Griss: Wie das so gewesen ist im Nationalsozialismus

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By Sebastian Reinfeldt

Es war ja zu befürchten. Aber dieser offene Einblick in die Gedankenwelt der Präsidentschaftskandidatin Irmgard Griss ist doch erschütternd. 1986 habe sie Waldheim gewählt, weil die Diskussion um ihn so parteipolitisch gewesen sei; und die Bauern hätten unter den Nazis ja neue Maschinen bekommen, weswegen man von Anfang an nicht hat erkennen können, dass die Nazis nur böse gewesen wären. Eine Analyse ihrer NS-Erzählung von Sebastian Reinfeldt.


Der Konnektor „aber“ in der Rechtfertigungserzählung von Griss

In dem Falter-Interview spricht die Kandidatin offen über ihre Sicht der Vergangenheit. Die einschlägigen Interviewpassagen sind zugleich das Titelbild dieses Beitrags. Ich nehme daraus zwei Auszüge, mit denen ich mich genauer auseinandersetzen möchte:

Es stimmt, dass Waldheim seine Zeit in der Wehrmacht bagatellisiert hat. Aber wenn Sie diesen Maßstab anlegen, ist das bei vielen in der Politik schwierig.

Die Funktion des Wortes ‚aber‘ ist hier wichtig. ‚Aber‘ kann die vorher gehende Aussage völlig negieren („Ich bin kein Nazi, aber… -> und dann folgt ein nationalsozialistisches Sujet), ein Denken in Widersprüchen eröffnen oder eine Rechtfertigung einleiten. Hier ist es entschuldigend gemeint, und rechtfertigt die Deutung, dass es bei der Diskussion um Waldheim um „etwas Parteipolitisches“ gegangen sei, wie sie zuvor gemeint hat, und nicht etwa um die Funktion und Rolle Österreichs und der Menschen in Österreich im nationalsozialistischen Herrschaftssystem. Waldheim hat ja nicht nur ein bisschen geflunkert, er hat damit eine personelle und politische Kontinuität vom dritten Reich in die zweite Republik unsichtbar machen wollen. Unsichtbar und uneingestanden damit auch seine persönliche Schuld. Waldheim sei einer von vielen gewesen, so lautet das mit ‚aber‘ eingeleitete Argument. Und daher sei es damals nicht in Ordnung gewesen, ihn so zu kritisieren.

Eine(r) von vielen

Einer von vielen zu sein, Teil eines Kollektiv gewesen zu sein, das aus diesem Grund keine Schuld trifft, weshalb es auch keine individuelle Schuld gebe. Es waren „die Nazis“ bzw. „die Deutschen“. Ihre rechtfertigende ‚Aber‘-Argumentation leitet das folgende Narrativ zum Nationalsozialismus ein. Auch die Familie von Irmgard Griss sei damals eine von vielen gewesen, so wie Waldheim einer von vielen war. Ihr Vater war 1938 bei der Militärmusik, und habe sofort höheren Lohn bekommen, als „die Deutschen (!) gekommen sind“.

Die Bevölkerung war damals in einem Zwiespalt. Nehmen Sie die Bauern: Die hatten es plötzlich viel besser, weil sie sich neue Maschinen leisten konnten. […] Es war nicht so, dass die Nazis von Anfang an nur ein böses Gesicht gezeigt hätten.

Antisemitismus in Österreich, der den Erfolg und die Akzeptanz des Nationalsozialismus wesentlich begründete? Kein Thema in diesem Narrativ, obwohl er von den Nazis und den Christsozialen ganz offen zur Schau getragen wurde. Omnipräsent in der Propaganda. Und dass die politische Opposition aus SozialdemokratInnen und KommunistInnen 1938 schon verboten war, und in den Gefängnissen saß oder im Untergrund lebte? Kein Thema. Die Bevölkerung war in einem Zwiespalt. Wirklich? Waren die Jüdinnen und Juden damals in einem Zwiespalt, oder lebten sie bereits in Existenzangst? Und die Sinti und Roma auf dem Land ebenso? In welchem Zwiespalt befanden sich die KommunistInnen im Untergrund?

