Der Kern der Krise – Eine Analyse zum FAZ-Kommentar von Bundeskanzler Christian Kern

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By Christoph Ulbrich

Bundeskanzler Christian Kern hat in der gestrigen Ausgabe der FAZ in der Reihe „Zerfällt Europa?“ einen – zumindest in Österreich – vielbeachteten Beitrag verfasst. Kerns Analyse zur Krise der EU mag teilweise richtig sein, seine Lösungsvorschläge bleiben allerdings an der Oberfläche. Sie sind alles andere als ein Paradigmenwechsel sozialdemokratischer Politik. Die Analyse von Christoph Ulbrich zeigt, warum Kerns Forderung nach staatlichen Investitionsprogrammen ebenso falsch ist wie die ewige gleiche neoliberale Forderung nach weniger Steuern.


Die Krise der EU als Pessimismus und Freudlosigkeit

Schon zum Einstieg versteht Kern die Krise der EU weniger als Krise eines Systems, sondern als Auswuchs von Pessimismus und Freudlosigkeit. Ein Pessimismus, der auch Teil des Problems sei. Obwohl auch er im Text wenig später feststellen muss, dass nicht nur die Stimmung schlecht ist, sondern tatsächlich „für einen zunehmenden Teil der Bevölkerung die Realeinkommen nicht gewachsen, oder sogar gefallen sind.“

Hoffnung durch Arbeitsplätze?

Als brennendste Frage konstatiert Kern: „Wie schaffen wir mehr Wachstum und Arbeitsplätze?“ Die sozialdemokratische Gleichung lautet einmal mehr, dass staatliche Investitionen zu mehr Wachstum führen, zu mehr Arbeitsplätzen, mehr Wohlstand, mehr Zuversicht und somit weniger (durch Rechtspopulisten getragene) Erosion der europäischen Idee. Doch stimmt diese Gleichung noch?

Arbeit = Zuversicht!. Oder etwa doch nicht?

Als Beleg für diese These verweist Kern auf die USA, in denen die Arbeitslosigkeit zur Zeit wieder auf Vor-Krisen-Niveau ist. Das stimmt für die USA – für Deutschland stimmt es allerdings noch viel mehr. Deutschland hat die niedrigste Arbeitslosenquote seit 25 Jahren. Trotzdem erlebt Deutschland einen massiven Rechtsruck. Auch in Großbritannien steht die Arbeitslosenquote – laut Statisik – heute wieder dort, wo sie vor der Krise 2008 lag. Trotzdem stimmten die Briten mehrheitlich für den Brexit.
Umgekehrt sind in den südeuropäischen Ländern, die besonders von der Sparpolitik der EU betroffen sind, rechtspopulisitsche Parteien bis jetzt eine Randerscheinung geblieben. Dort geht der Protest nach links.

Arm trotz Arbeit

Viel weniger rosig sieht die Lage aus, wenn man nicht nur auf die Arbeitslosenquote schaut. In Deutschland hat sich die Arbeitslosenquote in den letzten 10 Jahren mehr als halbiert. Allerdings: Die Zahl der Menschen, die armutsgefährdet sind, ist im selben Zeitraum nicht nur nicht gesunken, sondern sogar gestiegen. Das gleiche gilt für Großbritannien und die USA, wo trotz sinkender Arbeitslosenquote die Zahl der Armen steigt. Und – auch das zeigen die Daten des statistischen Bundesamts – armutsgefährdet sind vor allem die junge Menschen.

Öffentliche Investitionen, um Arbeit zu schaffen?

