In der deutschsprachigen Wikipedia-Community wird derzeit darüber diskutiert, ob ein AfD-Funktionär in ihrem Schiedsgericht mit den Grundsätzen der Internet-Enzyklopädie vereinbar ist. Der Anlass: Eine Reihe von Rücktritten (Stand 14.12.2016: Fünf) von Mitgliedern aus eben jenem Schiedsgericht, die damit ihre Zusammenarbeit aufkündigen. Am 13. Dezember 2016 begründete eine Richterin ihren Rücktritt als erste ausdrücklich mit dieser Situation, da sie diese mit ihrem Gewissen nicht mehr vereinbaren kann:
Die betreffende Person, Benutzername MAGISTER, schreibt auf Wikipedia gerne über den Deutschen Orden und über deutsche Militärgeschichte. Er wurde ins Schiedsgericht gewählt, ohne dass die Wählenden von seiner politischen Arbeit Kenntnis hatten. Denn er deckte seine Mitgliedschaft erst später und auch nur intern auf. Nun stellt sich die Frage, ob Wikipedia bereits seit längerem das Ziel einer neu-rechten Umwertungs-Strategie geworden ist?
Nationale Geschichtsschreibung auf Wikipedia
Man hätte es eigentlich erahnen können. Themenwahl und Formulierungen des betreffenden Wikipedia-Autors und (noch) Schiedsrichters sprechen Bände. Dass nun seine Funktion in der AfD klar ist, mag nicht mehr verwundern. So erwähnt MAGISTER in einem Wikipedia-Artikel über die Litauerkriege des Deutschen Ordens Geschichtsbücher, die „die nationale Gesinnung widerspiegeln“ und welche die Litauerkriege des Deutschen Ordens schon im 19. und frühen 20. Jahrhundert verschwiegen hätten. Auch finden sich Bemerkungen über „raumgreifende Operationen“ des Deutschen Ordens gegen die Streitmacht der litauischen Großfürsten in einem anderen Text. Natürlich kann man sich ganz wertfrei für „nationale Geschichtsschreibung“ und auch für den Deutschen Orden interessieren. Die betreffenden Wikipedia-Artikel sind aber wie von einem Feldherrenhügel aus, in einer militärhistorischen Perspektive verfasst. Ideologisch heben sie die Bedeutung des Deutschen Ordens für die Herausbildung des Deutschtums hervor. Auch wird die expansive Verbreiterungspolitik der deutschen Ordensritter mit keinem Wort historisch-kritisch eingeordnet.
NS-Ikonografie
Doch damit nicht genug. In seiner Funktion als Schiedsrichter hielt MAGISTER – so lange wie irgend möglich – seine schützende Hand über einen rechtsradikalen Internet-Aktivisten. Dieser hatte Wikipedia mit einer Unmenge von Militaria-Artikeln geflutet, in denen unkritisch NS-Literatur verwendet wurde. Zudem waren sie oft schlampig recherchiert.
Der betreffende – und mittlerweile auf unbegrenzte Zeit gesperrte (!) – Aktivist hat auf Wikipedia 1083 Artikel (!) zu Militaria und zu „nationaler Geschichtsschreibung“ hinterlassen. In ihnen verbreitet er sich ausführlich über den M35 Stahlhelm der deutschen Wehrmacht, über das Monitoren-Kriegsabzeichen in Rumänien im 2. Weltkrieg oder das Zivilabzeichen der NS-Heimatflakartillerie und weitere, ähnlich gelagerte Themen. Sämtliche Artikel sind bei der deutschsprachigen Wikipedia bekannt als inhaltlich mangelhaft, viele verwenden unkritisch NS-Literatur und vermitteln oberflächliche Heldenverehrung. Zudem enthalten die Texte dieses Nutzers auffällig oft Bildmaterialien, auf denen das Hakenkreuz zu sehen ist. Man fragt sich, ob die extensive Verwendung von NS-Ikonographie wirklich einen Informationswert besitzt? Und wenn ja, welchen? Wird dadurch Wikipedia nicht auf einer Bildebene nazifiziert und zum Nachschlagewerk für NS-Ikonografie umfunktioniert? Wird auf diese Weise die entsprechende Bildersprache nicht einfach nur populär gemacht und aus ihrem mörderischen und menschenverachtenden Kontext herausgelöst? Sind Hakenkreuze wirklich neutrale historische Dokumente?
Der Kampf ums Sagbare
Es findet also eine Auseinandersetzung um Bilder, um Sprache und um zitierbare Quellen statt. Denn der umstrittene Schiedsrichter MAGISTER hatte diesen rechtsradikalen Aktivisten nicht nur verteidigt. Ausdrücklich kritisierte er dabei die hohen Wikipedia-Standards bei der Angabe von Belegen für Tatsachen. Bei Verwendung von NS-Literatur sollten diese Belege mit einer kritischen Würdigung versehen werden, gleiches gilt übrigens für DDR-Quellen – so die Wikipedia-Politik. Das soll den Lesenden ermöglichen, Zitate oder Belege richtig einzuordnen. Neben der wissenschaftlichen Güte geht es auch darum, dass somit keine rechte Propaganda durch die Wikipedia-Hintertüre ermöglicht wird. Der Afd-Schiedsrichter hat dieser Politik in seiner Funktion als Schiedsrichter – also aus einer Entscheidungsposition heraus – ausdrücklich widersprochen. Er schrieb, in Verteidigung des besagten rechtsradikalen Internetaktivisten:
Rechte Grenzverschiebungen
Hier werden dann einige grundlegende geschichtspolitische Verschiebungen vorgenommen. Die Verbrechen der Wehrmacht und der Nazis werden zu „sensiblen Bereichen“ umdefiniert. Man müsse hier also aufpassen, was man sagt. Das „Wesen“ von Wikipedia als „freie Enzyklopädie“ sollte es demnach erlauben, auch nicht-wissenschaftliche Quellen anzuführen, so schlägt er hier implizit vor. Damit soll der Zugang für die rechte graue Literatur eröffnet werden, die der Aktivist bereits tausendfach eingeschleppt hatte; Literatur, die außerhalb von Wikipedia – so die Unterstellung beim Betonen „freies“ Nachschlagewerk – blockiert und zu Unrecht kritisch bewertet wird.
Schließlich gebe es zu wenig wissenschaftliche Literatur zu den angesprochenen Themen. In diesen Worten ist der politisch motivierte Versuch erkennbar, Grenzen des Zitier- und damit Sagbaren nach rechts hin zu verschieben. Es findet ein Wechselspiel von offen nazistischem Internet-Aktivismus und neurechter Intellektualität statt. So etwas passiert natürlich nicht nur auf Wikipedia. Doch hat es hier sehr nachhaltige Konsequenzen, denn als freie Enzyklopädie ist dieses Wiki so etwas wie das kollektive Gedächtnis, das weiter geschrieben und täglich von allen genutzt wird. Was hier steht, das zirkuliert.