Die gesellschaftliche Mitte, geboren aus der Verleugnung der Täterschaft

In diesem Narrativ versucht Irmgard Griss ganz offenbar, eine gesellschaftliche Mitte zu konstruieren und anzusprechen und mit Bildern (der Nazionalsozialismus war böse, aber er brachte immerhin die Moderne nach Österreich) zu erreichen. Dafür bezahlt sie einen Preis, denn sie schließt rhetorisch wesentliche Gruppen aus. Ebenso ist ihr Narrativ als Rechtfertigung angelegt, und zwar dreifach: ihrer Wahl Waldheims 1986, der Person Waldheims selber, und dann der durchschnittlichen Bevölkerung. Das „Ja, aber wir konnten es doch nicht wissen …“, ist definitiv falsch. Richtig wäre gewesen. „Wir haben zugestimmt und mitgemacht.“ Österreich war mitnichten das erste Opfer.

 

10 Gedanken zu „Griss: Wie das so gewesen ist im Nationalsozialismus“

  1. Mich überrascht ihre Argumentation nicht. Noch immer erinnern sich viel zu viele gerne in Österreich, daran, was die Nazi taten und klammern einiges heraus.
    Womit man auch die Legende von der österreichischen Gesellschaft als „erstes Opfer“ ad absurdum führt.
    Doch – und das ist der springende Punkt – können wir Kurt Waldheim, den offiziellen Verzicht auf den Status des „ersten Opfers“ danken.

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  2. gut, die wähl ich eh nicht, aber wär sie eine wahl für mich gewesen, wär sie ab heute unwählbar für mich.

    trotzdem bin ich der meinung, dass jede noch so scheußliche diktatur darauf angewiesen ist zumindest einem teil der von ihr beherrschten menschen eine zeitlang zwecks machtfestigung sowas wie benefits für ihr persönliches umfeld zu bieten (um die anderen dadurch leichter unterdrücken und/oder ermorden zu können), weil sich nur auf ein starkes militär zu verlassen letztenendes auch ins auge gehen kann, was den nazis 1944 auch fast passiert wäre.

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  3. Sehr geehrter Herr Reinfeldt!
    Ich kenne Sie nicht und auch nicht Frau Griss, ich habe daher weder gegen Sie etwas, noch gegen Frau Griss. Was Sie beide und meinen Großvater vereint, den kannte ich auch nicht.

    Aber, was ich mich frage: Wie kommen Sie zu der Aussage:
    „Ihr Vater war 1938 bei der Militärmusik (also wohl ein christsozialer Faschist, oder?).“

    Mein Großvater war auch nämlich bei der Militärmusik.

    Diese Schlussfolgerung würde ich gerne schon erklärt haben, alleine, um meine Familiengeschichte besser verstehen zu können.

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    • Hallo, danke für die Aufmerksamkeit für meine Intervention. Wenn ich das Interview richtig verstehe, so war der Großvater seit 1933 in der Militärmusik. Er hat sich gemeldet. Das tut man nur aus Überzeigung, jedenfalls hat dies mein (baltendeutscher) Großvater so getan, als er sich zur Partisanenbekämpfung „gemeldet“ hat. Vielleicht mag ja Frau Griss nochmal ausführlicher dazu sprechen. Würde mich auch interessieren, denn mein „wohl“ in dem Zitat indiziert ja eine Vermutung. LG Sebastian Reinfeldt

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      • Anfang der 30er Jahre gab es im damaligen wirtschaftlichen Umfeld sicher genügend Menschen, die eventuell sogar gegen eine persönliche Überzeugung beim Militär eintraten, um ein Einkommen zu haben. Militärmusik per se ist da sicher noch gemässigt anzusehen, da diese ja – im damals noch ungewissen – Einsatzfall als Krankenträger fungierten. Also ich sehe da noch keinen konkreten Zusammenhang.

