licht rücken würde.

Tatsächlich haben die Grünen den Politikwissenschaftler Franz Walter 2013 mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Pädophilie-Debatte bei den Grünen beauftragt. Im Herbst 2013 konstatiert Walter im Deutschlandradio allerdings das Gegenteil von transparenter und harter Aufarbeitung:

Auch der Politologe Walter übt generell Kritik an den führenden Grünen-Politikern. Sie würden aus wahltaktischen Gründen bei der Aufklärung der Pädophilievorwürfe eine Sprachlosigkeit an den Tag legen. Walter und sein mitbeauftragter Forscher beklagen ein „Gemisch aus Ratlosigkeit, Lähmung, ja: Furcht vor der Debatte.

Diese Anmerkung fehlt jedoch bei Özdemirs Video. Beim Grünen bleiben alle Antworten unkommentiert.

Framing: Innere Reihenfolge und Bewertung zählen

Befindlichkeiten und Motivationlagen: Diese werden durch Framing beeinflusst. Denn durch die Anmerkungen wird eine negative Reihe“ problematischer Interviews gebildet – und eine Reihe unproblematischer. Das sind solche, die halt ohne einen Faktencheck auskommen, weil bei ihnen alles stimmen würde. All das entsteht im Kopf der Zusehenden. Dort bildet sich ein Raster der dann auch in anderen Fällen angewendet wird, wenn sie weitere Botschaften der Parteien empfangen. Jedes Medium, auch das unsere, rückt Informationen in einen Rahmen, Das gehört zur Kommunikation. Aber so einseitig und so locker mit den Fakten umgehend wie es Vice macht, sollte das nicht geschehen. Kritischer Journalismus will aufklären, und nicht manipulieren.

Kommt Journalismus so daher wie in diesem Beispiel, macht er sich angreifbar für den Vorwurf Lügenpresse“

 

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