Die Wahlergebnisse der deutschen Landtagswahlen vom 13. März 2016 machen eine „dauerhafte tektonische Verschiebung des bürgerlich-rechten Parteieinlagers“ (Hoff, Kahrs. Stahl) sichtbar. Die rechtspopulistische AfD ist in zwei westdeutsche Parlamente und einen ostdeutschen Landtag mit zweistelligen Ergebnissen eingezogen. Im bürgerlich geprägten Industrieland Baden-Württemberg mit 15,1 Prozent, im eher ländlich geprägten Rheinland-Pfalz mit 12,6 Prozent und im ostdeutschen Sachsen-Anhalt mit 24,2 Prozent Stimmenanteil. Das zweite bemerkenswerte Wahlergebnis ist allerdings, dass die Partei die LINKE wiederholt in die beiden westdeutschen Landtage nicht einziehen konnte, und in Sachsen-Anhalt deutlich an Stimmen verloren hat. Rechts schlägt links. Warum?
Am Folgetag eines Super-Wahlwochenendes sollten alle politisch-strategischen Überlegungen unter dem Vorbehalt stehen, dass sie zu einer Diskussion beitragen wollen. Meine tun das. Diese Wahlen zeigen aus meiner Sicht nicht nur eine gespaltene gesellschaftliche Stimmung zur Flüchtlingspolitik in Deutschland (gleiches gilt ja für Österreich), sie machen auch eine gesellschaftliche Entwicklung sichtbar, die in den vergangen Jahren eher unterschwellig entstanden sind. Mit der Pegida-Bewegung hat sich bereits regional eine rechtspopulistische Protestkultur etabliert, die mit der AfD nunmehr einen parlamentarischen Arm erhalten hat. Beiden Phänomenen werden die Themen nicht ausgehen – und auch die Unterstützung für die populistische Art und Weise, wie sie diese ausspielen, reißt voraussichtlich nicht ab. Insofern ist der Vergleich der AfD mit dem französischen Front National durchaus zutreffend, der ja ebenso mit einer rechten sozialen Bewegung verknüpft ist.
Ein Teil Deutschlands erlebt insofern sein rechts-nationales und völkische Coming-Out. Der andere Teil orientiert sich an starken politischen Persönlichkeiten (wie an der Sozialdemokratin Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz sowie an dem grünen Winfried Kretschmann), die als Antipoden zur Rechtsentwicklung und als VertreterInnen einer Pro-Flüchtlingspolitik angesehen werden, da sie beide offen den bisherigen Kurs der Kanzlerin Angela Merkel unterstützten. Hier leistet die Partei die LINKE in den Augen der Wählenden keinen substantiellen Beitrag, und sie haben ihr folglich auch keine politische Funktion übertragen.
On the long run: FDP und Linke verloren an die AfD
Benjamin-Immanuel Hoff, Horst Kahrs und Andreas Stahl halten in ihrer ausführlichen Wahlanalyse „Die Ergebnisse der Landtagswahlen am 13. März 2016 – Wahlnachtbericht und erste Analyse“ allerdings fest: „Fasst man alle Zahlen zusammen, so ist der Anteil der Verluste an die AfD mit 86% aller Verluste an andere Parteien für die FDP am größten, gefolgt von der LINKEN (67%) und den kleinen Parteien. (…) Offenbleiben muss hier, wann die Abwendung und die Hinwendung zur AfD erfolgte. Ein erheblicher Teil könnte bereits bei der Bundestagswahl 2013 und/oder bei der Europa-Wahl 2014 gewählt haben.“ (S.35) Also, kurz gefaß und mit anderen Worten: In der Entwicklung der Wahlergebnisse seit 2011 verliert die FDP am meisten an die AfD, danach die Partei die LINKE. Die AfD hat offenbar den nationalliberalen Flügel der FDP komplett aufgesaugt und Proteststimmen von der Linken abgezogen.
Realpolitisch sind rot-rot-grüne Konstellationen weder politisch-arithmetisch möglich noch gesellschaftlich gewünscht. Ich möchte derzeit offen gesagt nicht in der Haut von denjenigen stecken, die jetzt für die LINKE die nächsten Wahlgänge vorbereiten müssen. Denn das Thema der sozialen Gerechtigkeit, das diese Partei in ihren Wahlkampagnen in den Vordergund gerückt hat, ist durchaus wahlentscheidend gewesen, so die Wahltags-Analysen von Infratest-dimap. Nur nicht für die LINKE. Denn soziale Gerechtigkeit wird derzeit über das Thema der Flüchtlinge „artikuliert“. Da auch hier in der überschaubaren Zukunft keine wesentliche Veränderung eintreten wird – es werden weiterhin viele Menschen flüchten, die aufgenommen werden müssen – ist die Entkoppelung des Themas der sozialen Gerechtigkeit und dem der Flüchtlinge die zentrale politische Herausforderung einer Linken in Europa.
