Seit 2006 lebe ich gerne am Brunnenmarkt. Binnen weniger Wochen wurde das Viertel medial zum Problemfall erklärt. Wie es dazu kam, das ist wirklich eine lange Geschichte, die ich hier kurz erzählen will. Sie handelt nur am Rande von Drogendealern und dafür mehr von der Verdrängung der Menschen – und von den Neu- und Umbauten in der Gegend. Und auch Jörg Haider und Stefan Petzner kommen darin vor.
Im Jahr 2008 musste ich aus beruflichen Gründen zwischen Berlin und Wien pendeln. In dieser Zeit war ich einmal in Berlin auf eine Konferenz der dortigen Linken zum Thema Die Metropole Berlin im Spiegel europäischer stadtpolitischer Konzeptionen eingeladen. Während der Konferenz hörte ich einen Vortrag über Wien, in dem zu meiner Verwunderung das Wiener Brunnenmarktviertel als ein Beispiel gelungener, weil sanfter Gentrifizierung vorgestellt wurde. Verwundert war ich, denn zu dieser Zeit lebte ich bereits in ebenjenem Wiener Vorzeigeviertel wie auf einer ewigen Baustelle. Häuser wurde aufgewertet, abgerissen und modern aufgebaut, neue Kabel verlegt und Kanäle gegraben. Der gesamte Umbau-Prozess ist von der Gebietsbetreuung Stadterneuerung gut dokumentiert worden, er zog sich über Jahre hinweg. Gefragt wurde niemals irgendjemand, wir ahnten immer nur die nächste Baustelle. Wenn wir diese farbigen Markierungen am Boden ausmachen konnten, wussten wir, dass an dieser Stelle bald Baufahrzeuge auffahren werden.
Nach Jahren des Bauens und Modernisierens wurden auf der Brunnengasse Plastikpalmen errichtet und die vielen grünen Boxen aufgebaut, die das Marktgeschehen vereinheitlichen sollten. Ich mag sie bis heute nicht. Aber auch die KünstlerInnen kamen, allerdings noch vor den Um- und Neubauten und mieteten sich erst prekär ein, dann auf Dauer. Die Mieten schnellten zwischenzeitlich in die Höhe, sie sind bei Bestandsmieten jetzt rund 20 Prozent höher geworden als bei meinem Einzug 2006. Im türkischen Kaffeehaus um die Ecke hielt in seiner Wiener Zeit ausgerechnet Stefan Petzner Hof, da er sich in einem Appartementhaus an der Ecke eingemietet hatte. Für dieses Haus wurde das Wiener türkische Kaufhaus dem Erdboden gleichgemacht. Wir alle grüßten den Petzner übrigens freundlich, auch wenn er im Cafe mit seinem ewigen Sonnenstudio-Lachen irgendwie deplatziert wirkte.
Mir jedenfalls war klar, dass das im Brunnenmarkt-Vietel auf Dauer nicht gut gehen konnte. Der Druck auf die Bewohnerinnen und Bewohner, bald zu mehr Geld zu kommen, um in dem bestehenden sozialen Zusammenhang weiter leben zu können, wurde größer und größer. Die aufgepfropften, attraktiven Dachgeschosse wachsen wie Pilze in den Himmel. Erst 2016, schon vor dem brutalen nächtlichen Mord an einer Frau, die in der Brunnegasse auf dem Weg zur Arbeit war, wurde mein Wohnviertel und die Umgebung zur Problemzone erklärt. Zwischen den Fassaden, die in den Jahren verschönert wurden, dem modernisierten Inneren (das sich dann nur noch wenige leisten konnten) und der sozialen Realität klaffte eine Lücke. Der Grund für diese Problemerklärung sei die Drogenkriminalität und die hohe Zahl von Nicht-Österreichern, so liest und hört man. Der Bezugsrahmen für diese Aussage sind die 1970er Jahre, die goldene Zeit des Fordismus, als es die sozialdemokratische heile Welt noch wirklich gegeben hatte. Und tatsächlich sprechen die älteren ÖsterreicherInnen im Kaffeehaus von dieser Zeit, wenn sie die Veränderungen beschreiben wollen: „Damals war alles gut hier, und wir fühlten und noch sicher und zu Hause“, schimpft die morgendliche PensonistInnenrunde, die in demselben türkischen Kaffeehaus wie Petzner mit Blick auf das Markttreiben morgens sitzt – und frühstückt. Zwischendurch erledigen sie ihre Einkäufe bei Penny und Hofer. „Seitdem ging es im Viertel nur mehr bergab!“, meinen sie. Zu Recht fühlen sie sich im Moment verdrängt, nur sind es in Wahrheit nicht die Ausländer, die das tun, sondern die hochfliegenden Stadtentwicklungspläne und die Immobilienspekulation, nach denen die Gegend im Osten Ottakrings jetzt besonders attraktiv ist.
