ÖVP-Wahlkampfstrategie: Die österreichische Provinz gegen Wien

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By Sebastian Reinfeldt

Zielgruppen definieren und „bedienen“. Das gehört zum Handwerkszeug im Wahlkampf. Nun hat die Sebastian Kurz-ÖVP offenbar eine interessante Zielgruppendefinition gemacht: Sie mobilisiert die Provinz gegen das Zentrum, das Land gegen die Hauptstadt. Besonders, wenn es um den Umgang mit Flüchtlingen geht, wird hier eine geografisch-politische Front eröffnet. Jüngstes Beispiel: Das Kurier-Interview des ÖVP-Vorsitzenden Kurz. Sebastian Reinfeldt hat sich mit der Strategie seiner Aussagen auseinandergesetzt. Sie bilden eine Deckerzählung zu einem klassisch neoliberalen Sparprogramm.


2013: ÖVP-Wahlkampf gegen die „sozialen Hängematten“ Wien

Juni 2013, Nationalratswahlkampf in Österreich. Der damalige ÖVP-Generalsekretär Hannes Rauch schieße sich auf die rot-grüne Bundeshauptstadt ein: In Wien würden es sich besonders viele in der „sozialen Hängematte“ gemütlich machen, berichtet der Standard. Ein Wahlkampfthema, mit dem auf mehrere Sündenböcke zugleich gezielt werden kann, und das eine soziogeografische Frontstellung eröffnet: „Die dort oben“ werden in Wien verortet, dort, wo die SPÖ regiert, dort, wo in der unüberschaubaren Großstadt alles nicht so genau genommen werde. Die ÖVP mobilisierte auf diese Weise die österreichische Provinz gegen die Urbanität mithilfe einer Gleichsetzung:  die Wohlhabenden gegen die Armen; die Fleißigen gegen die Faulen; die Bürgerlichen gegen die Linken.

2017: Sebastian Kurz mobilisiert gegen Wien und gegen Flüchtlinge

August 2017, wiederum Nationalratswahlkampf in Österreich. Der ÖVP-Vorsitzende und Spitzenkandidat Sebastian Kurz sagt am 19. August in einem Kurier-Interview:

Selbst Einzelpersonen wie ein Flüchtling in der Mindestsicherung bekommen mit allen zusätzlichen Vergünstigungen der Stadt Wien mehr, als viele Frauen als Pension bekommen.

Er fügt also den Gleichsetzungen von 2013 eine weitere hinzu: österreichische Frauen gegen Flüchtlinge. Dadurch erhalten die Gleichsetzungen in Summe eine hohe politische Wirkung. Er setzt hier bewusst „österreichisch“ und „Frauen“ ein. Flüchtlinge können nun wirklich nicht für die Frauen diskriminierende Politik der vergangenen Jahrzehnte verantwortlich gemacht werden. Das ist ein klassisches Sündenbockargument also. Aus den Wahlergebnissen der Bundespräsidentenwahl 2016 wissen wir, dass die Ablehnung von Flüchtlingen in der Provinz besonders hoch ist. Und das besonders in Gegenden, in denen gar keine Flüchtlinge leben.

Mai 2016: Norbert Hofer färbte die österreichische Provinz blau

Es ist schon fast vergessen worden. Im Jahr 2016 hat ein doppeltes Erdbeben das politische Österreich erschüttert: Bei der Bundespräsidentenwahl kam kein Kandidat der beiden Regierungsparteien in die Stichwahl, sondern mit Alexander van der Bellen ein Politiker der Grünen – und mit Norbert Hofer einer der FPÖ.

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Aufgehobene Bundespräsidentenstichwahl Mai 2016 nach Gemeinden Österreich

Die Unzufriedenheit mit der Regierungskonstellation aus SPÖ und ÖVP war (und ist) spürbar und demoskopisch messbar groß. Damals zeigte sich ein einschneidendes Stadt – Land Gefälle. In dieser Wahl hatte die FPÖ der ÖVP ihre WählerInnenbasis auf dem Land abspenstig gemacht. Dort befinden sich aber das Wählersegment, das der ÖVP immer solide Wahlergebnisse gebracht hat. Der inszenierte Bruch von Sebastian Kurz, der mit seiner Partei ÖVP kein wirklicher Bruch war, soll genau dieses verlorene Terrain zurück erobern.

