In der Überschrift steht das das Wort Ausnahmezustand auf Türkisch, Französisch und Belgisch. In diesen Ländern gilt derzeit – oder galt bis vor kurzem – ein solcher Zustand. Was bedeutet dieser eigentlich? Wie lässt es sich in einer Demokratie begründen, dass man die Verfassung (gemäß der Verfassung?) zeitweise außer Kraft setzt? Welche Auswirkungen haben solche Erklärungen genau? Wie ist der Ausnahmezustand eigentlich in Österreich geregelt? Resultat dieser Recherchen: Ausnahmezustände bieten immer auch die Gelegenheit, über den Anlassfall hinaus gegen die Bevölkerung oder gegen Teile der Bevölkerung vorzugehen, und zum Beispiel Arbeitskämpfe und Bewegungen zu unterdrücken. Und sie stehen verfassungsjuristisch auf tönernen Füßen. Von Sebastian Reinfeldt
Die türkische Verfassung gibt dem Kabinett unter Vorsitz des Staatspräsidenten das Recht, nach Beratungen mit dem Nationalen Sicherheitsrat den Ausnahmezustand zu verhängen. Nach Artikel 120 können weit verbreitete Gewaltakte zur Zerstörung der freiheitlich-demokratischen Ordnung einen solchen begründen – oder ein gravierender Verfall der öffentlichen Ordnung. In diesen Formulierungen wird das Grundproblem eines jeden Ausnahmezustands sichtbar. Die Entscheidung, diesen herbeizuführen, kann nur eine souveräne Gewalt treffen – und sie muss die Gründe seiner Einsetzung vor der Ausrufung des Ausnahmezustands konstruieren. Hier sind die Ereignisse in der Türkei ein Lehrstück. Denn ganz offensichtlich fand zuvor ein Kampf um die Macht im Staate statt, den die AKP und Erdogan gewonnen haben – ein Kampf, der sie nun dazu befähigt, den Ausnahmezustand gemäß der Verfassung auszurufen.
In dem gesamten Ablauf von Militär-Putsch und Gegenputsch durch Erdogan und die AKP wird also deutlich, dass es um die Souveränität im Staate geht, und wie weit diese den Staat durchdringt. Der Verfassungsartikel 121 enthält dahingehend einige detailliertere Regelungen:
- Landesweite Ausgangssperren sind jederzeit möglich (sie sind in kurdischen Gebieten eh schon in Kraft).
- Versammlungsrecht kann jederzeit außer Kraft gesetzt werden (auch ohne offiziellen Ausnahmezustand bereits praktiziert).
- Polizei-Aktionen wie das Durchsuchen von Personen und das Beschlagnahmen von Dingen, die sie bei sich tragen, ist ohne Begründung möglich.
- Zeitungen, Zeitschriften, Bücher können jederzeit verboten werden (auch vor der Ausrufung praktiziert), gleiches gilt für Video- und Tonaufnahmen und ihre Verbreitung, Bühnen- und Filmvorführungen ebenfalls.
- Versammlungen können überwacht und aufgelöst werden (ein Normalfall in der Türkei).
- Regierung kann enteignen.
- Das Militär kann direkter kontrolliert werden.
Update: Am 21. Juli wurde zudem bekannt, dass die Europäische Menschenrechtskonvention in der Türkei außer Kraft gesetzt wird.
État d’urgence in Frankreich und Staat van beleg in Belgien
Sowohl in Frankreich als auch in Belgien sind die aktuellen Ausnahmezustände nach islamistischen Terroranschlägen eingesetzt worden, obwohl die Verfassungstexte solche Zustände auf Dauer eigentlich gar nicht vorsehen. Daher wird in der Folge von Ausnahmezuständen über Verfassungsänderungen diskutiert. Jedenfalls antworten Ausnahmezustände, so wie sie in der Verfassung vorgesehen sind, auf eine reale Gefahr für Leib und Leben für alle Bewohnerinnen und Bewohner. Außerdem erklärt der Staat mit der Ausrufung eines Ausnahmezustands, dass er sich dadurch als Ganzes bedroht sieht. Doch die Beispiele zeigen auch die Nebenwirkungen solcher Ausnahmezustände: Sie werden benutzt, um den Polizeieinsätze jenseits von Terrorwarnungen zu rechtfertigen: bei Arbeitskämpfen und Streikbewegungen zum Beispiel.
Leere Straßen und geheime Polizeioperationen: Ausnahmezustand in Brüssel
Brüssel im Lockdown – das waren gespenstische Szenen. Die Straßen der belgischen Hauptstadt waren wie leer gefegt, lediglich Polizisten in voller Montur waren bei „Operationen“ zu sehen. Was sie genau wo taten, war zumeist unklar. Es herrschte Nachrichtensperre – übrigens ein weiteres typisches Merkmal jeglicher Ausnahmezustände: Der Zugang zu Informationen wird äußerst eingeschränkt. Gerechtfertigt wurde der absolute Stillstand des normalen Lebens über Terrorwarnstufen. Ist da die höchste Stufe ausgerufen, so ist ein praktisch unbegrenzter Eingriff in das Leben eines jeden/einer jeden gerechtfertigt, solange diese Terrorwarnstufe gilt. Einen verfassungsmäßigen Notstand gibt es in Belgien nicht, die Aufhebung der Verfassung – auch nur zum Teil – ist nach Artikel 187 sogar ausdrücklich untersagt
Die Einschränkung der Bürgerrechte wird in Frankreich – durchaus vergleichbar mit der Türkei – in erster Linie mit der Bedrohung des Staates oder des Staatsgebiets und seiner Organe gerechtfertigt. Er wurde 2015 zuerst nach den islamistischen Terrorattentaten für das gesamte kontinentale Land und für die französischen Inseln ausgerufen. Zuvor galt er – territorial begrenzt – 2005 während der Jugendkrawalle in den Pariser Vorstädten, 1985 während eines Aufstands auf den Pazifikinseln von Neukaledonien, 1961 nach einem Putschversuch und in den 1950er-Jahren während des Algerienkriegs für das damals noch französische Algerien. In diese Zeit geht auch die gesetzliche Ermächtigung zur Ausrufung des Ausnahmezustands zurück. Auf dieser Rechtsgrundlage wurden tausende Wohnungen durchsucht, und mehr als 400 Personen, von denen eine Gefahr ausgehen könnte, zwischenzeitlich unter Hausarrest gestellt.