Männlich, weiß, Arbeiter = durchschnittlicher AfD-Wähler
In ihrer ausführlichen Nach-Wahltagsanalyse für die Rosa-Luxemburg-Stiftung charakterisieren Benjamin-Immanuel Hoff, Horst Kahrs und Andreas Stahl die typischen AfD-Wähler wie folgt: „Die AfD wurde in allen Ländern überdurchschnittlich von Männern, Arbeitern und Arbeitslosen sowie Wahlberechtigten mit Hauptschulabschluss und Mittlerer Reife gewählt.“ Es tritt nun deutlich hervor, dass „die AfD derzeit die Partei der Arbeiter und unteren Mittelschichten ist.“ (Hoff, Kahrs, Stahl, S. 36f)
Blickt man von Österreich aus auf diese Aussage, so ist hier durchaus eine Parallele festzustellen, ist doch der typische FPÖ-Wähler ebenso charakterisierbar. Nur ist hier die politische Landschaft seit 30 Jahren – der Machtübernahme in der FPÖ von Jörg Haider 1986 – bereits vom rechts-populistischen Kurs der FPÖ geprägt, die momentan ein WählerInnen-Peak von mehr als 30 Prozent hat. Vergleichbar mit einer möglichen Entwicklung in Deutschland sind in Österreich die ehemaligen Volksparteien ÖVP und SPÖ bereits zu 25%-Parteien abgeschmolzen, wobei das deutsche politische System im linken Spektrum ausdifferenziert ist (die Grünen seit den 1980er Jahren und der PDS/Linke seit 1990). In Österreich fehlt eine bundesweite Partei links von SPÖ und Grünen völlig. Die steirische KPÖ macht mit 4,4 Prozent hier eine Ausnahme, wenn auch eine vergleichsweise kleine.
Neue politische Bündnisse jenseits der Rechtspopulisten dürften die zwangsläufige Folge dieser Entwicklung sein, in Deutschland so wie in Österreich. Im Analysetext von Hoff und Kollegen findet sich etwa ein augenzwinkernder Verweis auf den historischen Kompromiss in Italien, da im ostdeutschen Sachsen-Anhalt rein rechnerisch eine „Italien-Koalition“ aus LINKE und CDU möglich wäre, die aber politisch (noch?) undenkbar ist. Regieren und Regierungsbildung wird schwieriger, und vielleicht kommt ja auch in Deutschland die Zeit von Minderheitsregierungen, die im Parlament mit wechselnden Mehrheiten operieren.
Warum AfD? Unsicherheit und Unbehagen
Um die Motivlage der WählerInnen der rechtspopulistischen AfD zu erfassen, greifen die Autoren der Nachwahltagsanalyse auf Vorarbeiten von Frank Decker zurück. Er macht Unsicherheit und Unbehagen als Triebkräfte einer Pro-AfD Stimme aus: Unsicherheit bezieht sich auf die soziale Situation, die ja eine Hauptmotivation für AfD-Stimmen darstellt. So lässt sich der hohe Stimmenanteil in Baden-Würrtemberg durchaus mit der Sorge vor Wohlstandsverlusten erklären .
Das Unbehagen bezieht sich, so Decker, auf kulturelle Entfremdungsgefühle, die durch die Menschen, die als Geflüchtete nach Deutschland kommen, verstärkt werden (vgl. Frank Decker 2015). Dahinter verbirgt sich aber auch das ganze Themenpaket rechts-konservativer Haltungen (traditionelles Familienbild; traditionelles Frauen- und Männerrollenverhalten; Ablehnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften usw.), das diesen rechten Protest zusätzlich inspiriert. Er ist ein ideologisches Kaleidoskop, in dem verschiedene Splitter von Haltungen und Einstellungen durch die AfD eingefasst werden. Modernisierungskritische Haltungen vermischen sich mit nationalistischem Chauvinismus, Rassismus und dem generellen Gefühl, unverschudet zu kurz zu kommen. Schuld daran seien allemal „Die-da-oben“ und die „Fremden“ – hier besteht in diesem Milieu Übereinstimmung.
Insgesamt hat dieses ideologische Kaleidoskop bei diesen Wahlen eine unübersehbare politische Sichtbarkeit erhalten: „Bei der Bundestagswahl 2013 wählten rund 2 Millionen Wahlberechtigte die AfD. Nun gaben allein in Baden-Württemberg rund 809.000 Wahlberechtigte der AfD ihre Stimme.“ (Hoff und Kollegen, S.43). In den kommenden Wahlen ist hier von einer Sogwirkung auszugehen. Die AfD kann man nunmehr wählen, ohne sich gesellschaftlich völlig ins Abseits zu stellen. Das verständnisvolle Eingehen von Medien und das des SPD-Vorsitzenden Gabriel auf die angeblich „berechtigten“ „Sorgen und Ängste“ der „besorgten Bürger“ rächt sich. Denn es wurde so verabsäumt, eine solidarische Flüchtlingspolitik so zu vermitteln, dass diese ähnlich alternativlos daher kommt wie die Politik gegenüber der linken Regierung Griechenlands.