Vor dem Hintergrund der Veränderungen und Verdrängungen im Viertel ist die Medienkampagne verlogen. Ohne Hintergrundwissen – und ohne Recherche – laufen derzeit JournalistInnen und Kamerateams durchs Viertel, und wähnen sich in der Bronx. Tatsächlich durchstreifen sie die soziale Realität vieler Wiener Bezirke, wenn sie in Ottakring sind, die genau so in Berlin anzutreffen ist oder in anderen europäischen Großstädten: Die Trennunglinien zwischen arm und reich gehen quer durch die Städte und quer durch die Bezirke. Das Brunnenmarktviertel ist nämlich kein Arbeiterviertel mehr, denn es wurde Stück für Stück, Straße um Straße wirkungsvoll gentrifiziert. Diese mediale Kampagne gegen ein Viertel richtet sich gegen den armen, augegrenzten Teil seiner Bewohner, die noch dort leben. Sie begann meiner Wahrnehmung nach mit einem Tweet des Chefredakteurs der Zeitschrift Falter. „Der ganze Brunnenmarkt wimmelt von Drogendealern. Hinter jeder zweiten Budel ein Dealer. Wo ist Wiens Drogenpolitik?“ twitterte er am 29. Februar 2016. Offenbar fühlte er sich bei seinem Soja-Latte oder seinem Gläschen Rotwein gestört, und rief nach der ordnenden Hand. Diesem Tweet folgte das widerliche Falter-Cover über die Wiener Drogenlinie U6, die nunmehr in Reportagen als Hackler- und Stinkebahn bezeichnet wird.
Sicher ist allen, die hier leben, aufgefallen, dass ein Teil der Wiener Drogenszene an die U6-Stationen Josefstädter Straße und Thaliastraße gewandert ist. Das geschah aber bereits 2015, und die Dealer mögen viele Fahrgäste stören, wenn sie aus- und umsteigen. Aber die jungen Männer, die dort herum stehen, belästigen nicht, sie fragen nur manchmal zischelnd „something green?“ – und das war’s. Bald werden sie an andere Orte und in eine andere U-Bahn Linie weiter ziehen, um ihre Geschäfte zu machen. Sie leben nicht in dem Viertel, ihr Standort ist eher strategisch ausgewählt worden. Die beste Art und Weise, den Drogenmarkt trocken zu legen, wäre, endlich Cannabis zu legalisieren, und nicht das tägliche Katz-und-Maus Spiel mit der Polizei. Aber auf diese Ideen kam der Falter bisher nicht, er rief stattdessen nach Sozialarbeitern und der Polizei.
Proletarisch im klassischen Sinne ist es hier aber auch nicht. Die Kleinunternehmen des Marktes, die das Leben und den Austausch am Brunnenmarktviertel prägen, formen einen neuen Mittelstand zumeist mit nicht-deutscher Muttersprache, der es durchaus zu etwas gebracht hat. So haben alle großen Banken mittlerweile gut gehende Filialen am Markt eröffnet (und das, obwohl sie woanders Filialen schließen). Einer der Mittelständler, die an der Brunnengasse groß geworden sind, ist der Börek-Bäcker Halis.
Einmal hat er mir erzählt, wie er als junger Mann frische Böreks aus einem Handwagen verkaufte, den er durch eine türkische Vorstadt zog. Mit dem Rezept und einem Plan kam er dann nach Wien und eröffnete Halis Börek Salonu am Brunnenmarkt. Die Mehlspeisen schmecken wirklich ausgezeichnet und sind immer frisch zubereitet. Vier bis fünf Frauen arbeiten im und um das Börek-Paradies, sie stammen zumeist aus seiner erweiterten Familie. In seinem Verkaufsraum hängt zudem eine beeindruckende Fotogalerie.
Wolfgang Schüssel hat hier bereits Börek gekostet, Maria Rauch-Kallat ist zu sehen, und sogar Jörg Haider sitzt auf einem Foto, das im Nebenzimmer gemacht wurde, und trinkt einen Spritzer. Neben ihm, und das ist das neueste Foto, lacht die wahlkämpfende grüne Nationalratsabgeordnete Alev Korun. Der Börek-Bäcker Halis geht im Anzug über den Markt, er ist aber noch oft in seinem Geschäft und schaut nach dem Rechten. Für viele der Markttreibenden bietet der Brunnenmarkt die Chance, gutes Geld zu verdienen und eine beruflich Karriere zu machen.
Nach meiner Rückkehr aus Berlin im Jahr 2009 wollte ich in Wien eine „Arbeit mit Anmeldung“, wie man es hier ausdrückt – also sozialversicherungspflichtig. Damals lief das Unterrichten (gleich ob an der Uni oder in der Erwachsenenbilduung) noch vorwiegend über Werk- und freie Dienstverträge. Ich begann also meinen Tag frühmorgens, um im Lager von IKEA in Vösendorf zu arbeiten. Die HacklerInnnen, über die jetzt geredet wird, sind morgens um 5 Uhr unterwegs. Da sind die ersten U6-Garnituren bereits voll mit Menschen, die zur Arbeit fahren: Die Frauen verdingen sich für einen Hungerlohn als Reinigungskräfte und putzen die Wiener Büros; Pflegepersonal für Heime und Krankenhäuser ist unterwegs, die Männer fahren oft in die großen Warenlager am Stadtrand, um dort als Logistiker den Waren-Nachschub zu organisieren – oder zu einer der vielen Baustellen, die es jetzt in anderen Bezirken gibt. Schweigend grüßt man sich kurz in der Früh, hält noch ein kurzes Nickerchen, bevor es losgeht, oder plaudert über die Neuigkeiten, die in der Gratiszeitung stehen.
Solche Menschen leben auch – und noch – am Brunnenmarkt, und sie steigen Josefstädter Straße oder Thaliastraße in die U6. Doch werden sie weniger und weniger. Sie werden an den Stadtrand ziehen müssen, und damit wohl möglich noch längere Anfahrtzeiten in Kauf nehmen. Somit sind – aus meiner Sicht – die wirklich wichtigen Themen der Wiener Politik in Zukunft genannt. Ich hoffe, es finden sich politische Kräfte, die wirklich etwas verändern wollen, und nicht nur den schlechten Zustand gut verwalten.