Wahlkampfstrategie: Ein bürgerlicher Führer mobilisiert die Provinz

Bislang verläuft die Vorwahlkampagne von Sebastian Kurz weitgehend ohne Pannen. Im Unterschied zur SPÖ-Kampagne. Es dringt auch wenig nach Außen, was die Strategie ist und wer die Zielgruppen sind. Doch ist bei seinen öffentlichen Auftritten und Aussagen durchaus eine Linie erkennbar. Sie folgt dem Muster einer politischen Heldenerzählung. So wie dies alle rechtspopulistischen Kampagnen tun.

Der Held (=Kurz) verlässt seinen angestammten Ort (doppelt inszenierter Bruch mit Koalition und Partei), und kämpft als Einzelner gegen ein Heer von Widersachern. Dazu zählt „der“ Islam, die SPÖ und die Grünen, die kritische Zivilgesellschaft (Stichwort: „NGO-Wahnsinn„), gegen deren Widerstände er die Balkanroute geschlossen habe und die Mittelmeerroute zu schließen gedenke. Jedes politische Thema wird auf diese Erzählung hin abgebildet. Wichtig dabei ist, dass im feindlichen Gegenüber die Attribute Fremdheit, Verschwendung, Unordnung und Bedrohung miteinander verkettet werden. Für all das zusammen ist für Kurz „Wien“ die allgemeine Metapher .

Topos: Das Steuergeld der Stadt Wien für den Islam

(Frage) Zur Bildung: Josef Moser hat die Bildungsreform heftig kritisiert, wird es nach der Wahl wieder eine neue geben?

Wir brauchen Veränderungen, die sich in den Klassen auswirken. Wer bei Schuleintritt nicht die deutsche Sprache beherrscht, muss zuerst Deutsch lernen. Vor Beginn des Eintritts ins Regelschulsystem. Islamische Kindergärten, in denen Kinder sprachlich, ethnisch und religiös abgeschottet aufwachsen, müssen geschlossen anstatt mit Steuergeld der Stadt Wien finanziert zu werden.

In der Bildungsreform wurden ganz andere Dinge behandelt als hier besprochen. Josef Moser hatte nämlich besonders unklare Zuständigkeiten kritisiert. In der Version von Kurz wird es auf „Deutsch nicht beherrschen“ und „islamische Kindergärten“ reduziert. Beides verkoppelt er sofort mit der Stadt Wien, obwohl es allgemeine Herausforderungen sind. In einer klassischen politikwissenschaftlichen Terminologie würde eine solche Interview-Antwort als „demagogisch“ bezeichnet werden – und Sebastian Kurz wäre somit ein bürgerlicher Demagoge.

Wahlkampfthema „Flüchtlingskosten“ als politische Deckerzählung für ein klassisch neoliberales Sparprogramm

Wir [müssen] sparen bei Förderungen, bei der Zuwanderung ins Sozialsystem und bei den Kosten für Flüchtlinge. Allein die Flüchtlinge, die 2015/2016 gekommen sind, kosten uns 2,5 Milliarden jährlich.

Bemerkenswert an diesem Zitat ist, dass Außenminister Sebastian Kurz hier Anleihen bei der anti-europäischen Brexit-Kampage von UKIP und den Tories nimmt. Denn er dehnt hier das Thema Zuwanderung immer wieder über das Thema „Kosten für die Schutzsuchenden“ hin aus: Gemeint ist mit „Zuwanderung ins Sozialsystem“ die Binnen-Migration in der Europäischen Union. Diese würden – paraphrasiert – die Niederlassungsfreiheit innerhalb der Union missbrauchen, um in den Genuss der angeblich hohen Sozialleistungen in Österreich zu kommen. Auch hier immer wieder im Fokus: Die Stadt Wien, die eine vergleichsweise hohe Mindestsicherung zahlt. Denn die ÖVP-Länder Niederösterreich und Oberösterreich waren aus einer gemeinsamen Mindestsicherungsregelung ausgestiegen.

Die Wirkung der politischen Deckerzählung

Bei Sigmund Freud überlagert eine Deckerinnerung an etwas relativ Unwichtiges die Erinnerung an wichtige Ereignisse in der Kindheit. Eine politische Deckerzählung funktioniert vergleichbar. Hier richtet sie sich gegen Flüchtlinge und EU-Ausländer. Sie dienen als Argument dafür, dass zu viel für angeblich Unproduktive ausgegeben werde. Die politischen Initiativen, die Sebastian Kurz in Erwägung zieht – Anhebung des Pensionsalters, Sozialgeld nach deutschem Modell Hartz IV, unternehmerfreundliches Steuersystem – richten sich dann gegen In- und Ausländer gleichermaßen. Sie werden harte Einschnitte in den relativen Wohlstand in Österreich nach sich ziehen. Schuld daran, so die Erzählung von Kurz: die Flüchtlinge in Wien.

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