Die Rechtsgrundlage bildet das Loi relative à l’état d’urgence von 1955. Laut Verfassungsblog ermöglicht dieses Gesetz, dass die Staatsgewalt bei drohender Gefahr für die öffentliche Ordnung oder eines schwerwiegenden Ereignisses besondere Befugnisse erhält: Es ist beispielsweise möglich, die Vereinigungsfreiheit einzuschränken, Ausgangssperren zu verhängen oder Schutzzonen einzurichten. Dieser Ausnahmezustand ist nach 12 Tagen beendet, außer das Parlament verlängert ihn. Genau das ist nach den Terroranschlägen vom 13. November 2015 drei mal geschehen. Beide Kammern des Parlaments haben aber nicht nur in großer Mehrheit für eine dreimonatige Verlängerung des Ausnahmezustands gestimmt. Der hierzu vorgelegte Gesetzesentwurf modifizierte auch einige Bestimmungen des Gesetzes von 1955. Mittlerweile ist der Ausnahmezustand sogar um ein halbes Jahr bis 2017 verlängert worden. Anders als bei der letzten Verlängerung sollen wieder Hausdurchsuchungen ohne Richterbeschluss möglich sein. Außerdem können Computer und Telefone von Verdächtigen ausgewertet werden. Das Ausnahmerecht wird auch angewendet, um den Streiks und Protestbewegungen entgegen zu treten. Guillaume Paoli berichtet auf Mosaik von folgenden Maßnahmen, die im Windschatten des Ausnahmezustands durchgeführt wurden:
Die umstrittene Arbeitsmarktreform – die französischen Hartz 4-Gesetzte – ist in Frankreich nunmehr per Notverordnung durchgepeitsch worden. Unter Umgehung des Parlaments gilt nun, dass die 35-Stunden Woche nicht mehr die Norm ist, und dass der Kündigungsschutz gelockert wurde. Ein ursächlicher Zusammenhang mit den islamistischen Terrorattacken besteht hier nicht.
Bisher kein verfassungsgemäßer Ausnahmezustand in Österreich
Die österreichische Bundesverfassung gibt dem Bundespräsidenten durchaus ein Notverordnungsrecht, das bisher noch nie angewendet wurde und von den Formulierungen her in Hinblick auf einen möglichen Kriegsfall formuliert wurde. Solche inaktiven Verfassungspassagen werden von JuristInnen gerne als totes Recht bezeichnet. Jedenfalls kann der Bundespräsident dem zurfolge zur Abwehr „eines nicht wieder gutzumachenden Schadens für die Allgemeinheit“ auf Vorschlag der Bundesregierung „gesetzesändernde Verordnungen“ ohne das Parlament erlassen. Diese Formulierungen gehen offenbar von einer Situation aus, in der kein handlungsfähiges Parlament existiert. Der Präsident könnte dann etwa den Regierungssitz und den Tagungsort des Nationalrates in ein anderes Bundesland als Wien verlegen.
Interessant ist die – ebenfalls noch nie angewendete – Möglichkeit, dass auch ein Landeshauptmann unter „außergewöhnlichen Umständen“ und in Abstimmung mit dem Landtag Gesetze zeitweilig außer Kraft setzen kann. Übrigens hat noch Innenministerin Johanna Mikl-Leitner eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die prüfen soll, ob Österreich auch ein Notfallrecht brauchen würde. Geleitet wird sie von der Juristin Reindl-Krauskopf. Sie meint:
Wir reden über die Reaktion auf terroristische Herausforderungen, auf Natur- und Umweltkatastrophen. Wir reden aber nicht vom Krieg. (…) Wenn es Grundrechtseingriffe gibt, brauchen sie eine starke Rückbindung im demokratischen Gesetzeswesen. Den Rahmen muss man in der Verfassung abstecken.
Eine vom Parlament erlassenes Massnahmenpakte zum Thema „Asylrecht“ wurde als Notverordnung bezeichnet, denn es erlaubt das Menschenrecht auf Asyl zeitweise einzuschränken, Stichwort: Obergrenzen festlegen. Hier werden – ziemlich perfide eigentlich – die Grundrechtseingriffe auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe beschränkt, die sich zudem dagegen schwer zur Wehr setzen kann.
Fotocredit: http://www.vulture-bookz.de/imagebank/Dokumente/pages/1953-06-17~Ausnahmezustand_in_Ostberlin.html