Der Weg der Türkei in eine „plebiszitäre Führerdiktatur“

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Die Verhaftung von elf Abgeordneten der linken und pro-kurdischen HDP – darunter die Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ – zeigt an, dass die Türkei auf dem Weg in eine „plebiszitäre Führerdiktatur“ (Thomas Schmidinger) ist. Der inszenierte Putsch vom Sommer gab das Fanal, jegliche kritische Stimmen zu unterdrücken, unliebsame Medien zu schließen und jegliche legale Opposition auszuschalten. Es ist nun zu erwarten, dass eine kurdische Untergrundbewegung aktiv wird.

Der EU-Türkei-Deal, abgeschlossen um die Flüchtenden aus Kerneuropa heraus zu halten, war immer schon ein schmutziges Geschäft. Leider ist die Reaktion auf die politische Situation in der Türkei und ihre Auswirkungen auch auf Österreich bisher zurückhaltend gewesen. Die Auflösung der Demokratie wird hingenommen. Und auch in Österreich waren (und sind) die türkischen Islamisten gern gesehene politische Partner. Unsere Redakteurin Aysel Yildiz hatte bereits im März 2016 davor gewarnt, dass die Erdogan-AKP wirklich Ernst machen wird. Wir dokumentieren ihren Text leicht überarbeitet, in dem sie auch auf die Vorgeschichte der erneuten Diktatur-Werdung der Türkei eingeht. Wir befürchten, dass die moralisch und realpolitisch falsche Politik der Türkei gegenüber (seitens der EU und seitens der österreichischen Regierung) auch Konsequenzen in Österreich haben wird.


Die HDP ist auch eine Frauenbewegung

Bald wird einigen Abgeordneten in der Türkei die Immunität entzogen. Es sind die Abgeordneten der HDP, ich möchte nicht prokurdische Partei sagen, weil auch Nicht-Kurden bzw. Türken für diese Partei arbeiten und diese Partei auch wählen. Man will den beiden Vorsitzenden und drei weiteren für die Partei sehr wichtigen Abgeordneten der HDP die Immunität entziehen und sie wegen -ihr wisst schon- Terrorpropaganda, Unterstützung der PKK, ins Gefängnis schicken.

Zur Info: HDP hat zwei Vorsitzende, weil sie es sich zum Ziel gesetzt hat, den Frauenanteil in ihren politischen Gremien zu erhöhen. Deshalb wird jede Position innerhalb und wenn es gesetzlich möglich ist, auch außerhalb der Partei (z.B. Bürgermeisterposten) von einer Frau und einem Mann besetzt. Es hat auch sehr viel damit zu tun, dass die linke und kurdische Bewegung immer schon auch eine Frauenbewegung in der Türkei war.

Ich kann nichts anderes tun als zu schreiben und euch Nicht-Türken, Europäer, darauf aufmerksam zu machen, was die stolzen Türken und Islamisten vorhaben. Es gibt sonst nichts, was ich dagegen tun kann. Ich komme aus einer „typisch türkischen“ Familie, in der es fast schon ein Muss ist, Armenier, Juden, Kurden, alles was nicht-türkisch ist, zu hassen. Ich kenne diese Menschen nur zu gut, und ich weiß nicht nur, wie sie denken, ich weiß in meisten Fällen auch, was sie denken. Und ich muss euch nun die schlechte Nachricht übermitteln: wir werden mit dem, was wir Kurden antun, niemals aufhören, niemals. Irgendwer muss uns dazu zwingen. Ihr müsst uns dazu zwingen.

Vergesst bitte den kurdischen Widerstand nicht!

Ich stelle immer wieder fest, dass Wissen ohne Gewissen dasselbe ergibt, wie die Nicht-Existenz von beidem. Das Wissen bei Gewissenlosen wird dazu benutzt, um Argumente zu formulieren, die einem selbst und/oder der eigenen Community helfen, sich nicht zu ändern. Ich glaube, Menschen, die ein Gewissen haben, tun ohnehin immer das Richtige. Da hilft auch keine Gehirnwäsche in einer nationalistischen bzw. rassistischen Familie. Wenn du ein Gewissen hast, hast du keine Chance, da gibt’s kein Entkommen, es bringt dich dazu, die ermordeten Kurden, als ein Teil von dir selbst zu sehen.