Kern plädiert – ebenfalls mit Blick auf die USA – für mehr öffentliche Investitionen und die Aufstockung des Juncker-Fonds. Das könnte, so die Annahme, die Arbeitslosigkeit senken. Aber würde Europa dadurch wirklich – wie Kern im Titel fordert – „wieder gerecht werden“?
Kern geht offensichtlich davon aus, dass Arbeit den Wohlstand und in weiterer Folge die Hoffnung auf das Projekt Europa sichert. Eine These, die so alt ist wie die Sozialdemokratie selbst, die aber, wie die Statistiken zeigen, nicht mehr stimmt. Ein – allzu oft schlecht bezahlter, prekärer – Arbeitsplatz bedeutet längst nicht mehr automatisch, hoffnungsvoll in die Zukunft blicken zu können. Im Gegenteil: Er produziert neue Unsicherheiten.

Woher kommt das Geld?

Weitgehend unbeantwortet lässt Kern die Frage, woher das Geld für zusätzliche Investitionen kommen soll. Er macht sich damit angreifbar. Es hat denn auch keine 24 Stunden gedauert, bis die Totschlagsargumente von der „zu hohen Abgabenquote“ und der „Schuldenmacherei auf Kosten kommender Generationen“ am medialen Horizont erschienen. Zwar ist Schulden zu machen für die Staaten Mitteleuropas derzeit so billig wie noch nie und für Deutschland – dank Negativzinsen – sogar ein Geschäft. Allerdings werden früher oder später die Zinsen auch für Staatsanleihen wieder steigen. Spätestens dann stellt sich die Frage, wer für die Investitionen zahlt, die Kern tätigen will.

Die Verteilungsfrage wird nicht gestellt

Kerns Forderung nach einem (aufgestockten) Investitionsprogramm ist erstaunlich einfallslos. Sie ist das Patentrezept der Sozialdemokratie seit 50 Jahren. Und sie vermeidet die eigentliche Frage zu stellen, geschweige denn diese zu beantworten. Warum rutschen immer größere Gruppen der Bevölkerung unter die Armutsgefährdungsschwelle? Warum hat sich der in den letzten Jahrzehnten entstandene gesellschaftliche Reichtum von unten nach oben und von Arbeits- zu Kapitaleinkünften umverteilt? Und wichtiger: Welche Antworten haben wir darauf?

Das Steuersystem ist der Ort um Gegensteuerm

Das Problem Europas ist weniger das mangelnde Wachstum oder die zu hohe Arbeitslosigkeit. Das Problem ist die Verteilung des schon vorhandenen und neu entstehenden Reichtums. Dieses Problem kann man aber nicht mit Investitionsprogrammen lösen, sondern nur mit Umverteilung, also durch ein anderes Steuersystem.

Arbeitseinkommmen vs. leistungslose Einkommen

Die Lohnquote – also jener Anteil am Volkseinkommen, der durch Arbeit erzielt wird – ist trotz mehr Beschäftigung seit den 1970er Jahren in Deutschland und noch deutlicher im Rest der EU gesunken.

Das Beschäftigungswachstum der letzten Jahrzehnte entstand zudem praktisch ausschließlich durch oft schlecht bezahlte Teilzeitjobs, die in der Regel von Frauen ausgeübt werden. Die Zahl der Vollzeitbeschäftigten ist in Deutschland trotz Jobwunder in den letzten Jahrzehnten de facto gleich geblieben.

Auch Arbeit ist eine Ressource, die gerecht verteilt werden muss

Rationalisierung und Automatisierung haben in den letzten Jahren zahlreiche Arbeitsplätze verschwinden lassen. Wir müssen heute – und das ist eine im Kern positive Entwicklung – um unseren Lebensstandard zu erhalten, weniger arbeiten als vor 30 oder gar 100 Jahren. Produktivitätssteigerungen gingen in den letzten 200 Jahren immer einher mit Reduktion der Normalarbeitszeit. Trotz augenfälliger Produktivitätssteigerung liegt die letzte Senkung der Normalarbeitszeit dennoch bereits 40 Jahre zurück. Währenddessen wurde sie in den 30 Jahren davor von 1945 bis 1975 in mehreren Schritten von 48 auf 40 Wochenstunden gesenkt. In den 30 Jahren zwischen 1945 und 75 wurde die Arbeit um 20% weniger. Seit nunmehr 40 Jahren nicht?
Die Senkung der Normalarbeitszeit ist lange überfällig. Auch um die versteckte Arbeitszeitverkürzung durch Teilzeitjobs, von denen vor allem Frauen betroffen sind, auszugleichen. Das ist im übrigen auch eine Maßnahme, die die (Wiener) SPÖ nicht erst seit Kern Bundeskanzler ist fordert. Offensiv vertreten wird sie von Kern in der FAZ allerdings nicht.