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  4. Ich finde allein die Fragestellung schon vorverurteilend, Ihre Antworten sind meiner Meinung weder symphatisierend noch kann man Sie deswegen verurteilen das Ihr Vater sich zur Militärmusik gemeldet hat. Waldheim war UN Generalsekretär, zur Zeit der damaligen BP Wahl war seine Rolle in der Wehrmacht noch nicht klar. Damals haben die meisten Gedacht das es sich um eine politische Schmutzkübelkampagne handelt, weil einen UN Generalsekretär hatte man doch sicher vor seiner Bestellung schon überprüft.

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  5. Hallo,
    gleich zu Beginn möchte ich anmerken, dass mich Google hierher geführt hat, ich kannte Ihren Blog bisher nicht.
    Zum Artikel:
    Ich finde, dass Sie hier nicht unbedingt neutral auf die Thematik eingehen, und sich vom Tabuthema Nationalsozialismus etwas zu sehr haben blenden lassen. Aus meiner Sicht will Griss hier die Gräueltaten der Nazis nicht verharmlosen oder gar gutheißen. Vielmehr versucht sie, Erklärungsansätze zu finden; es ist in der heutigen Zeit sicher sehr schwer nachvollziehbar, wie und warum sich Menschen freiwillig diesem Regime untergeordnet und sich mitschuldig gemacht haben.
    Was man heutzutage leicht vergisst: Die einfachen Leute, insbesondere die Landbevölkerung, in dieser Zeit waren aus heutiger Sicht ungebildet und zu kritischem Denken wohl nicht im selben Ausmaß fähig, wie wir es heute behaupten können. Informationsquellen gab es kaum, jedenfalls konnte man sie sich nicht aussuchen. Ich bin in einem Tiroler Bergdorf aufgewachsen, in der damaligen Zeit hatte noch lange nicht ein Auto und kam regelmäßig in die Stadt, so blieben wohl nur Lokalmedien und Radio. Wer die in der Hand hatte, hatte die Meinungsbildung für einen großen Teil der Bevölkerung in der Hand. So ist wohl nicht schwierig, rassistische Propaganda zu verteilen und auch den damals vorherrschenden Antisemitismus anzufachen. Wie sollten die einfachen Leute von selbst auf die Idee kommen, dass ihnen hier rassistische Propaganda indokriert wird? Antisemitismus haben übrigens alle Parteien verbreitet, die Sozialdemokratie sollten Sie hier nicht außen vor lassen. Genauso wurden Christlich-Soziale in KZs verfrachtet, auch das hätten Sie für eine neutrale Betrachtungsweise erwähnen sollen.
    Natürlich hatten Sozialdemokraten, Kommunisten, Juden schon sehr früh eine Ahnung, was hier auf sie zukommt. Ich komme zurück zur Tiroler Landbevölkerung: Glauben Sie im Ernst, dass es hier in jeder Gemeinde Sozialdemokraten gegeben hat, die versucht haben, den Leuten die Augen zu öffnen? Natürlich gab es die nicht. Nicht einmal im Jahr 2016 gibt es die.
    Dass Österreich nicht erstes Opfer, sondern Täter war, ist für mich unstrittig. Das bedeutet aber nicht, dass man alle Österreicher über einen Kamm scheren darf. Nicht jeder, der nicht sein Leben im Widerstand riskiert hat, war ein Nazi. Man sollte hier differenzieren zwischen einfachen Mitläufern und jenen Tätern, die genau gewusst haben, welche unglaublichen Verbrechen verübt wurden.
    Genau das versucht Griss meiner Meinung nach mit dem Beispiel des Bauern auszudrücken: Die Zwischenkriegszeit war furchtbar für unser Land, es gab viele Arme und da tauchte plötzlich jemand auf, der den Leuten gewisse Vorteile versprach. Das haben sie dankend angenommen. Dass Armut radikalisiert, sehen wir ja auch jetzt gerade.
    Sie stellen es in Ihrem Text meiner Meinung nach so dar, dass die Leute damals für ein paar Groschen dem Regime einen Blankoscheck erteilt hätten auf bestialische Art und Weise Juden und Andersdenkende zu ermorden. Das ist einfach falsch, sorry. Viele wussten tatsächlich nicht, was passieren wird. Das mag in der heutigen Zeit, in der man es innerhalb von Minuten erfährt, wenn in China ein Reissack umgefallen ist, schwer nachvollziehbar sein, aber es ist nunmal so.