Deshalb meine Bitte an alle, die das hier lesen, vergesst den Widerstand der Menschen in der Türkei nicht, die immer schon für das Recht der Unterdrückten und für ihr Recht auf Leben gekämpft haben. Vergesst die Heucheleien der Türkeistämmigen nicht, die sich hier in Österreich, in Europa, aufhalten und die Staatsbürgerschaften der Länder besitzen, in denen sie leben und dann immer wieder behaupten, Erdogan und seine Partei würden alles richtig machen. Ich werde diese Heucheleien dieser Menschen nie vergessen.

Vergesst nicht, dass diese Menschen immer wieder behaupten, sie hätten ein Recht darauf, nicht assimiliert zu werden, jedoch jeden in der Türkei, der anders denkt als sie, Terroristen nennen, und somit Assimilation nicht nur in ethnischer Hinsicht, sondern auch in der Politik unterstützen, und versuchen, hier in Österreich und Europa diese Assimilationspolitik als Kampf gegen Terror darzustellen. Alle sollen so denken wie sie, wenn nicht, sind sie Terroristen.

Die Foltergeschichte in der Türkei ist und bleibt unaufgearbeitet

Vergesst nicht, dass sie immer wieder von der Türkei schwärmen und immer wieder ihre Trauer um die getöteten Soldaten und Polizisten in der Türkei zur Schau stellen, jedoch sich darüber freuen und es für gerecht halten, wenn die Leichen der kurdischen Guerillas geschändet werden, und behaupten, dass auch getötete Zivilisten Terroristen waren. Ich kenne persönlich Leute, die sich darüber freuen, wenn kurdische Kinder getötet werden, weil nach ihrer Meinung diese sich ja schlussendlich, wenn sie erwachsen sind, der PKK anschließen würden.

Sehr oft liest man in sozialen Medien, wie stolz sich manche über die Foltermethoden von damals und auch heute äußern, leider nur auf Türkisch, so dass Nicht-Türkischsprachige diese nicht verstehen. Und sie finden das alles richtig, man denkt tatsächlich, es gäbe Menschen, die Folter und einen brutalen Tot verdienen. Wer den Völkermord an Armeniern und das, was wir den Kurden angetan haben und immer noch antun, befürwortet und Tötungspolitik als Kampf gegen Terror bezeichnet, ist vielleicht irgendwann bereit, auch anderen weiteren Menschen und Völker dasselbe anzutun.

Es ist schlimmer als ihr denkt. Als ich als Kind in der Türkei gelebt habe, haben wir über diese Foltermethoden geredet, als wären sie etwas Selbstverständliches, wir sagten auch, dass Kurdisch keine richtige Sprache sei, wir nannten diese Menschen Terroristen und tun das immer noch. Natürlich meinten wir, so wie die jetzigen AKP-Anhänger, dass es keine Probleme mit Kurden gibt, sondern, dass es Terrorismus ist, was uns Probleme macht. Es stimmt, dass uns Terrorismus Probleme macht, aber es ist unser eigener Terrorismus, der Probleme für uns und für andere verursacht. Ich kenne all diese auswendig gelernten Statements, Äußerungen aus den 80er und auch 90er Jahren. Es sind auch heute die gleichen Erklärungen wie damals, in ihrer Formulierung ein wenig der Zeit angepasst, sonst basieren sie auf der gleichen Logik.

Errungenschaften in der Türkei waren dem kurdischen Widerstand geschuldet

Die ganzen Errungenschaften, von denen die Gefolgschaft der AKP immer wieder spricht, wenn man davon redet, was man alles den Kurden in der Türkei „erlaubt“ hat, basieren nicht auf Veränderung im nicht-kurdischen Bevölkerungsteil, sondern das sind die Errungenschaften der jahrzehntelangen Widerstandsbewegung der Kurden. Wer behauptet, Kurden würden Erdogan vieles verdanken, der irrt sich oder er sagt bewusst die Unwahrheit – und hofft ein Stück Knochen dafür zu bekommen, Oder so wie es hier in Europa zu beobachten ist, versucht man seine Minderwertigkeitsgefühle durch Identifizierung mit Erdogan/AKP und der Türkei sowie den Islam zu bewältigen. Diese Minderwertigkeitsgefühle werden nicht nur durch Vorurteile und rassistischen Erfahrungen verursacht, sondern auch durch die dogmatische Erziehung und Erwartungen des Elternhauses in Bezug auf Übernahme und Verinnerlichung der eigenen Lebensgestaltung und der Moralvorstellungen der Eltern. Und diese Eltern stehen selbst unter Druck der eigenen Community.