Kapitalertrags-, Erbschafts- und Vermögensteuern rauf, Lohnsteuer runter

Wie bewerten wir Arbeitseinkommen? Und wie leistungslose Kapitaleinkommen? Die allermeisten Expertinnen und Experten sind sich einig, dass Arbeit in Österreich zu hoch, (leistungslose) Kapitalerträge zu niedrig besteuert werden. Wer arbeitet, zahlt in Österreich ab einem Jahreseinkommen von über 18.000 bereits 35% Einkommensteuer auf jeden hart verdienten Euro. Ab 31.000 Euro sind es dann bereits 42%. Wer das gleiche Einkommen aus Kapitalrenditen generiert, zahlt hingegen nur 25% Steuern. Und wer das Glück hat, ein Vermögen leistungslos zu erben, wird dabei völlig steuerfrei reich.

Diese ungleiche Steuerbelastung war es, die in den letzten Jahrzehnten Reichtum ungerecht verteilt hat. Das Keynsanische Deficit Spending – nichts anders ist Kerns Forderung nach Investitionsprogrammen – hat diese Entwicklung vielleicht verlangsamt, aber weder gestoppt noch umgekehrt.
Wenn die Politik das Auseinanderdriften der Gesellschaft im gemeinsamen Europa verhindern, um, wie Kern schon im Titel sagt, Europa „wieder gerecht“ zu machen, dann muss sie am Steuersystem ansetzen, um diese Entwicklung umzukehren.

Oder anders gesagt: Die Abgabenquote ist nicht zu hoch, sie ist falsch verteilt.

1 Gedanke zu „Der Kern der Krise – Eine Analyse zum FAZ-Kommentar von Bundeskanzler Christian Kern“

  1. Das stellt dem Kanzler ein ziemlich gutes Zeugnis aus.

    Ganze zwei Kritikpunkte bleiben. Die haben zwar großes Gewicht, treffen Christian Kern aber kaum.

    Dass er nicht offensiv für die Senkung der Normalarbeitszeit eintritt, kommt wohl daher, dass er plakative Ankündigungen vor allem dann nicht schätzt, wenn sie nicht wenigstens mit einem bereits durchdachten Plan verbunden sind. Und dazu ist die Arbeitszeitverteilung doch etwas zu komplex, außerdem schwirren gerade plumpe Flexibilisierungsforderungen durch den politischen Raum, durch die sachorientierte Argumente kaum wahr genommen würden. Aber zur Beruhigung: die Position der Wiener SPÖ ist selbstverständlich auch die Christian Kerns, und nicht nur, weil er Parteimitglied in Wien ist.

    Dass dringend umverteilt werden muss und die Steuerquote nicht zu hoch, die Steuerlast aber unfair verteilt ist, das mag Christian Kern in seinem Beitrag nicht auch noch detailliert ausgeführt haben, schließlich war das ein einem Hauptthema gewidmeter Text. Sonst aber ist genau das in genau dem genannten Sinn der von ihm selbst, und zwar ausgesprochen kantig, artikulierte nächste Hauptpunkt der politischen Arbeit. Das hat das profil im August, eingeleitet mit „Aufgebracht hat es Christian Kern“, beschrieben unter
    http://www.profil.at/wirtschaft/maschinensteuer-wertschoepfungsabgabe-christian-kern-7532922
    – und die Presse hat den Plan skizziert unter
    http://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/5071693/Kerns-Plan-fur-die-Wertschopfungsabgabe

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