In Aus dem Leben einer Wahlbeisitzerin berichtet eine Sozialdemokratin im Standard die wahren politischen Begebenheiten bei der Bundespräsidentenwahl 2016 im Wiener Stadtteil Margareten. Neben vielen interessanten Details zum Wahlprozedere (ohne die BeisitzerInnen von SPÖ und ÖVP läuft dort offenbar nichts) lässt sich die Autorin über das Donaustädter Proletariat aus, das sie im Vergleich zu Margareten einordnet und beurteilt: Im fünften Bezirk
verbringt man als Familie den ersten Sommertag des Jahres nicht mit einer großen Schüssel Chips vor dem Fernseher oder der Playstation, sondern macht mit den Kindern oder den Eltern einen Ausflug, vielleicht an den Neusiedler See oder auf die Rax. (…)
In einer Donaustädter Familie, deren Kinder noch nie auf dem Stephansplatz waren und die glauben, dass das Donauzentrum das Zentrum der Welt ist, sind Wahlkarten natürlich entbehrlich, und man wird kaum bereit sein, das komplizierte Verfahren in Kauf zu nehmen.
Diese Gegenüberstellung ist klischeehaft und sachlich falsch. In einer Nussschale erlaubt sie aber einen Einblick in die strategischen Fehler und Kurzschlüsse der österreichischen Sozialdemokratie der vergangenen 20 Jahre. Die werden sich durch die Kernsches Imagepolitur der SPÖ auch nicht auflösen lassen.
SozialdemokratInnen scheinen in einer Parallelwelt zu leben. In dieser ist Margareten der urbane Bezirk (weil dort mehrheitlich SPÖ und sogar ein Kommunist in die Bezirksvertretung gewählt wird), während sich in der Donaustadt das dumpfe Proletariat tummelt, das 2015 auch noch mit 36 Prozent für die FPÖ gestimmt hat. Doch weit gefehlt. Laut Statistik Austria betrug 2011 das mittlere Einkommen in der Donaustadt runde 23.000 Euro, wohingegen das angebliche urbane Margareten auf nur 18.600 Euro kam. Wahrscheinlich ist das Chips- und Playstation-Proletariat eher in Margareten als in der Donaustadt zuhause. Zusätzlich übersieht diese Gegenüberstellung, dass in der Seestadt ein neuer Donaustädter Stadtteil entsteht, der bislang sozial recht durchmischt ist. In diesen Zeilen wird aber nicht nur ein persönliches Vorurteil sichtbar, das leicht widerlegt werden kann. Die SPÖ hat die Chips fressenden und Playstation spielenden Arbeiterinnen und Arbeiter in den Wiener Vorstädten und in den Gemeindebauten der FPÖ wahlstrategisch und politisch quasi geschenkt. Und das vor 20 Jahren. Dazugelernt hat die Sozialdemokratie seitdem offenbar wenig.
Weder Cordon Sanitaire noch Politik
Nachdem unter Franz Vranitzky der Versuch gescheitert war, einen „Cordon sanitaire“ um die FPÖ zu errichten, weil man in der Regierungsverantwortung die Ausländer- und Asylpolitik der FPÖ de facto exekutiert hat, wurde in der Folge versucht, das WählerInnenpotential der FPÖ zu entpolitisieren. Es sei besser, meinten die SPÖ-StrategInnen, die Prolos bleiben am Wahltag im Gemeindebau bei Cola und Chips Zuhause, als dass sie FPÖ wählen. Gleichzeitig versuchte die SPÖ, den Verlust an Unterstützung dadurch zu kompensieren, dass sie sich für die neue Mittelschicht öffnete.
Diese ‚Strategie‘ ist kurzfristig aufgegangen, sie erklärt zumindest, wie die SPÖ die 2000er Jahre politisch überlebt hat. Unter Kern lebt dieser Schachzug wieder auf. Die SPÖ möchte Wählerinnen und Wähler von den Grünen und den NEOS abziehen, um prozentuell als Gegengewicht zu FPÖ erscheinen zu können. So entsteht – um im Bild zu bleiben – die sozialdemokratische Soja-Latte-Wohlfühl-Linke in den urbanen Zonen. Die früheren SPÖ-WählerInnen sind denen weiterhin genauso egal wie deren Motive. Sollen sie doch bei der FPÖ bleiben und weiterhin Chips fressen und Playstation spielen! Genau diese Arroganz und Verachtung treibt der FPÖ weiterhin Wählerinnen und Wähler zu. Außerdem scheint es fraglich, wie lange die SPÖ-Sektionen etwa im 10. und 11. Wiener Bezirk und die FPÖ-freundlichen Landesverbände da mitspielen. Denn auch diese Neuauflage sozialdemokratischer Politik ändert an den Ursachen der FPÖ-Wahlerfolge nichts. Diese werden nämlich mehr durch die sozialen Umbrüche der Gesellschaft hervorgerufen als durch die Refugees, die in Österreich Schutz gefunden haben. Für beides sieht sich die SPÖ aber als nicht zuständig.
Fotocredit: @Simon Fischer (tausend Dank!)
Erinnert irgendwie an den SPD-Schlingerkurs in Deutschland. Jaja, heißt es seit ein paar Tagen wie auch gestern da, wieder mehr soziale Themen…und dann am selben Tag dem „Kompromiss“ zur Erbschaftssteuerreform durchwinken. Die „neue Mitte“ hat sie sich ohnehin schon in den 90ern vergrault.