Auch wenn ein ganz Anderer oder Andere in der Türkei an der Macht wäre, hätte man vieles aufgrund der sich verändernden Welt nicht aufhalten können. In einer Welt des Internets, kann man eben nicht mehr behaupten, dass Kurdisch keine richtige Sprache ist. Das es kurdisch-sprachige Medien gab, verdankte man nicht Erdogan, dass verdankte man den technischen Entwicklungen unserer Zeit. Erst vor kurzem wurde von der AKP-Regierung der Antrag auf Gewährung der Bildung in der Muttersprache abgelehnt. Achtet auf die Argumente der AKP-Gefolgschaft dazu, diejenigen, die in Europa nicht assimiliert werden wollen, verwehren den Völkern in der Türkei, die vor uns Türken dort existiert und gelebt haben, jedes Recht auf eigene ethnische Identität und ein Leben in Würde.

Die Gruppe der Mutigen in der Türkei ist relativ klein

Tatsächlich ist es so, dass Kritiker ein sehr schweres Leben in der Türkei haben. Dennoch bleiben sie mutig. Journalisten, die dennoch über die Wahrheit berichten, werden als Verräter bezeichnet, von AKP gesteuerten Gerichten ins Gefängnis geschickt. Dass diese Menschen dennoch versuchen, einer Macht gegenüberzustehen, die alles zu vernichten versucht, was vor ihr nicht in die Knie geht, muss auch sehr viele Minderwertigkeitsgefühle und daraus resultierenden Hass auf sich selbst bei Manchen hervorbringen, die bewusst so eine Macht unterstützen. Dieser Hass wird auf die Menschen gerichtet, die ein Gewissen haben. Weil diese wenigen mutigen Menschen sie daran erinnern, wie klein sie sind, so klein, dass sie weder Mut noch die innere Kraft besitzen gegen diese Macht anzukämpfen, und deshalb wählen sie den leichten Weg und werden ein Teil dieser Macht.

Die neue Generation, behauptet tatsächlich, dass AKP anders handelt als ihre Vorgänger in der türkischen Politik. AKP und ihre Vereine hier wollen uns tatsächlich weismachen, dass ihre Politik anders ist als die der Regierungen vor ihr. Das ist sie nicht. Die AKP ist eine Fortsetzung der Regierungen vor ihr, mit der liberalen Wirtschaftspolitik, die sie betreibt, mit der Tötungspolitik gegenüber Kurden, die von Europa wie damals, ignoriert und in Wirklichkeit einfach so hingenommen und somit sogar unterstützt wird, zeigt sie, dass sie sogar brutaler sein kann als die Regierungen vor ihr. Und ihre Gefolgschaft zeigt uns, dass die neue Generation genauso blind, skrupellos und untertänig sein kann wie wir, ihre Vorgenerationen. Schließlich wollen auch sie ein Stück vom Kuchen. Und Europa, folgend der deutschen Kanzlerin, handelt genauso wie in der Zeit, als Kohl und seine Partei regiert haben. Wir sind immer noch dieselben wie vor 20-30 Jahren. Nichts hat sich geändert.

Vergesst diese Schandtaten nicht und vergesst nicht wie in diesen Tagen die universellen Werte der Menschheit, die uns ermöglichen ein würdevolles Leben zu führen, von unseren europäischen Politikern niedergeschmettert worden sind, wie die Menschheit von uns selbst verraten wurde. Ich bin als Türkin und Österreicherin sowie Europäerin bereit für all diese Schandtaten, Menschenrechtsverletzungen vor einem Gericht verurteilt zu werden.

Wir lassen zu, dass Menschen sterben, bitte lassen wir nicht zu, dass wir ungestraft davonkommen.

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