In einer Art Wettrennen laufen die Parteien in Österreich um den ersten Platz in der Konkurrenz, wer aus der „Mitte der Gesellschaft“ kommt. Mit dabei: Die Liste Peter Pilz mit ihrer Ansammlung aus politiknahen Expertinnen und Experten. Dann die 100 Experten der Kurz-ÖVP, wo auch ganz unpolitische Quereinsteiger dabei sein wollen. Dem gegenüber stehen die Politikprofis von SPÖ, FPÖ und Grüne. Anders probieren es die ausgeloste Liste von Düringers GiLT und die KPÖ Plus-Liste, bei der nur Flora Petrik und Ernst Kaltenegger halbwegs bekannt sind. Ansonsten werden dort so ziemlich alle Berufs- und Altersgruppen vertreten sein. Aber keine erfahrenen Parlaments-PolitikerInnen. Welche dieser Varianten ist für eine Demokratie eigentlich gut?, fragt Sebastian Reinfeldt.
Gewünschte Botschaft: „Aus der Mitte der Gesellschaft“
Montag, 28. August 2017. Die Nachrichtenagentur APA tickert die Namen der Wahllisten zur Nationalratswahl durch. Zuvor hatten beinahe jeden Tag der ÖVP-Chef Sebastian Kurz und Pilz-Listenführer Peter Pilz Personen vorgestellt. „Wir kommen aus der Bevölkerung„, war dabei die Botschaft. Mit ihr wurde durchaus eine mediale Aufmerksamkeit erheischt. Wen zaubern sie denn heute wieder aus dem Hut? Da die Parteiendemokratie verkrustet sei und abgewirtschaftet habe, wird das Bedürfnis nach Neuem dadurch gestillt, indem wild Namen aneinander gereiht werden. Doch: Was werden diese Personen im Parlament eigentlich tun?
Steckenpferde reiten? Parteivorgaben ausführen? Und wer macht eigentlich die Politik?
Die einen wollen im Parlament ihre Steckenpferde reiten, so wie die künftigen Abgeordneten der Liste Pilz. Für den Tierschutz der Bohrn-Mena, für den Konsumentenschutz der Kolba und Aufdecken wird Pilz persönlich. Oder aber sie werden per umstrittene Blanko-Verzichtserklärung von der Parteizentrale umgereiht und geführt, wie dies ÖVP und SPÖ tun. Ist das eigentlich mehr – oder weniger – demokratisch als die Listenplätze wie beim Düringer zu verlosen? Der hat sich dann einen ausgewiesenen Antisemiten als Listenersten gelost. Ein Mann aus „der Mitte der Gesellschaft„? Offensichtlich gibt es in der Demokratie derzeit ein Problem mit der Repräsentation.
Das Problem mit der Repräsentation
Früher war das klarer. Ein SPÖ-Abgeordneter aus Ottakring konnte mit Fug und Recht behaupten, dass er „seine Leute“ im Parlament vertritt. In einem doppelten Sinne sprach er dort für deren Interessen, die er im Umkehrverfahren mitformuliert hat. Denn was gut für die Leute ist, liegt eben nicht immer auf der Hand. Jemand musste ihnen das erklären. Gleiches galt natürlich auch für den ober-österreichischen ÖVP-Abgeordneten aus dem Hausruck oder den FPÖ-Rechtsanwalt aus Klagenfurt. Irgendwie haben sie im fernen Wien „für ihre Leut“ agiert. Nur: Dieser Mechanismus der Repräsentation von formulierten „Klasseninteressen“ im Parlament funktioniert so nicht mehr. Warum eigentlich?
Die heutige Gesellschaft ist weniger politisch organisiert
Die Klassen waren damals bereits heterogen und widersprüchlich. Das ist wirklich nicht neu. Doch sie waren mehr politisch organisiert und formiert. Die Mitglieder waren stolz auf ihre Partei, sie hat auch das private und berufliche Leben mit organisiert. Eine Partei war eine Art Lebensbegleiterin, die nicht nur die Weltsicht geordnet hat, sondern auch den Alltag bis ins hohe Alter hinein. Dies empfinden die Leute heutzutage als Zumutung, oft sogar als Erpressung. Der Anspruch von Demokratie lautet ja nicht, durch Parteien regiert zu werden, sondern dass „wir“ uns „selbst“ regieren. Parteien sind den Klassen fremd geworden: Das ist eine soziale Tatsache. Von daher wird der Ausspruch „Für euch erreicht“ oft als bevormundende Propaganda wahrgenommen.
Das Problem mit der Politik
Das nächste Problem ist, so komisch es scheinen mag, ein Problem mit der Politik. Wer trifft eigentlich wo und wie die Entscheidungen, die das Leben von uns allen betreffen? Bei jeder Wahl tuen alle Wahlwerbenden ja so, als ob sie es seien, die letztlich entscheiden. Das stimmt aber nicht wirklich. Denn in den folgenden Jahren erleben wir, dass die wirklichen Entscheidungen nur bedingt im Parlament fallen. So gibt es dort gar keine offenen Entscheidungssituation, wo die besten Argumente gewinnen würden. Bei Abendessen mit LobbyistInnen, in Hinterzimmerzirkeln und in informellen Netzwerken wird bestimmten Gründen mehr Gewicht verliehen. Und damit bleiben große Teile der Gesellschaft aus der demokratischen Entscheidungsfindung ausgesperrt. Das verändern auch die Neuen Medien nicht. Die Mehrheit der Nichtdazugehörenden wäre auf PolitikerInnen angewiesen, die einen wirklichen Interessensausgleich herstellen wollen würden. Der Konjunktiv zeigt an, dass es solche nicht wirklich gibt.
Fütter meine politische Sehnsucht!
Aber das demokratische Versprechen und die Sehnsucht danach existiert fort. Die Sehnsucht soll gestillt werden, so wie das Ego in dem Song der Einstürzenden Neubauten: „Fütter meine demokratische Sehnsucht!“, rufen die Wählenden. Und die Parteien werfen mit neuen Namen und alten Versprechen um sich. Sie hoffen, dass das nicht auffällt. Nun ja.
Was ist also gut für eine Demokratie? Letztlich sind die Personen völlig egal, denn sie sind nur die gezeichneten Bilder auf dem Spielgeld, das in der Wahlauseinandersetzung unter die Leute geworfen wird. Entscheidend für die Demokratie sind alle politischen Initiativen, die es „uns“ ermöglichen, über unser Schicksal selbst zu entscheiden. Doch der Wettbewerb darum hat noch nicht begonnen. Möglicherweise bleibt er ganz aus. Dann wäre Politik weiter ein – mehr oder weniger – buntes Spektakel. Und wir die passiv Zuschauenden.
Fotocredit: Einstürzende Neubauten, Videostill aus „Fütter mein Ego“