    Ein paar Zeilen noch zur Person Griss:
    Was ich an ihr so beeindruckend finde, ist ihre Fähigkeit sich zwischen die Lager zu stellen und zu verbinden. Sie ist eine der wenigen, der ich das wirklich zutraue. Merken Sie nicht, wie unser Land (eigentlich ganz Europa) langsam zweigeteilt wird? In „links“ und „rechts“? So kann es nicht weitergehen, es braucht Menschen, die hier eine Brücke schlagen können. Es ist leicht zu sagen, dass alle FPÖ-Wähler dumme Rassisten sind, aber Fakt ist, dass diese Menschen auch in 15 Jahren noch hier sein werden und ein Teil unserer Gesellschaft sind. Was schlagen Sie vor, mit denen zu tun? Einsperren, weil sie eine andere Meinung haben? Das geht nicht. Man muss mit nüchternen, sachlichen Argumenten kontern, Ängste ernst nehmen und nicht herablassend wirken. 5-10% (die rechte Stammwählerschaft) sind sicher Rassisten, den großen Rest (Umfragewerte sind ja derzeit bei ~30%) darf man aber nicht einfach als Idioten darstellen und aus unserer Gesellschaft ausschließen. Das macht Griss nicht, und das sehe ich als ihr großes Plus gegenüber van der Bellen. Sein Weg, die FPÖ weiterhin zu ignorieren wird nicht zielführend sein, Strache ist inzwischen derart stark, dass er sich nur vermutlich nur mehr in Regierungsverantwortung entzaubern lassen wird.

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    • Ich – als bekennender Kommunist – kann Ihnen da vollkommen zustimmen. Die Nazis haben damals der großteils unpolitischen Bevölkerung (vor allem Bauern und einfache Arbeiter) Dinge versprochen, um sie langsam für ihre grausamen Ideen zu gewinnen. Natürlich konnten sie diese Dinge nur für eine bestimmte Zeit erfüllen, aber diese Zeit hat ausgereicht, um viele Menschen auf ihre Seite zu ziehen. Die ganze gesellschaftspolitische Situation hat das ermöglicht. Ich denke, dass man daraus auch Parallelen zur Gegenwart ziehen sollte, damit sowas ähnliches verhindert werden kann. Die FPÖ gibt sich jetzt ja auch als „soziale Heimatpartei“, die verspricht, die Interessen der „einfachen“ Bürger zu unterstützen (was sich aber, wenn man sich das zutiefst neokonservative und wirtschaftsliberale Parteiprogramm durchliest, nur als Illusion herausstellt, da dadurch sicher nicht den „einfachen“ Bürgern geholfen wird). Ich denke ja, dass wenn Hofer jetzt Präsident werden würde, er sich relativ „friedlich“ geben würde, um die FPÖ für einen noch breiteren Teil der Bevölkerung salonfähig zu machen. Wenn das dann aber geschehen und die FPÖ an der Regierung ist, dann wird sie sich schnell wieder ihrer Kernideologie zuwenden, was ziemlich schrecklich enden würde. Deswegen halte ich es auch für sehr wichtig, eine breite Masse anzusprechen und potentielle FPÖ-Wähler nicht direkt als dumm darzustellen, da sie sich dadurch nur noch mehr bestätigt fühlen und dieser Partei zuwenden. Dieser Fehler darf nicht nochmal in der Geschichte passieren. Einen dritten Weltkrieg würden wir wahrscheinlich nicht überleben.

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  6. Dieser Einblick in die Gedankenwelt von Irmgard Griss ist wirklich erschütternd. Die Verwendung des Konnektors „aber“ in ihrer Erklärung ist besonders bemerkenswert, da sie damit eine rechtfertigende Argumentation einleitet, die ihre Sicht auf die Vergangenheit relativiert. Es wird deutlich, wie sie versucht, sich und andere in eine Gruppe von „vielen“ zu stellen, um individuelle Schuld zu negieren. Eine kritische Analyse von Sebastian Reinfeldt.

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