Der Mythos des Börsencrashes – und die Niederlage der Eliten

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By Sebastian Reinfeldt

von Christoph Ulbrich

Heute in der Früh, am Morgen nach dem #Brexit, bin ich über diesen Tweet von Matt Steinglass gestolpert. Steinglass istHerausgeber des wohl wichtigsten britischen Wirtschaftsmagazins The Economist. Er kommentiert den #Brexit mit einem dramatischen Chart und in ebenso dramatischen Worten.

Falter-Chefredakteur Florian Klenk nutzte für seine Kommentierung das gleiche Chart, und das gleich zwei Mal, um die Folgen des #Brexit zu dramatisieren:

 

und wenig später…

Auch ORF.at bringt als Breaking News die Nachricht: „Europas Börsen brechen völlig ein!“

Bildschirmfoto vom 2016-06-24 10-31-08

Die Aussagen der beiden Journalisten sind dabei in mehrerlei Hinsicht falsch und zeigen eine grundsätzlich falsche Herangehensweise an die EU, nicht nur durch die populistischen LautrednerInnen, sondern auch durch vermeintlich links-liberale Journalisten.

Ein Einbruch, der gar keiner ist

Schon die Grundannahme ist nämlich falsch. Der „Einbruch“ des FTSE-Index relativiert sich, wenn man den Timeframe des Charts von 5 auf 10 (!) Tage verändert. Dann erkannt man, dass der Kurs des FTSE heute wieder dort ist, wo er vor einer Woche schon einmal war. Das gleiche gilt übrigens für den Deutschen Dax. Auch der steht heute dort, wo er schon vor einer Woche stand. Und deutlich höher als vor 4 Monaten.

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Falsch ist aber vor allem auch die – offensichtlich auch von links-liberalen Journalisten geteilte –  Annahme, die Aktienkurse taugten als Indikator für Erfolg oder Misserfolg des Europäischen Projekts. Der Einbruch der Aktienkurse hat keinerlei direkten Einfluss auf das Leben des Durchschnittseuropäer, denn die Börsen sind die Spielwiese der oberen 1%.

Wenn die Börsenkurse steigen oder abstürzen, verändert dass das Leben von 99% der Briten nicht unmittelbar. Im Gegenteil, der FTSE-Index hat in den letzten 5 Jahren um ca. 20% zugelegt, die Reallöhne der Briten sind hingegen seit 2009 gesunken, oder bestenfalls gleich geblieben.

Wenn als Folge der Konzentration des Reichtums bei den oberen 1% die Mieten in London für die Mittelschicht nicht mehr bezahlbar sind, spüren das die Briten unmittelbar. Wenn als Folge der von der EU verordneten Austeritätspolitik Eltern ihre Kinder nicht mehr vernünftig ernähren können und Kinder hungrig in die Schule gehen müssen, dann bricht dass das Vertrauen in die Politik der Eliten. Und dann erscheint der #Brexit vielleicht als Ausweg aus der Misere – oder zumindest als Rache an der Londoner City.

Eine Niederlage der Eliten

Der #Brexit ist kein Sieg der Nationalisten/Populisten, sondern ein Niederlage der EU, die in den letzten Jahren die Lebensqualität der einfachen Menschen nicht spürbar verbessert hat. Und es so nie geschafft hat, jenen Zauber zu entfachen, den Friedrich Schiller in seinem zur Europahymne gewordenen Gedicht An die Freude beschwört. Eben, weil sich die Politik EU nur an Wirtschaftswachstum und Börsenkursen orientiert und nicht an der Lebensqualität der Menschen.

Die Konsequenz aus dem #Brexit – und das ist vielleicht die letzte Chance für die EU – muss daher eine Politik (und auch eine Medienöffentlichkeit) sein, die den Blick weg von den Börsen-Charts, hin auf die Bedürfnissen der Menschen richtet. Dann wird Europa irgendwann vielleicht wirklich zur von Schiller beschworenen Insel der Seligen: Elysion.

Noch glaube ich an die Zeilen der letzen Strophe aus der Ode an die Freude.

Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elisium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligthum.
Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng getheilt,
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.

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1 Gedanke zu „Der Mythos des Börsencrashes – und die Niederlage der Eliten“

  1. Ja, soweit so gut und richtig. Und nein, ich finde nicht, dass es allein die Schuld der „EU“ ist (wer ist das denn genau?). „Die EU“ sind schon alle BürgerInnen, die, klar in den letzten Jahren zu wenig profitiert haben und auch nicht. Doch, da ist er wieder, der „Profitgedanke“. Bitte möglichst alles bequem und gepampert ?
    EU, das sind auch alle die Passiven, Desinteressierten, all die, die nicht weiter denken als von 12 auf Mittag. „Ich habe nie einen Rosengarten versprochen“, das gilt auch und besonders für eine Gemeinschaft von Millionen. Es ist auch eine Frage der Selbstverantwortung nicht nur alles Bequeme, dass die EU brachte, mitzunehmen. Und auch eine Frage der eigenen Verantwortung, ob ich dem erstbesten Rattenfänger auf dem Leim gehe. Welche Eliten auch immer schuld sein mögen, es sind auch die nicht-Eliten, die oft nicht in der Lage sind, Themen so rüber zu bringen, dass es auch ein einfacher Geist versteht. Das, finde ich, ist nämlich auch elitär.

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